Die sichere Person

Ein Mensch mit einer Vergangenheit wie meiner ist naturgemäß der Inbegriff des Misstrauens und der dauernden Wachsamkeit. Der achtet darauf, was er von sich preisgibt. Es gibt in mir eine nach außen agierende öffentliche Person, die sich so normal und angepasst verhält wie möglich. Aber das bin nicht ich. (Oder in unserem Fall: Das sind nicht wir). Das ist mein Avatar, das ist eine Rolle, die ich mit den Jahrzehnten immer perfekter zu spielen gelernt habe. Aber nochmal: Das bin nicht ich. Wenn du mich mit meiner öffentlichen, angepassten Person verwechselst, dann ist es so, als würdest du glauben, dass die Menschen in Bayern alle Lederhosen tragen und sich ausschließlich von Bier, Brezeln, Sauerkraut und Weißwürsten ernähren.

 

Wenn du mich kennenlernen willst – keine Chance. Das ist absolut ausgeschlossen. Du kannst mich dreißig Jahre kennen und von mir so gut wie nichts wissen. Einer Frau, von der ich in diesem Blog häufiger schreibe, geht das zum Beispiel so. Die „kennt“ mich seit knapp vierzig Jahren: Wenn du mich mit meiner öffentlichen Person verwechselst, dann kennst du so gut wie nichts von mir. Dann siehst du von mir das, was ich dich von mir sehen lasse und das kleine bisschen, was für dich erkennbar ist, weil ich es nicht verbergen kann. Dann siehst du die ganze Zeit Bayern in Lederhosen, die bei einer zünftigen Brotzeit Unmengen von Bier, Brezeln und Weißwürsten verdrücken und in ihrer Freizeit die Tuba blasen oder schuhplatteln.

 

Für mich ist das schon ganz ok so. In beinahe jedem Fall reicht es mir, dass ich mich kenne bzw. kennenlerne. Da musst du mich nicht auch noch kennen oder kennenlernen. Je weniger du von mir weißt, desto besser für uns beide. Glaube mir: In mir sind viele, viele Dinge … du würdest in tausend Stücke zerspringen, wenn du sie dir auch nur anschauen würdest. Das willst du lieber nicht wissen. Das willst du auch nicht jeden Tag um dich haben.

 

Es gibt Menschen, denen ist es wichtig, von dem, was sie bedrückt zu erzählen. Ihnen tut es gut, wenn andere wissen, wie es in ihnen aussieht und daran Anteil nehmen. Ich gehöre nicht zu diesen Menschen.

Zum einen: Wenn du Anteil nehmen würdest, dann würdest du umgehend psychotherapeutische Hilfe benötigen. Massive und dauerhafte psychotherapeutische Hilfe. Dein Leben bleibt nicht so wie es war, wenn du mich kennenlernst. Ich spreche tatsächlich ernst gemeinte Warnungen aus an Menschen, die beginnen, in mein Schwerefeld zu geraten. Das ist keine Warnung „Geh weg! Hau ab!“, sondern: „Gib auf dich Acht! Wenn du noch näher kommst, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass dein Leben nicht so bleibt, wie es war.“

Und zum anderen: In den meisten Fällen gilt: Ich muss das nicht mit anderen teilen. Es reicht mir, wenn ich das mit mir teile. Wir sind so viele – wenn wir das untereinander erzählen, wieder und wieder und immer wieder, dann genügt uns das vollkommen.

 

Aber es gibt tatsächlich Menschen, die bringen etwas mit, dass wir sagen: Diesen Menschen laden wir in unser Leben ein. Das ist aber extrem selten. Das ist in den letzten 30 Jahren vier Mal vorgekommen.

 

Bist du jedoch nicht in mein Leben eingeladen, dann bist du für mich ein Fremder wie jeder andere auch. Ich werde dich respektvoll behandeln, deine Menschenwürde achten und auf dich eingehen, so gut ich das vermag. Aber das war’s auch schon. Du kannst dir dann wie viele andere Fremde, die ich bereits erlebt habe, einbilden, dass da irgendwas „besonderes“ zwischen uns wäre. Aber ich kann dir versichern: Da ist nichts, was uns verbindet. Weder was besonderes noch was unbesonderes. Du hast nichts, was ich gerne hätte, und ich habe nichts, was ich dir geben könnte. Du begegnest meiner öffentlichen Person und arbeitest dich an ihr ab. Warum sollte da irgendwas besonderes zwischen uns sein? Warum sollte ich mich länger mit dir abgeben, als es die Situation erfordert? Dass ich von mir aus deine Nähe suche, ist völlig ausgeschlossen. Wenn du länger als absolut notwendig meine Nähe suchst, dann gehst du mir auf den Geist, und ich werde die erforderlichen Gegenmaßnahmen einleiten.

 

Willst du in mein Leben eingeladen werden, dann ist es erforderlich, dass du eine „sichere Person“ bist. Davon will ich heute schreiben. Es ist nicht das einzige Kriterium, um in mein Leben eingeladen zu werden. Aber wenn du keine sichere Person bist, dann ziehe ich es nicht einmal in Erwägung.

 

Woran erkennen wir eine sichere Person?

 

  • Du redest nicht schlecht über andere Menschen (jedenfalls nicht dauerhaft). Erklärung: Wenn du schlecht über andere Menschen redest oder schlecht zu ihnen bist, dann redest du auch schlecht über dich und mich und bist nicht gut zu dir oder zu mir. Und sowas kann ich in meinem Leben nicht brauchen.
  • Du bist gut zu Kindern. (Und damit meine ich, dass du gut zu Kindern bist und nicht, dass du sie für deine Bedürfnisse ausbeutest und mir das als „gut zu Kindern“ verkaufst).
  • Du folgst der Logik. Das tust du immer und unbeirrt. Erklärung: Die allermeisten Erwachsenen, die wir kennen, folgen der Logik nur solange es ihnen passt. Sie sind jederzeit bereit und in der Lage, die Logik beiseitezuschieben und so zu tun, als gäbe es sie nicht bzw. als wäre sie nicht mehr gültig. Diese Menschen verabschieden sich dann von jetzt auf gleich aus der Realität und gehen in ihre private Scheinwelt eines oft aggressiven Irrationalismus‘. Wir ängstigen uns buchstäblich zu Tode, wenn wir uns auf so einen Menschen innerlich einlassen sollen. Denn wir wissen nie, wie lange wir ihn in der Realität antreffen werden und wann und für wie lange er wieder verrückt werden wird. Ich könnte diesen Punkt auch kurz und knapp so ausdrücken: Du bist real. Das musst du nicht überall und jederzeit sein, denn das wäre überfordernd. Das kann niemand. Aber grundsätzlich gilt: Du folgst der Logik. Das tust du immer und unbeirrt.
  • Du bist leise. Die weitaus meisten Menschen erlebe ich als laut. Als viel zu laut.
  • Du schimpfst nicht mit mir. Danke – in meinem Leben ist so viel mit mir geschimpft worden, das reicht für dreieinhalb Leben. Wenn du mit mir schimpfen willst, dann bist du sofort wieder draußen.
  • Du schreist mich nicht an. Einmal geschrien, und du bist draußen – tschüss.
  • Du verzichtest in unserer Beziehung darauf, Rache zu nehmen, zu bestrafen oder irgendwas heimzuzahlen.
  • Du rührst meine Sachen nicht an. Es sei denn, es ist ausdrücklich was anderes besprochen. Erklärung: Meine Sachen sind mir zugehörig, sie sind ein Teil von mir. Respektierst du sie nicht, ist es sehr wahrscheinlich, dass du auch mich nicht respektierst.
  • Wenn besprochen ist, dass du meine Sachen nimmst, dann tust du sie nach Gebrauch exakt dorthin, wo sie waren.
  • Du bist wahrhaftig. Das bedeutet: Du sagst, was du tust, und – noch viel wichtiger – du tust, was du sagst. Wenn du zum Beispiel sagst, dass du jetzt ins Bett gehst und ich dich Minuten später immer noch im Wohnzimmer antreffe, dann warst du nicht wahrhaftig.
  • Du kommunizierst klar und eindeutig mit mir. Das, was du sagst, das meinst du. Und du lässt mich nicht raten, was du meinst, denkst und fühlst.
  • Wenn du was von mir willst, dann sagst du mir das. Klipp und klar und deutlich. Du deutest nichts an und du drückst dich nicht diplomatisch aus und du sprichst auch nicht „durch die Blume“ (Sprachbild) mit mir.
  • Du verzichtest auf Doppelbotschaften. (Eine Doppelbotschaft ist eine Botschaft mit zwei Aufträgen, von denen aber der eine den anderen ausschließt. Sehr beliebt: „Darf ich dich was fragen?“ – Du fragst schon, ohne Erlaubnis zu haben und tust gleichzeitig so, als würdest du noch gar nicht fragen. Auf was soll ich jetzt reagieren?).
  • Du sprichst mich nur an, wenn ich dich sehen kann. Niemals sprichst du mich von hinten an.
  • Du näherst dich mir – wenn es irgend geht – nicht von hinten. Du hältst dich bitte auch nicht hinter mir auf.
  • Wenn ich irgendwo sitze und was mache, dann guckst du mir nicht von hinten über die Schulter.
  • Auf gar keinen Fall berührst du mich unabgesprochen von hinten. (Zum Beispiel: Von hinten auf die Schulter tippen – beim Einkaufen oder so -, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen, das ist absolut tabu). 
  • Du erschreckst mich nicht oder treibst sonst irgendwelche „Scherze“ mit mir. Ich bin ein extrem schreckhafter und ängstlicher Mensch. Damit musst du leben. (Wenn du das nicht beherzigst, kann es sein, dass du dich in Lebensgefahr bringst. Alle alten Reflexe sind noch lebendig in mir. Als meine ältere Tochter ungefähr acht Jahre alt war, sprang sie mich gegen drei Uhr nachts im stockdunklen Flur an, als ich gerade aus dem Bad kam. Ich mache nachts nie Licht in der Wohnung. Meine Augen sind derart lichtempfindlich, dass ich mich auch so orientieren kann. Ich kam da also nichtsahnend aus dem fensterlosen Bad in den fensterlosen Flur, und auf einmal sprang mich aus dem schwarzen Nichts ein schwarzer Schatten an. Meine Bewegungen waren sehr schnell, sehr flüssig und aus einem Guss. Mit dem rechten Arm schmetterte ich diese Gestalt an die Wand. In derselben Bewegung setzte ich an, mit der linken Faust durch sie hindurch zu schlagen. (Du entwickelst mehr Wucht beim Schlag, wenn du auf einen Punkt dicht hinter dem Körper deines Gegners zielst). Kurz bevor meine Faust sie traf, wurde mir klar, dass das nur meine ältere Tochter sein konnte. Ganz kurz vor ihren Rippen konnte ich meine Faust stoppen. Also nochmal: Erschrecke mich nicht. Das ist besser für uns beide).
  • Wenn ich schweige, dann schweige ich. Wenn dir das nicht passt, dann bist du draußen. Es kann passieren, dass ich am Tag keine zehn Worte mit dir wechsle. Damit musst du leben.
  • Du unterlässt es, mich unter Rechtfertigungsdruck zu setzen. Das gilt speziell für meine Gefühle. (Beispiel: „Warum hast du denn jetzt Angst? Das ist doch völlig unnötig.“)
  • Du verzichtest darauf, mir Gefühle vorzuschreiben. (Beispiel: „Aber es ist doch schön, Besuch zu haben.“)
  • Du erklärst mir nicht meine Gefühle, und du gibst mir keine Tipps, wie ich meine Lebenssituation bewältigen kann. Ausnahme: Es ist etwas anderes besprochen.
  • Du versuchst nicht, mir zu helfen. Wenn ich therapeutische Hilfe brauche, dann werde ich michan einen Psychotherapeuten wenden. Erklärung: Viele Menschen sind der festen Überzeugung, dass der „beste“ Freund, die „beste“ Freundin oder der Lebenspartner einen Therapeuten ersetzen können. Sie wissen nicht, wovon sie da reden. Wenn du einen Blinddarmdurchbruch hast, dann gehst du damit ja auch nicht zu deiner besten Freundin.
  • Du sagst mir nicht, was gut für mich wäre.
  • Du gibst mir nichts, was ich nicht haben will. Willst du mir was geben, dann sprich das vorher mit mir ab. Das gilt für Physisches genauso wie für Psychisches.
  • Du übernimmst jederzeit die volle Verantwortung für deine Gedanken, Gefühle und Handlungen. Du machst mich also nicht verantwortlich für das, was du fühlst, denkst und tust. (Auch Klassiker wie „Du machst mich glücklich!“ sind in meiner Welt absolut verboten, weil sie irreal sind).
  • Du bist ein erwachsener Mensch. Erwachsene, die in Wirklichkeit Kinder sind, habe ich in meinem Leben so viele gehabt, dass es noch für mindestens achthundert Jahre reicht.
  • Du gewährst mir jederzeit eine Standleitung zu deinem erwachsenen und rationalen Teil.
  • Wenn ich mich zurückziehe, kommst du nicht hinterher, sondern lässt mich Abstand gewinnen.
  • Du sprichst nur für dich und nicht für mich. Niemals sprichst du in meinem Namen, es sei denn, es ist ausdrücklich abgesprochen. Wenn andere dabei sind, unterlässt du es, über mich zu reden.
  • Du respektierst meine Grenzen. Das gilt ganz besonders für meine körperlichen Grenzen. Die sind für dich ein absolutes Tabu. Jede Berührung, jedes Nähern bedarf der Absprache.
  • Mein Bereich in der Wohnung ist mein Bereich. Da hast du grundsätzlich nichts zu suchen. Du darfst da gerne ein Gast sein. Aber wehe, du vergisst, dass du nur zu Gast bist und beginnst, dich dort breit zu machen oder ungefragt irgendwas zu verändern!
  • Wenn ich sage „Nein“, dann reicht das. Dann ist Nein. Ich muss das Nein nicht erklären oder begründen oder gar rechtfertigen und verteidigen. Nein ist nein. Da gibt es auch nichts zu diskutieren. Nicht ein einziges Wort.
  • Ein „Nein“ von mir dir gegenüber stoppt dich bei dem, was du gerade tust, augenblicklich, so als ob ein Film angehalten würde. Es stoppt dich nicht vielleicht, sondern ganz bestimmt und absolut zuverlässig. Es stoppt dich nicht in den nächsten Sekunden, sondern jetzt. (Das setze ich nicht ein, um dich rumzukommandieren oder zu erziehen, sondern nur, wenn deine Handlungen sich unmittelbar und sehr direkt auf mich beziehen. Ich sichere und wahre auf diese Weise meine Grenzen).
  • Du erziehst nicht an mir rum. Wenn du unbedingt erziehen musst, dann erziehe dich selber oder kauf‘ dir einen Dackel.
  • Wenn ich ein Gespräch beende, dann ist das Gespräch zu Ende. Mit sofortiger Wirkung. Das kann mitten im Satz sein. Und nein, du sagst dann nichts mehr. Nicht ein einziges Wort. (Auch hier: Ich setze sowas nicht als Bestrafung oder zur Erziehung ein, sondern um mich zu schützen).
  • Du hältst Abstand zu mir und rückst mir nicht auf die Pelle. Wenn du dich nähern willst, dann fragst du vorher, ob das ok ist. Und wenn das nicht ok ist, dann sage ich dir das und du kommst dann auch nicht näher.
  • Du bewegst dich ruhig. Du machst keine plötzlichen und hektischen Bewegungen, und du zappelst auch nicht fahrig rum.
  • Du schaust mir nicht in die Augen. Du starrst mich nicht an.
  • Du kommst als eigenständige Person in mein Leben, du bleibst eine eigenständige Person. Du gehst deinen Weg, ich gehe meinen. Niemals werden wir beide eins sein.

 

Ich zwinge dich nicht, in meinem Leben zu sein. Du bist als freier Mensch gekommen und bleibst weiterhin ein freier Mensch. Wenn es dir nicht passt, dann kannst du jederzeit gehen. Ich werde dich nicht nach Gründen fragen. Aber wenn du willst, dann darfst du die Gründe natürlich mitteilen.

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Kommentare: 5
  • #1

    PolizistundAutist (Montag, 01 Februar 2021 02:18)

    Beneidenswert konseqente Abgrenzung. Danke für deinen Blog! Einer aus dem Dunkeln, der alles von Dir aufsaugt. Mich wundern die wenigen Kommentare. Vielleicht, weil alles zu gut und erhaben, dass sich jemand traut.
    Danke

  • #2

    Kikkulade (Montag, 01 Februar 2021 10:45)

    Kommentar :)
    Gruß @PolizistundAutist

  • #3

    Stiller (Montag, 01 Februar 2021 11:53)

    @PolizistundAutist
    Wir verneigen uns.

    @Kikkulade
    UmKk

  • #4

    lemonbalm (Donnerstag, 04 Februar 2021 00:20)

    schweigen ist Gold

  • #5

    SapereAude (Samstag, 06 Februar 2021 10:54)

    nuff said