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Die Sprüche der Ahnungslosen 02 – Das bildest du dir nur ein

Ich war 17, als es mir zum ersten Mal passierte:

Jemand hatte mich danach gefragt, wie es in mir aussah, und ich schilderte ihm freimütig, wie es in mir aussah. Zu dieser Schilderung gehörte die Feststellung, dass meine Eltern meine schlimmsten Feinde seien.

 

Jo.

 

Und dann bekam ich das zu hören, was ich später noch so oft hören sollte:

„Das bildest du dir doch bloß ein!“

 

Von diesem Satz gibt es viele Abwandlungen:

  • Ich kenne deine Eltern, die sind nicht so.
  • Alle Eltern lieben doch ihre Kinder.
  • Bist du sicher, dass du das nicht bloß geträumt hast?
  • Jetzt übertreibst du aber!
  • Das kann ich mir nun überhaupt nicht vorstellen!
  • Das kann gar nicht sein!
  • Sowas gibt es nicht!
  • Also komm schon! So schlimm kann das doch wohl nicht gewesen sein!
  • Bist du sicher, dass du dir das nicht bloß ausgedacht hast?
  • Du willst dich doch nur wichtig machen!
  • So darfst du das aber nicht sehen.
  • Aber dir geht es doch gut!
  • Und doch ist aus dir was geworden.
  • Und so weiter

 

Harter Stoff, nicht?

Wenn man bedenkt, was ich damals in meinem kurzen Leben schon so alles erlebt hatte.

 

Ich habe es später so auf den Punkt gebracht:

„Ich kenne Dinge in- und auswendig, von deren bloßer Existenz du keine Ahnung hast. Und glaube mir – vermutlich ist es besser für dich, wenn das so bleibt.“

 

Dennoch haben mir diese Sprüche der Ahnungslosen lange Zeit ziemlich zu schaffen gemacht. Denn wenn es jemanden so hart getroffen hat wie mich, dann ist dieser Mensch sowieso ständig darum bemüht, bei klarem Verstand zu bleiben. Mir geht es so, und aus Schilderungen weiß ich, dass es vielen anderen so geht, die es in der Kindheit schwer getroffen hat:

Sie fragen sich die ganze Zeit:

„Ist mir das tatsächlich passiert?“

„Was fühle ich?“

„Darf ich so fühlen?“

„Darf ich das denken?“

 

Und was in so einer Situation dann auf keinen Fall hilft, ist, wenn einem ein völlig Ahnungsloser völlig ungebeten zur Seite springt und die Zweifel an der eigenen Erinnerung, am eigenen Verstand und am eigenen Fühlen auch noch kräftig anheizt.

 

Mir wäre lieber, wenn die Ahnungslosen schweigen würden, anstatt nach dem Motto zu verfahren:

„Was ich nicht kenne, das gibt es auch nicht.“

„Wenn ich es nicht sehe, dann ist es auch nicht da.“

 

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich das Selbstbewusstsein entwickelt hatte, sowas an mir abperlen zu lassen. Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, als ich zum ersten Mal eine Wende in dieser Sache wahrnahm:

Hochgelobte Experten schrieben Gutachten über mich. Als Erwiderung zu diesen Gutachten schrieb mir ein sehr hochrangiger Ahnungsloser einer sehr bekannten sozialen Institution:

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Nochmal und in Zeitlupe:

Da hatten Professoren, die mich sehr gut kannten, gleichlautende Gutachten über mich geschrieben. Es ging um Geld, das eine bekannte soziale Institution an mich zahlen sollte. Der Ahnungslose hatte nicht nur keine Ahnung. Er kannte mich auch kaum. Und er hatte keine Argumente. Das wusste er auch. Aber er hatte in dieser Institution das Sagen.

 

Also schrieb er mir über die Gutachten der Professoren:

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Und ich schrieb ihm gelassen und spontan zurück:

„Für deinen Mangel an Vorstellungsvermögen kann ich nichts.“

 

Es war ein langer Weg dahin. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich diese Sicherheit in mir gefunden hatte, dass ich mir mehr glaubte als den Ahnungslosen um mich herum, die mir erzählten, was ich angeblich nicht erlebt hatte. (Sie erzählten mir natürlich auch, was ich zu fühlen und zu denken hatte).

 

Ich war mir immer sicher – schon als kleines Kind -, dass das, was ich erinnerte, auch tatsächlich so passiert war. (Andere, die ich gesprochen habe, sind da nicht so glücklich. Die haben sich sogar ihre Erinnerungen von den Ahnungslosen ausreden lassen). Aber es sind ja nicht nur die Erinnerungen, die zählen, sondern auch die Schlüsse, die man als Kind und als Jugendlicher daraus zu ziehen hat: Was fühlt, was denkt man, wenn man sowas erlebt hat? Und diese Schlüsse habe ich über Jahrzehnte wütend und intensiv gegenüber den Ahnungslosen verteidigt.

 

Wie viele Ahnungslose haben jahrelang auf mich eingequatscht, um mich mit aller Gewalt davon zu überzeugen, dass mich meine leiblichen Eltern im Grunde ihres Herzens in Wirklichkeit geliebt haben!

Ja, selbstverständlich. Das ist auch der Grund dafür, dass sie mich beinahe jeden Tag schwer verdroschen haben.

Wie viele Ahnungslose haben jahrelang auf mich eingequatscht, um mich mit aller Gewalt davon zu überzeugen, dass meine leiblichen Eltern im Grunde ihres Herzens und in Wirklichkeit ganz anders handeln wollten, aber nicht konnten … dass sie im Grunde genommen Opfer waren und deutlich mehr gelitten haben als ich. Ja, selbstverständlich. (Ironie).

 

Und so weiter, und so weiter …

Der Quatsch, den sie da auf mich draufgelabert haben, um mir das Hirn und das Herz zu vernebeln und zu verdrehen, der war von solcher Themenfülle, dass ich bestimmt noch drei Seiten damit füllen könnte.

 

Die Ahnungslosen wollten mit aller Gewalt ihr handgesägtes Weltbild verteidigen, in dem solche Monstrositäten nicht vorkamen, wie ich sie erlebt hatte. Ihnen war wesentlich wichtiger, die Täter (und damit auch sich) zu schützen als mir zu glauben. Ich konnte also mit dem, was ich da schilderte, nur stören. Oder anders ausgedrückt: Ich sollte mich und meine Kleinen verraten – und das dauerhaft bitteschön -, damit es ihnen besser ging.

 

Und selbstverständlich gehörte zu diesem Verrat auch das Verzeihen. Ich sollte meinen leiblichen Eltern und allen anderen Tätern umfassend verzeihen:

Alles verzeihen.

Vollständig verzeihen.

Und das bitte möglichst bald.

Und am besten sofort.

Sonst würde ich niemals Frieden in meinem Leben finden.

 

Da waren sich so ziemlich alle Ahnungslosen einig: Im Vergeben und Verzeihen lag der Schlüssel zur Bewältigung all dessen, was ich erlebt hatte. Denn meine leiblichen Eltern, die konnten nun mal gar nichts dafür.

„Und denk‘ doch mal, deine armen Eltern – was die alles als Kind erlebt haben: Krieg, Flucht, Vertreibung. Verglichen damit ging es dir doch richtig gut!“

Ja, sicher. Selbstverständlich. (Ironie).

„Du kannst doch nicht für alles deine Eltern verantwortlich machen!“

Und so weiter.

 

Wie oben geschrieben:

Dagegen habe ich mich über Jahrzehnte wütend, intensiv und verzweifelt verteidigt.

Ich habe mit den Ahnungslosen argumentiert und tatsächlich meine Erinnerungen, meine Gefühle und meine Gedanken ihnen gegenüber gerechtfertigt. – Unfassbar! Aber trotzdem so alltäglich. Heute lasse ich die Ahnungslosen stehen, wenn sie in dieser Sache Scheiße an mich ranlabern, drehe mich um und beschäftige mich mit was anderem.

 

Es war ein sehr langer Weg dahin.

 

Wenn ich einen Stein in einen stillen See werfe, dann entstehen um die Einschlagstelle herum ringförmige Wellen. Falls ein Ahnungsloser das bezweifelt, argumentiere ich nicht mit ihm.

 

 

Epilog

 

Falls Sie nach dem Lesen dieser Zeilen das mulmige Gefühl beschleicht, selber ein Ahnungsoser zu sein:

Es ist nicht schlimm, ahnungslos zu sein. Wenn Sie auf der Insel der Seligen groß geworden sind, dann sind Sie zu beglückwünschen.

 

Aber halten Sie die Klappe, wenn in Ihnen der Drang aufsteigt, anderen ihre Erinnerungen, ihre Gedanken und ihre Gefühle auszureden.

Machen Sie sich vier Dinge klar:

1.    Wenn Sie etwas nicht kennen, bzw. nicht erlebt haben, dann ist das kein Beweis dafür, dass es das nicht gibt.

2.    Wenn Sie etwas nicht kennen, dann sind Sie nicht der Experte dafür zu erkennen, ob der andere das tatsächlich erlebt hat oder nicht.

3.    Wenn Sie etwas nicht kennen, dann sind Sie nicht der Experte dafür, was man fühlt und denkt, wenn man sowas erlebt hat.

4.    Wenn Sie etwas nicht kennen, dann sind Sie nicht der Experte dafür, wie man damit am besten fertig wird.

Sie sind in Ihrem Leben ganz sicher der Experte für alles mögliche, ohne Frage. Aber dafür nicht. Machen Sie sich das klar, bevor Sie anfangen zu reden. Mit einiger Übung werden Sie das schaffen, wenn Sie das wollen.

Da bin ich ganz sicher.

Und für den Fall, dass Sie ein völliger Anfänger in Sachen Demut sind:

Ich kann Ihnen versichern: Demut zu leben und zu erleben kann sehr bereichernd und erfüllend sein.

 

Falls Sie in Ihrer profunden Ahnungslosigkeit in der Vergangenheit ein oder mehrere Opfer mit ihrer Scheiße vollgelabert haben und dadurch diese Wunden und dieses unermessliche Leiden noch erheblich vertieft haben, dann gilt fünftens:

5.    Sie können das, was Sie getan haben, nicht ungeschehen machen. Aber es hindert Sie vermutlich niemand daran, das aufrichtig zu bedauern und sich bei den Opfern in aller Form zu entschuldigen. (Ich selber habe das tatsächlich noch nie erlebt. Aber das will nichts heißen. Ich denke trotzdem, dass sowas grundsätzlich möglich ist).

 

Und für die anderen:

Allen da draußen, die in ähnlicher Situation sind wie ich damals, wünsche ich alles Glück und alle Kraft dieser Welt.

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Kommentare: 1
  • #1

    Hanspeter Fischer (Donnerstag, 25 Februar 2021 16:23)

    Ich kann Ihnen versichern: Demut zu leben und zu erleben kann sehr bereichernd und erfüllend sein.
    Allen da draußen, die in ähnlicher Situation............ Danke für die Worte.