*** „Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt, dass Marmelade Fett enthält, Fett enthält …“ Aus einem Lied, das wir als Kinder auf Fahrten oft gesungen haben. ***
Ich definiere mich als Wissenschaftler. Mit anderen Worten: Ich prüfe ohne Ansehen der Person Meinungen und Fakten und übernehme das als vorläufiges Wissen, was sich bei der Prüfung als das Einleuchtendste erwiesen hat.
Das ist das eine.
Das andere ist: Ich lege bei der Erkenntnisgewinnung großen Wert auf wissenschaftliche Methoden. Und als Methoden gibt es da vor allem a) die Logik und b) die Mathematik. Wenn man von gültigen Axiomen (Voraussetzungen) ausgegangen ist, dann kann das, was man logisch widerspruchsfrei geschlussfolgert hat, nicht falsch sein. Und wenn die reine Logik nicht weiter hilft, dann gibt es viele, viele mathematische Methoden und Verfahren, mit denen man zu den richtigen Schlüssen kommen kann.
Ich bin kein Logiker und kein Mathematiker. Ich setze Logik und Mathematik nur als Werkzeuge ein. Vermutlich würde es einen Logiker oder einen Mathematiker grausen, wenn er mir bei der Arbeit zusehen könnte. – Logik und Mathematik sind für mich das, was die Straßenlaterne dem ist, der nachts als Fußgänger betrunken auf dem Heimweg ist: Mehr ein Halt als wirkliche Erleuchtung.
Mit anderen Worten:
Ich weiß wenig.
Ich weiß wirklich sehr wenig.
Und das wenige, was ich weiß, liegt beinahe ständig unter der dicken, schwarzen Wolke des Zweifels. Alles Wissen, das nicht absolut logisch hergeleitet wurde, ist immer nur vorläufiges Wissen. Und wenn es logisch hergeleitet wurde, kann sich immer noch herausstellen, dass ich von den falschen oder von unvollständigen Axiomen (Voraussetzungen) ausgegangen bin.
Verglichen mit dem, was ein Mensch grundsätzlich wissen könnte, weiß ich tatsächlich nichts.
Jo.
Das bin ich.
Das ist mein Selbstverständnis.
Und dann sind da noch die anderen. Die begegnen mir bei der Arbeit und im Gespräch sehr häufig. Die wissen viel. Die wissen wirklich viel. Und kaum ein Zweifel bremst ihren Diskussionsschwung. Denn sie wissen Bescheid.
Sie haben keine wissenschaftliche Ausbildung. Ihre Kenntnisse der wissenschaftlichen Methoden, der Logik und der Mathematik lassen sich am besten mit den Worten „überschaubar“ bzw. „sehr überschaubar“ beschreiben. Aber sie wissen Bescheid. Sie wissen wirklich Bescheid. Ihnen kann man nichts mehr vormachen. Warum wissen sie Bescheid? Wie haben sie sich ihr Wissen angeeignet? Ich habe sie gefragt, und will euch ihre Antworten nicht vorenthalten
„Ich hab‘ da letztens einen Bericht im Fernsehen gesehen.“
„Auf YouTube war da neulich eine Dokumentation.“
„Er ist Wissenschaftler. Er hat schon viele Bücher geschrieben.“
„Mein Schwager ist Arzt, und der sagt …“
„Ganz viele Wissenschaftler sagen das.“
„Ich habe da ein Buch gelesen von einem Autoren …“
Ja, denke ich dann meistens: Du hast ein Buch gelesen. Ein ganzes. Ganz für dich alleine. Heb dir mal bloß keinen Bruch!
Von meiner Ausbildung her bin ich Psychologe. Ich habe über fünf Jahre studiert. Vollzeit. Und „Vollzeit“ bedeutet in diesem Fall genau das: Die volle Zeit. Wenn du Vollzeit studierst, dann bist du mit einer Vierzigstundenwoche locker dabei. (Da mir das zu wenig war, habe ich noch einigen Kram nebenher studiert, aber das ist eine andere Geschichte, und die soll ein anderes Mal erzählt werden). In Prüfungszeiten solltest du das aber nochmal aufstocken. Und Prüfung ist beinahe immer. Aber belassen wir es erst mal bei diesen Zahlen:
40 Stunden pro Woche, 50 Wochen im Jahr, fünfeinhalb Jahre lang. Hast du eigentlich eine Ahnung, durch wie viele Bücher du dich in dieser Zeit fräsen musst, um nur halbwegs mithalten zu können mit dem Wahnsinnstempo, das die Professoren vorlegen?
Dass ich studiert habe, ist 30 Jahre her. Das damals gelernte Wissen ist mir noch weitestgehend präsent. Neulich baten mich Seminarteilnehmer, ihnen mal ein Lehrbuch zur Motivationspsychologie mitzubringen. Ich brachte ihnen das Buch mit, das wir Studenten immer nur „Die Bibel“ genannt haben. Heinz Heckhausen: Motivation und Handeln. Ein schrecklich dicker Wälzer. Reine Wissenschaft. Unheimlich ungelenk und unverständlich geschrieben. (Wer es aber wirklich knüppeldick braucht, dem empfehle ich: Winfried Hacker - Allgemeine Arbeitspsychologie. – Die beste Arbeitspsychologie, die ich je gelesen habe, aber sprachlich die absolute Zumutung).
Wie auch immer – ich brachte den Seminarteilnehmern also den dicken Heckhausen mit, und sie konnten es natürlich nicht lassen: Sie mussten mich prüfen. Sie schlugen das Buch willkürlich irgendwo auf und fingen an, mir irgendwelche Sachen vorzulesen, die ich ihnen erklären sollte: Columbia Obstruction Box, LM-Gitter, Vrooms Instrumentalitätstheorie … und so weiter. Ich konnte ihnen das alles aus dem Stand und flüssig erklären. Da klappten sie das Buch wieder zu, und wir konnten weitermachen mit dem Seminar.
40 Stunden in der Woche.
50 Wochen im Jahr. (Dass Studenten laufend Urlaub machen oder auf der faulen Haut liegen und feiern, gilt im Reich der Märchen und vielleicht bei denen, die Fächer studieren, die wenig oder keinen wissenschaftlichen Anspruch haben).
Fünfeinhalb Jahre.
Das macht 11.000 Stunden.
11.000 Stunden des reinen Lernens.
Ich habe in dieser Zeit knapp hundert Fachbücher gelesen und knapp tausend wissenschaftliche Fachartikel. Und natürlich habe ich in Vorlesungen und Seminaren gesessen, dass die Schwarte krachte (Sprachbild). Dann gab’s da noch die Praktika, die Fallstudien und die fächerübergreifenden Begegnungen.
Und so weiter.
Es war echt eine Menge. 55 Studenten und Studentinnen haben mit mir begonnen zu studieren. Nach meinem Kenntnisstand haben ungefähr 11 das Diplom gemacht. Speziell in den Fallstricken der höheren Mathematik sind sehr viele hängengeblieben und gestolpert. Wer Mathematik nicht kann, der tut sich sehr schwer mit der wissenschaftlichen Psychologie.
Nach dem Studium stellte ich fest, dass ich zwar ein Diplom in der Tasche hatte, aber nicht über das Wissen verfügte, das man in der Praxis brauchte. Logisch – keiner meiner Professoren hatte mehr als ein paar Wochen in der freien Wirtschaft gearbeitet. Die kannten und vermittelten nur ihr akademisches Zeug. Dieses akademische Zeug war weder schlecht noch falsch. Aber es war absolut nicht ausreichend für die Praxis. Also machte ich Weiterbildung – erst auf eigene Kosten, dann zusehends auf Kosten des Arbeitgebers. Da sind im Lauf der Jahre auch nochmal locker drei Jahre der reinen Weiterbildung zusammengekommen – nochmal 5.000 Stunden.
Ja.
Das ist meine Situation.
Und dann höre ich mir an:
„Ich habe ein Buch gelesen.“ (Kein Fachbuch, wohlgemerkt, sondern irgendwas populärwissenschaftliches. Ein ganzes Buch).
„Ich hab‘ da eine Dokumentation auf YouTube gesehen.“
„Neulich in einer Talk-Runde, da haben sie gesagt …“
Und so weiter
Diese Leute wissen Bescheid. Sie führen das große Wort. Sie lassen sich nichts mehr vormachen, denn sie blicken jetzt durch.
Und all das wird mit geradezu absolutistischer Sicherheit vorgetragen. Der Papst selber könnte nicht fester und sicherer in seinem Urteil sein als diese Menschen.
Was soll ich dazu sagen?!
Meistens sage ich nichts dazu.
Mit Menschen, die alles wissen, argumentiere ich nicht.
In eine Kaffeetasse, die randvoll ist, gieße ich ja auch nicht noch mehr Kaffee.
Wenn dein Herz und dein Gehirn Einsendeschluss haben, weil du eh schon alles weißt, was man wissen kann, dann ist das deine Entscheidung, und ich nehme das zur Kenntnis. Niemand hat mich zu deinem Lehrer, Vormund oder Aufpasser bestellt. Aber ich mühe mich nicht damit ab, dich davon zu überzeugen, dass es eine Welt außerhalb der Welt gibt, die du dir da in mühevoller Kleinarbeit zusammengebastelt hast. Das findest du selber raus, oder du lässt es.
Eine Frau, die mir sehr viel bedeutet, ist Impfgegnerin. Mit Impfgegnern haben meine Kleinen große Probleme. Denn Impfgegner tragen in einem erheblichen Maße dazu bei, dass mehr Kinder sterben.
Ich schaute mir eine der Broschüren an, die sie verteilt. Der Schöpfer dieses Machwerks ist von der Ausbildung her Milchwirt. Der kennt sich also aus mit der Haltung von Milchvieh. Der ist kein Arzt, und er hat auch keine wissenschaftliche Ausbildung. (Aber Wissenschaftsjargon kann er zusammenfaseln, dass es nur so seine Art hat). Dennoch ist er klüger und gebildeter als zehntausende medizinischer Wissenschaftler und hunderttausende Ärzte.
Damit du Medizinprofessor wirst, reichen die 11.000 Stunden Lernzeit, von denen ich oben schrieb, bei weitem nicht aus. Da musst du mindestens das knapp dreifache ansetzen: 30.000 Stunden. Zehntausende Menschen weltweit – wirklich hochintelligente Leute – lernen jeweils 30.000 Stunden und entwickeln in mühsamer Arbeit Erkenntnisse, die uns in der Medizin weiterbringen – wohlwissend, dass das medizinische Wissen von heute der medizinische Irrtum von morgen ist. Der Kinderarzt meiner Töchter brachte es mal so auf den Punkt:
„Das medizinische Wissen wird alle fünf Jahre umgewälzt.“
Ja.
Und dann kommt ein Milchwirt. Einer.
Jemand, der nie eine Uni von innen gesehen hat. Der nie in Vorlesungen oder Seminaren saß oder nächtelang (über Moooonate!) Fachbücher gewälzt hat. Kein TMS, kein Präpkurs, keine Famulatur – nichts! Gar nichts!
Und dieser Mann weiß Bescheid.
Er weiß sogar absolut Bescheid. Ihm macht keiner mehr was vor. Er hat dieses geheime Wissen, das uns systematisch vorenthalten wird. Und das teilt er jetzt mit uns. Denn er ist ein guter Mensch. Er ist voll der nobelsten Motive. Aber selbstverständlich! Und die Wissenschaftler – die sind ja alle Betrüger. Richtig böse Menschen. Und wenn sie keine bösen Menschen sind, dann sind sie strohdumm und merken nicht, wie sie von der Pharmaindustrie manipuliert werden. Und wir anderen sind alle dumme Schafe. Es sei denn, wir kaufen und lesen seine Bücher oder kommen zu seinen Vorträgen. Dann sind wir Mitglied der immer größer werdenden Schar derer, die Bescheid wissen. Haben wir ein Glück, dass es ihn gibt! Und – ganz wichtig! – sein Wissen ist von Dauer. Sein Wissen ist nicht der Irrtum von morgen, sondern sein Wissen ist ewig.
Er gibt eine Zeitschrift heraus und schreibt dicke Bücher.
Man kann ihn natürlich auch für Vorträge buchen.
Es ist seine Mission, der Menschheit die Wahrheit zu verkünden.
Es ist nicht schlimm, dass dieser Mensch eine Zeitschrift herausgibt, Bücher veröffentlicht und Vorträge hält. Abstruse Spinner gibt es überall. Das war schon immer so.
Schlimm ist, dass er so viele findet, die seinen Mist bereitwillig glauben und in die Welt tragen. Ich vermute, dass viele dieser Menschen, die ihm nachlaufen, zumindest Abitur haben. Vermutlich haben sie auf der Schule aber nie eine wissenschaftliche Ausbildung erhalten, sondern vor allem eins gelernt:
„Diskutieren Sie kritisch …“
Dieser Milchwirt weiß alles. Und einen Wissenschaftler erkennt man – unter anderem – daran, dass er weiß, dass sein Wissen sehr überschaubar und sehr vorläufig ist.
Meine ältere Tochter sieht das vermutlich deutlich gelassener als ich. Sie schickte mir vor ein paar Monaten einen Screenshot von Twitter. Dort schrieb ein Arzt (ich hab’s hier ins Deutsche übersetzt):
„Meine Lieblingsfächer auf der Universität waren diese:
1. Anatomie
2. Pharmakologie
3. Kardiologie
4. Neuropsychologie
5. Wie man die Massen belügt und Gedankenkontrolle durch Impfungen und Mikrochips erlangt
6. Nephrologie
7. Ansteckende Krankheiten“
Als meine Töchter noch Kinder waren, haben sie mich oft gefragt, warum sie eigentlich zur Schule gehen müssten. Manchmal sagte ich ihnen dann:
„Wer nichts weiß, der muss alles glauben.“
Meine Erfahrung ist: Es sind oft die, die am wenigsten wissen, die besonders fest im Glauben sind: Sie glauben, alles zu wissen.
Ende des Textes
Post Scriptum
Für alle da draußen, die so begeistert sind von Verschwörungserzählungen:
1
Es sind keine Theorien, von denen ihr da berichtet. Es sind Erzählungen – Märchen, Legenden, fantastische Geschichten.
Eine Theorie ist so definiert:
Eine Theorie ist ein System von Axiomen (Voraussetzungen) und den aus diesen Axiomen mit Hilfe logischer Regeln abgeleiteten Hypothesen.
Es sind also Erzählungen, denen ihr da lauscht und die ihr verbreitet und keine Theorien.
2
Es gibt kein geheimes Wissen. Es gibt Wissen, das uns als Menschen noch verborgen ist. Aber in einem Wissenschaftsbetrieb wie dem unseren irgendwie geheimes Wissen anzuhäufen, das ist völlig unmöglich. Im Chinesischen sagt man:
„Was einer weiß, das weiß einer.
Was zwei wissen, das wissen zwei.
Was drei wissen, das wissen Zehntausend.“
Dass im heutigen Wissenschaftsbetrieb einer allein oder zwei allein völlig abgeschottet von allen anderen irgendwelches Wissen anhäufen, das ist völlig ausgeschlossen.
3
Schaut nach innen, wenn ihr die Wahrheit finden wollt, die ihr sucht. Schaut nach innen und befreit euch. Schaut nicht nach außen. Solange ihr euch im Inneren nicht befreit habt, werdet ihr im Außen immer nur eine Spiegelung dessen finden, was in euch ist. Und wenn eure äußere Welt angefüllt ist mit irgendwelchen bösen Mächten, die euch oder der Menschheit Übles wollen, dann sagt das sehr viel darüber aus, wie es in euch aussieht und beinahe nichts darüber, wie es in der Realität aussieht.
4
Wenn ihr mit allem so überaus kritisch seid, was ihr in den Medien und im Wissenschaftsbetrieb findet, dann ist das sehr gut. Bitte setzt dieselben Maßstäbe an die Quellen an, aus denen ihr euch informiert. Wenn irgendjemand auf YouTube irgendwas verbreitet, dann lässt sich auch das kritisch hinterfragen. Vertraut mir – ich habe das ausprobiert: Es geht.
5
Wenn ihr der Wissenschaft vorwerft, „auch nicht alles“ zu wissen, dann nehmt bitte zur Kenntnis, dass 100 Gramm Wissen bei der Bewältigung der Realität immer noch besser sind als 100 Kilogramm wissensbefreite Glaubensüberzeugung.
6
Wenn ihr so angetan seid von „alternativen Fakten“ und nach ihnen leben wollt, dann sucht euch dafür bitte ein alternatives Paralleluniversum. Aggressiv gelebte Realitätsverweigerung kann – wenn sie von zu vielen Menschen betrieben wird – Menschenleben gefährden und irreversiblen Schaden verursachen. Meine Toleranz endet dort, wo sie Intoleranz tolerieren müsste. Denn dann führt sich die Toleranz selbst ad absurdum.
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Murmur (Sonntag, 03 Januar 2021 21:41)
Bravo!
Jana Joh. (Samstag, 09 Januar 2021 10:14)
Wow. Das spricht mir aus dem Herzen. Alles Gute für Sie!
Peter (Mittwoch, 13 Januar 2021 20:45)
Hallo Stiller,
Was man aus einem Axiomensystem gefolgert hat, kann nicht falsch sein unter der Voraussetzung (und nur unter dieser): Das Axiomensystem ist widerspruchsfrei. Das ist kein triviales Problem. Ich weise nur kurz hin auf den 2. Gödelschen Unvollständigkeitssatz.
Übrigens: Ist das Axiomensystem widersprüchlich. dann ist jede Aussage wahr und falsch zugleich.
Verschwörungs- "Theorien"/"Erzählungen": Wo ist die Grenze? Welche Wahrscheinlichkeit braucht eine Hypothese mindestens, um keine "Verschwörungs-was-weiss-ich-was" zu sein? Viele Dinge sind nämlich deutlich weniger klar als sie scheinen. Kann gern Beispiele bringen, aber wie ich schon geschrieben habe: Deine 2 letzten Artikel sind inhaltlich sehr umfangreich.
Wo ich dir absolut recht gebe: Viele glauben, dass sie alles wissen und wissen in wirklichkeit einen Scheissdreck. Meistens sind es sogar die, die sagen, dass sie wenig wissen, die, die in Wirklichkeit mehr wissen als die, die sagen, dass sie alles(viel) wissen.
Stiller (Mittwoch, 13 Januar 2021 22:40)
Hallo Peter, (Antwort Teil I)
ich finde, dass du wichtige und kluge Dinge schreibst.
Im Einzelnen:
Du schreibst:
"Was man aus einem Axiomensystem gefolgert hat, kann nicht falsch sein unter der Voraussetzung (und nur unter dieser): Das Axiomensystem ist widerspruchsfrei. Das ist kein triviales Problem. Ich weise nur kurz hin auf den 2. Gödelschen Unvollständigkeitssatz."
Nein, das ist kein triviales Problem. Und mir fehlen die geistigen und die materiellen Mittel (Zeit, Geld), es zu lösen oder auch nur an seiner Lösung mitzuarbeiten. Ich bin fast immer sehr anwendungsbezogen tätig. Beispiel: Heute habe ich einen (digitalen) Workshop geleitet, in dem wichtige Multiplikatoren des Konzerns, in dem ich arbeite, intensiv thematisiert haben, wie sie sich argumentativ mit Corona-Leugnern auseinandersetzen können. In diesem Umfeld hat meine Stimme ein ziemliches Gewicht.
Und ich habe versucht, den Teilnehmern ganz grob die psychischen Mechanismen zu skizzieren, die zu solch einer Wirklichkeitsverweigerung führen können, und wie es kommt, dass sich trotz aller faktischen Widersprüche diese Wirklichkeitsverweigerung so hartnäckig und so aggressiv hält.
Hier kommt es also zu einer Verknüpfung von wissenschaftlicher Erkenntnis (immer unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit) mit simpler Aussagenlogik, um praktikable Maximen für das eigene Handeln abzuleiten. Für meine Zwecke und Bedürfnisse ist es absolut ausreichend, wenn in einem solchen Rahmen die Axiomatik widerspruchsfrei ist und die Schlussfolgerungen aus diesen Axiomen logisch richtig hergeleitet sind.
Dass das aus einer Metaperspektive bestrachtet fragwürdig sein kann, ist mir bewusst.
Aber wir müssen handlungsfähig bleiben.
Du schreibst:
"Verschwörungs- "Theorien"/"Erzählungen": Wo ist die Grenze? Welche Wahrscheinlichkeit braucht eine Hypothese mindestens, um keine "Verschwörungs-was-weiss-ich-was" zu sein?"
Dazu gibt es seit einiger Zeit ein mathematisches Modell. (Ich weiß aber nicht, von wem und wie es genannt wird. Wenn ich es richtig erinnere, habe ich in Spektrum der Wissenschaft darüber gelesen). Meines Wissens wird in diesem Modell auch ein Abbruchkriterium vorgeschlagen, ab dem man von einem "Verschwörungs-was-weiss-ich-was" spricht.
Aber auch hier verfolge ich einen wesentlich pragmatischeren Ansatz, denn in meinem praktischen Tun ist es bedeutsam, handlungsfähig zu bleiben. Ich werde in meiner Arbeit oft mit krisenhaften Situationen konfrontiert, in denen es notwendig ist, in kürzester Zeit zu tragfähigen Entscheidungen zu kommen.
Ich arbeite dann mit sehr simplen probabilistischen Modellen, die sich etwa so zusammenfassen lassen:
a) Wie wahrscheinlich ist, dass es so ist, wie du es mir gerade schilderst? (Da ist im Außen gerade was ganz Ungeheuerliches im Gange (und ich bin einer der ganz wenigen, die das wissen bzw. siehen)).
b) Wie wahrscheinlich ist es, dass die üblichen psychischen Mechanismen greifen? (Das ist nicht im Außen, was du mir schilderst, sondern du transportierst das, was in dir ist nach außen, um es besser handhaben zu können).
Diese beiden Wahrscheinlichkeiten werden einander gegenüber gestellt.
Und wenn eine dieser beiden Wahrscheinlichkeiten ein deutliches Übergewicht hat - sagen wir mal 95 : 5 -, dann wird davon ausgegangen, dass diese Wahrscheinlichkeit Fakt ist, und es wird entsprechend gehandelt.
Die sich hieraus ergebende Problematik von Alpha-Fehlern bzw. deren Kummulation ist mir bekannt und bewusst. Aber ich muss in der jeweiligen Situation damit leben, um handlungsfähig zu bleiben.
Das konfundiert mit dem Bedürfnis nach Sicherheit, das ich im zweiten Teil dieser Artikel-Reihe anspreche:
Je größer dein Sicherheitsbedürfnis ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass du in krisenhaften Situationen an entscheidender Stelle nicht mehr handlungsfähig bist. Ich bin in meiner Arbeit (und meinem Leben) unter anderem deshalb so erfolgreich, weil es mir liegt, in krisenhaften Situationen sehr schnell und sehr sicher zu Entscheidungen zu kommen.
Stiller (Mittwoch, 13 Januar 2021 22:42)
Hallo Peter (Antwort Teil II)
Du schreibst:
"Viele glauben, dass sie alles wissen und wissen in wirklichkeit einen Scheissdreck."
Ja.
Manchmal murmele ich dann vor mich hin:
"Zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen" und denke an die entsprechende Stelle im Faust. ("Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet ..." etc.) Ich kann mit solchen Menschen nicht argumentieren. Die Psychologie unterscheidet (ganz grob) diese vier Phasen:
1.) Unbewusstes Nichtwissen (Ich weiß nicht, aber das weiß ich nicht. Ich fühle micher sicher).
2.) Bewusstes Nichtwissen (Ich weiß, dass ich nicht weiß. Ich fühle mich unsicher).
3.) Bewusstes Wissen (Ich weiß, dass ich weiß (anfange zu begreifen). Ich fühle mich unsicher (weil das Wissen noch neu und ungefestigt ist)).
4. Unbewusstes Wissen (Ich weiß, ohne mir dessen bewusst zu sein. Ich fühle mich sicher).
Ich komme in den allermeisten Fällen nicht über Stufe 2 hinaus. Aber wenn ich dann mit Menschen argumentieren soll, die sich auf der Stufe 1 befinden ... ach du liebe Güte! Die Erfahrung lehrt mich, das lieber sein zu lassen.
Manchmal hören die Menschen, dass ich da irgendwas vor mich hinmurmele und fragen dann, was ich gesagt hätte. Ich antworte ihnen dann rasch:
"Nichts, nichts. Hab' nur laut gedacht."
Peter (Donnerstag, 05 Mai 2022)
Hallo Stiller,
Dein Beitrag hat ja mehrere ganz eigene Sektionen. Ich kann auch heute nicht auf alles schreiben. Du schreibst:
" Post Scriptum
Für alle da draußen, die so begeistert sind von Verschwörungserzählungen:
...."
Damit kannst du jeden und keinen meinen. Ich bleibe mal ruhig beim Vokabular Verschwörungstheorie. Leider hat dieser Begriff in den letzten Jahren eine Hyperinflation in seinem Gebrauch erlebt.
In Punkt 1 definierst du den Begriff einer mathematischen Theorie, diese Anforderung kann man aber unmöglich stellen an Alltagssituationen. Nicht mal in den experimentellen Naturwissenschaften. Kannst sicher auch du nicht an deine Arbeit. Die Bezeichnung "Märchen" würde ich reservieren für etwas ganz inkonsistentes, das im Widerspruch zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen steht und auch keine Wahrscheinlichkeit von 0,0005% hat. Beispiel das Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf: Der Wolf frisst Rotkäppchen und die Grosmutter und beide kommen wieder lebend heraus. Ein Beispiel von vielen.
Punkt 2: Ich beschuldige mich selbst, ein paar unveröffentlichte mathematische Arbeiten zu kennen, die in einer Schublade liegen und von denen nur ein paar Leute wissen. Manchmal bricht eben einer seine Arbeit ab oder wendet sich anderem zu oder auch stirbt und die anderen Beteiligten verlieren das Interesse.
Punkt 4: Wissenschaftsbetrieb stimme ich zu. Dass in den Medien bestimmt Fakten mit Lügen vermischt werden, bin ich mir sicher. In allen, mainstream und nicht mainstream. Und eben auch Meinungen und Halbwahrheiten. Und dass sie zur Manipulation benutzt werden. Es gibt zu allem belegte Präzedenzfälle. Beispiel: Wenn chinesische, amerikanische und deutsche Berichterstattung voneinander abweichen, dann können sie nicht alle zu 100% stimmen. Oder denke an russische und ukrainische. Berichterstattung. Und sag nur nicht, so was gibt es in Deutschland nicht!
Zu Punkt 6: Deine Aussage kann man herunterbrechen auf: "Ich toleriere, was ich toleriere". Eine Tautologie dann. Was ich aber glaube zu erkennen, wenn du schreibst über "Aggressiv gelebte Realitätsverweigerung....."
Meine Vermutung ist: Ein Verschwörungsmärchen, ungefähr so konsistent wie Rotkäppchen, beunruhigt euch weniger. Viel gefährlicher haltet ihr konsistente Verschwörungstheorien: Wo man den Widerspruch nicht eindeutig erkennen kann und was mit einer Wahrscheinlichkeit von 5% auch für euch wahr sein kann. Noch dazu, wenn der, der es sagt, nicht in der Vergangenheit durch absurde Aussagen aufgefallen ist. Wenn er vielleicht sogar einen Professortitel hat und seine Arbeiten allgemein anerkannt sind. Eben dann doch mit Ansehen der Person.
Kurz: Über Märchen kann man lachen, aber wenn es was sit, das theoretisch stimmen könnte?
Peter (Montag, 22 August 2022 13:43)
Hallo Stiller.
Angepisst?
Meine Hypothese: So lange man dir nach dem Maul redet, fühlt sich der Narzisst in dir geschmeichelt und du antwortest freundlich.
Noch ein Beitrag von mir zum Thema: So lange die Wissenschaftler noch im Disput sind, darf ich schon mich nach dem Standpunkt der Minderheit richten, stimmts?
Ich meine konkret: Ich befolge die Ratschläge von Prof.Dr. Bhakdi , was Corona betrifft. Habilitiert in seinem Fach, da braucht mir kein Tagesschauseher sagen, das wäre falsch. Ein nicht-habilitierter hat gar nicht die Kompetenz, ihn anzuzweifeln in seinem Fach.
Wissenschaftliche Minderheitsmeinungen sind keine Verschwörungstheorien, und Märchen schon gar nicht.
Angepisst? Wenn ja, ich lass dich in Ruhe.
Ich schreibe auf meiner Seite jetzt über Verschwörungstheorien, vor allem die, die wahr wird: Great Reset.