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Das Neurotypische Syndrom 20–Die Hilflosen Helfer (Alternativtitel: Unter Geiern)

Das Neurotypische Syndrom ist dadurch charakterisiert, dass ein Mensch, der unter ihm leidet

a)    sich die lebensnotwendige emotionale und soziale Zuwendung nur in sehr geringem Maße selber geben kann und

b)    erhaltene emotionale und soziale Zuwendung kaum speichern kann.

 

Das führt bei so einem Menschen zur permanenten Suche nach sozialer und emotionaler Zuwendung. Tiere, die nur Nahrung zu sich nehmen können, die sehr kalorienarm ist, sind den größten Teil ihrer wachen Zeit damit beschäftigt, Nahrung zu suchen und zu fressen.

NTs sind Menschen, die den größten Teil ihrer wachen Zeit damit beschäftigt, soziale und emotionale Zuwendung zu generieren und aufzunehmen.

 

Positive emotionale und soziale Zuwendung ist in der Welt der erwachsenen NTs fast immer ein äußerst knappes Gut. Deshalb suchen die meisten NTs bevorzugt nach negativer emotionaler und sozialer Zuwendung. Davon ist immer genug da. Viele NTs sind also die meiste Zeit ihres wachen Lebens damit beschäftigt, negative Zuwendung zu generieren.

 

Bei dieser Suche nach negativer emotionaler und sozialer Zuwendung haben sich manche NTs spezialisiert. Bei meinen Kleinen heißen sie nur „Geier“ oder „Hilflose Helfer“ oder „Helferlein“. Solche Menschen sind auf der ständigen Suche nach verwundbaren oder hilflosen Opfern, die sie emotional ausbeuten können. Das tun sie unter dem Deckmantel der selbstlosen, liebenden Hilfe. Dass sie nicht helfen, sondern ausbeuten ist den meisten Hilflosen Helfern - wenn überhaupt - nur ansatzweise bewusst.

 

Ich will im folgenden beschreiben, (1) wie man negative Zuwendung generiert, (2) wie die Hilflosen Helfer dabei genau vorgehen, (3) welche psychische Dynamik sie antreibt, (4) woran man Hilflose Helfer erkennen kann, und (5) wie man sich gegen sie wirksam zur Wehr setzen kann.

 

Los geht’s.

 

1

Wie man negative Zuwendung generiert

 

Es gibt grundsätzlich drei Wege, wie man negative Zuwendung generieren kann.

a)   Man kann Recht haben und denen, die nicht Recht haben, richtig einheizen. Wenn man sich für diesen Weg entscheidet, hat man beinahe laufend Recht und ist permanent damit beschäftigt, an anderen rumzuerziehen, rumzunörgeln und sie zurechtzuweisen. Denn sie haben nicht Recht. (Oder sie machen die Dinge falsch). Und das muss ihnen endlich mal einer sagen, sonst lernen sie es nie.

 

Wenn du diesen Weg wählst, dann bist du also permanent mit einem erzieherischen Auftrag in der Welt unterwegs und weist den anderen Menschen (ungefragt und ohne Auftrag) ihre Fehler nach.

Das Kunstgefühl, dass du dabei produzierst, ist: „Ich bin im Recht!“

 

Negative Zuwendung bekommst du dadurch, dass du (1) dich über andere ärgerst, die alles immer falsch machen oder es nicht verstehen und (2) mit deinen pädagogischen Bemühungen von ihnen zurückgewiesen, ignoriert oder nicht verstanden wirst.

 

Wenn du diese Art, negative Zuwendung zu generieren zu deinem Beruf machst, dann kannst du all die Berufe wählen, in denen man über andere bestimmen und über sie schimpfen kann – Polizist, Lehrer (an weiterführenden Schulen), Richter, Vorsitzender von irgendwas, Chef von irgendwas … und so weiter.

 

b)  Du kannst dich entscheiden, das Opfer zu sein. Dann bist du hilflos. Oder du steckst in einer Sackgasse, aus der du nicht herauskommst. Es geht dir richtig schlecht und das dauernd, und du kannst nichts daran machen. Oder du kannst nichts richtig machen, und dir gelingen die Dinge einfach nicht. Irgendwie geht immer was schief. Wenn du dich für diesen Weg entscheidest, dann harmonierst du hervorragend mit den Menschen, die sich für den Weg a) entschieden haben. Denn wenn du ein Opfer bist, dann machst du alles falsch und brauchst jemanden, der dir sagt, wie man’s richtig macht.

 

Das Kunstgefühl, das du dabei produzierst, ist das der Hilflosigkeit oder der Ausweglosigkeit. Und natürlich geht’s dir laufend schlecht – auch das ist ganz oft ein Kunstgefühl.

Negative Zuwendung bekommst du dadurch, dass du andere einlädst, auf dir rumzuhacken oder in deinem Leben rumzumurksen – denn du kriegst es ja nicht hin.

 

Wenn du das zu deinem Beruf machst, dann kannst du dich für beinahe jede Tätigkeit entscheiden – Hauptsache, du kommst in deinem Beruf nicht voran und verhältst dich so, dass man ständig an dir herumkritisieren und herumnörgeln kann.

 

c) Du kannst dich aber auch entscheiden, ein guter Mensch zu sein. Dann bist du edel, hilfreich und gut. Und du hast Verständnis für alles und jeden. Dein Herz fließt über vor Liebe, Güte und Hilfsbereitschaft. Fehlt also nur noch jemand, dem du all das angedeihen lassen kannst. – Am ehesten kommen dafür Opfer in Frage (Rolle b). Und wenn grade keins zur Hand ist, wirst du dir eins schaffen. Jemandem, den du grade hast stolpern lassen, dem kannst du hervorragend wieder auf die Beine helfen.

 

 

Das Kunstgefühl, das du dabei produzierst ist „Ich bin ja so gut.“ „Ich bin ja so selbstlos.“ „Ich tue das alles nur für euch.“ „Ich bin ein guter Mensch.“ Darüber hinaus schwimmst du in künstlichem Mitleid, künstlicher Trauer und so weiter.

 

Wenn du diese Art, negative Zuwendung zu generieren zu deinem Beruf machst, kommen grundsätzlich alle helfenden Berufe für dich in Frage: Arzt, Krankenschwester, Psychologe, Psychotherapeut, Pfleger, Sozialarbeiter, Lehrer (an Grundschulen), Kirchenämter, irgendwas mit Wohlfahrt.

 

 

Jeder Mensch beherrscht alle drei Rollen. Wenn wir negative Zuwendung brauchen, wechseln wir laufend von einer Rolle in die andere. Aber jeder von uns hat beim Generieren von negativer Zuwendung seine Lieblingsrolle, in der er sich bevorzugt aufhält.

 

Die drei Rollen a), b) und c) harmonieren hervorragend. Grundsätzlich geht das so:

 

 

1. Schritt

a haut b verbal so richtig auf die Fresse (oder für Freunde der gepflegteren Sprache: a schimpft mit b rum).

 

Falls a dieses Psychospiel einleitet, weil er gerade negative Zuwendung braucht, sucht er im Verhalten von b so lange nach Fehlern, die er ihm nachweisen kann, bis er einen gefunden hat. Und dann geht’s los.

 

Falls b dieses Psychospiel einleitet, weil er gerade negative Zuwendung braucht, dann wird er ein Verhalten zeigen, von dem er weiß, dass es a provoziert. Er wird sich ungeschickt anstellen und dumme Fehler machen oder sich sonst irgendwie schaden. 

 

 

2. Schritt

b beklagt sich lauthals und ruft damit c auf die Bühne.

 

3. Schritt

c betritt als edler Retter die Bühne. Er hat Verständnis für alles und jeden. Er sorgt dafür das b Hilfe bekommt. Gleichzeitig geht er mit beruhigender Wirkung auf a ein, damit der sich nicht so viel ärgern muss.

 

Falls c ein Psychospiel einleiten will, weil er negative Zuwendung braucht, dann sucht er sich irgendwen, dem er helfen kann. Ist kein Opfer da, dann schafft er sich aktiv eins. Wenn Eltern diese Rolle einnehmen, dann sorgen sie oft dafür, dass ihre Kinder in der Schule versagen. Dann haben sie (die Eltern) immer was zu helfen.

 

4. Schritt

Beginne wieder mit Schritt 1

 

 

2

Wie gehen die Hilflosen Helfer genau vor?

 

Da es in diesem Text vor allem um die Hilflosen Helfer gehen soll, will ich nochmal ausdetaillieren, wie sie es schaffen, dass ein Psychospiel läuft und sie negative Zuwendung bekommen. Die, die die Rollen a) und b) ausfüllen, benutzen vergleichbare Mechanismen.

 

1

Der Hilflose Helfer verspürt unbewusst den ganz starken Drang nach negativer Zuwendung. Ob er diese Zuwendung gibt oder nimmt, ist erst mal gleichgültig. Grundsätzlich gilt hier das Wort von John Lennon: „The love you take is equal to the love you make.”

 

2

Der Hilflose Helfer aktiviert seinen inneren Radar und sucht nach einem Opfer, dem er helfen kann. Er entwickelt jetzt ein sehr feines Gespür für verwundbare Menschen in seiner Umgebung.

 

3

Der Hilflose Helfer schaut, ob er sein potenzielles Opfer in die Opfer-Rolle drängen kann. Wenn er zum Beispiel auf einer Feier ist, kann das so aussehen:

Er sucht sich einen Menschen aus und beginnt ein Gespräch:

„Ich hab‘ gehört, du warst krank?“

oder

„Dein Urlaub soll ja nicht so toll gewesen sein.“

oder

„Sag mal, ist dein Chef immer noch so grässlich?“

 

In dieser konkreten Situation geht es also darum, dass etwas negatives thematisiert wird, damit der Hilflose Helfer seine Lieblingsrolle ausfüllen kann.

 

4

Wenn das Opfer seine Rolle annimmt, dann beginnen die beiden, sich mit negativer Zuwendung zu betanken:

Das Opfer ist negativ und beklagt sich.

Der Hilflose Helfer gibt Ratschläge oder versucht auf andere Weise zu helfen, aber an der Situation selber ändert sich absolut nichts.

 

Das ist wichtig, damit negative Zuwendung weiterhin üppig fließen kann:

An der zugrunde liegenden Situation ändert sich nichts. Das Opfer bleibt Opfer, und der Hilflose Helfer kann weiterhin den Sisyphos geben:

 

Beispiele:

 

  • Das Opfer, das sich über seinen Chef beklagt, befindet sich nach der „Hilfe“ in exakt der selben Situation wie vorher auch.
  • Dem Opfer, das über seine Schmerzen klagt, bekommt vom Hilflosen Helfer zahllose Tipps zu Bewegung und Ernährung. Das Opfer setzt nichts davon um. Oder: Das Opfer setzt das um, aber das hilft entweder nicht oder das Opfer entwickelt neue Symptome.
  • Jemand, der hungernden Eingeborenen hilft, staunt, dass die Eingeborenen weiterhin hungern. (Und ja, man kann ganze Wirtschaftssysteme mit diesem Unsinn in Gang halten).
  • Der Drogenabhängige, dem der Hilflose Helfer „half“, wird rückfällig. Oder der Drogenabhängige weicht mit seiner Sucht auf etwas anderes aus: Der Heroinabhängige wird Workaholic.

 

 

Ganz wichtig:

Sollte sich einmal wirklich – trotz aller Suche – kein Opfer finden … sollte es in so einer Situation also wirklich allen anderen gut gehen … ja, dann wird der Hilflose Helfer hergehen und sich ein Opfer schaffen.

Denn er braucht eins.

Er braucht jetzt ein Opfer, so wie ein Heroinabhängiger jetzt seinen nächsten Schuss braucht:

  • „Hör mal, du siehst aber gar nicht gut aus. Geht es dir nicht gut?"
  • „Ich kenn‘ dich doch - du hast doch irgendwas!“
  • „Mir kannst du doch alles erzählen.“
  • „Mit diesem Fleck würde ich aber zum Arzt gehen!"
  • Und so weiter.

 

Als ich noch mit Suchtkranken arbeitete, habe ich es mehrfach erlebt, dass Sozialarbeiter Menschen, die gerade dabei waren, von ihrer Sucht runterzukommen, mit Stoff versorgten. Nichts fürchtet der Hilflose Helfer mehr, als dass er kein Opfer mehr hat, dem er helfen kann.

 

Und diese Dynamik führt natürlich dazu, dass viele Menschen, die in Hilfesystemen arbeiten, ganz von selbst (und meistens völlig unbewusst) dafür sorgen, dass ihre Hilfe vergeblich bleibt.

 

Einschub

Falls Sie jetzt anfangen, so richtig auf die Hilflosen Helfer einzuschimpfen: Herzlichen Glückwunsch – Sie haben sich gerade für die Rolle a) (siehe oben) entschieden, um negative Zuwendung zu generieren.

 

Falls Sie jetzt so richtig auf mich einschimpfen, weil ich das alles falsch sehe, gilt dasselbe.

Einschub Ende

 

 

3

Was ist die psychische Dynamik, die Hilflose Helfer antreibt?

 

Hilflose Helfer sind Menschen in großer innerer Not. Sie sind sozial und emotional enorm bedürftig. Sie befinden sich im permanenten Krisenmodus.

 

Da sie innerlich nicht die Erlaubnis haben, sich die Hilfe zu holen, die sie brauchen, wenden sie ihr Inneres nach außen. Mit anderen Worten: Das, was eigentlich in ihnen ist, das sehen sie bei anderen. Dieser Mechanismus wird „Projektion“ genannt.

 

Im Anderen versuchen die Hilflosen Helfer sich selbst zu helfen. Anders ausgedrückt: Sie geben dem anderen das, was sie eigentlich selber brauchen – völlig unabhängig davon, ob der andere das jetzt gerade braucht oder nicht. Sie fühlen sich dabei gut, weil sie sich jetzt nicht in der bedürftigen Rolle befinden, sondern in der gebenden. So lange sie helfen können, müssen sie nicht fühlen, wie schlecht es ihnen tatsächlich geht.

 

Je schlechter es einem Hilflosen Helfer geht, desto reflexhafter und krampfartiger wird die Hilfe, die er anderen angedeihen lässt:

Ärzte arbeiten sich tot, Krankenschwestern machen tausende Überstunden, Psychotherapeuten engagieren sich ehrenamtlich oder unentgeltlich für ihre Klienten … und so weiter.

 

Einschub

Falls Sie sich gerade fürchterlich aufregen, weil

a)    die Ärzte, Krankenschwestern (und so weiter), über die ich hier schreibe, sich selbstlos für andere aufopfern und uns allen ein Beispiel sein sollten

b)  die Ärzte, Krankenschwestern (und so weiter) von einem krank machenden System in diese Arbeitspläne gepresst werden und die wahren Schuldigen ganz woanders sitzen

c)    und so weiter

Herzlichen Glückwunsch:

Sie haben sich gerade für die Rolle a) entschieden, um zu ihrem Quantum an negativer Zuwendung zu kommen.

 

Vielleicht können diese logischen Gedanken Ihnen auf die Sprünge helfen:

1.   Jemand, der überarbeitet ist, macht viel mehr Fehler als jemand, der sich nicht überarbeitet. Je mehr er in diesem Zustand arbeitet, desto mehr schadet er sich und anderen.

2.  Wer sich totgearbeitet hat, nützt niemandem mehr. Er kann niemandem mehr helfen (außer den Menschen, die in am Bestattungswesen verdienen).

3.    Die handelnden Personen sind erwachsene Menschen. Sie sind in der Lage, andere Wege zu finden.

4.  Ehrenamtlich arbeitende Menschen in Hilfesystemen machen sehr wichtige und zum Teil lebensnotwendige Arbeit – und drücken damit systematisch die Löhne und Honorare derer, die ihr Geld in Hilfesystemen verdienen.

 

Und falls Sie sich gerade selber wiedererkannt haben in der Rolle des Hilflosen Helfers, der sich immer für die anderen aufopfert, aber absolut keinen Weg sehen, wie Sie das anders machen könnten (weil die anderen brauchen Sie ja):

Herzlichen Glückwunsch – Sie haben sich gerade für die Rolle b) entschieden und produzieren das Kunstgefühl der Hilflosigkeit bzw. der Ausweglosigkeit.

Sie dürfen jetzt in die Rolle a) wechseln und sich fürchterlich aufregen.

 

Einschub Ende

 

 

4

Woran kann man einen Hilflosen Helfer erkennen?

 

Es gibt keinen festen Regelsatz, an dem man sich orientieren kann. Deshalb will ich die Merkmale aufschreiben, an denen man oft erkennen kann, dass man es mit einem Hilflosen Helfer zu tun hat. Es ist aber gut möglich, dass in Ihrer konkreten Situation der Hilflose Helfer nicht alle Merkmale zeigt oder Merkmale zeigt, die ich hier nicht aufgelistet habe.

 

·         Der Hilflose Helfer agiert ohne Auftrag. (Er hilft ungefragt).

·         Wenn er mit einem Auftrag agiert, ist dieser Auftrag schwammig oder nicht klar umrissen.

·         Wenn der Auftrag klar umrissen ist, dann geht er ungefragt über ihn hinaus.

·         An der konkreten Situation ändert sich durch die „Hilfe“ nichts oder nur wenig.

·      Wenn sich an der konkreten Situation etwas zum besseren ändert, dann sorgt der Hilflose Helfer dafür, dass (a) der Opfernachschub nicht abreißt  oder (b) so eine Situation wiederhergestellt wird.

·         Der Hilflose Helfer sabotiert seinen eigenen Erfolg.

·         Der Hilflose Helfer sorgt dafür, dass der anderer weiterhin auf Hilfe angewiesen bleibt.

·         Der Hilflose Helfer zeigt einen ganz prägnanten Eifer bei seiner Arbeit. Er glüht regelrecht für seine Arbeit.

·         Der Hilflose Helfer überstrapaziert seine körperlichen und seelischen Ressourcen und beutet sich und andere damit aus.

·         Der Hilflose Helfer identifiziert sich mit seinen Opfern. Ihm fehlt es eindeutig an professioneller Distanz.

·         Der Hilflose Helfer arbeitet unentgeltlich oder fast unentgeltlich.

·     Der Hilflose Helfer reagiert ausgesprochen unwillig, wenn man seine Hilfe zurückweist. Er kann dann sehr ungnädig und ungehalten werden (geht also in die Rolle a). Oder er wechselt dann selber in die Opfer-Rolle (Rolle b).

·        Wenn der Hilflose Helfer mit der Arbeit fertig ist, stellt sich bei ihm ein Gefühl der Leere ein. Wenn er darüber hinaus was fühlt, dann fühlt er sich fast immer einsam und verlassen.

 

 

5

Wie kann man sich gegen Hilflose Helfer wirksam zur Wehr setzen?

 

Drei Dinge sind in diesem Zusammenhang wichtig:

 

1

Wir alle brauchen sehr oft objektiv Hilfe. Wir nehmen dann nicht die Opfer-Rolle ein, um negative Zuwendung zu generieren, sondern wir brauchen tatsächlich Hilfe. – Wenn wir uns bei einem Unfall verletzt haben, wenn wir in einer fremden Stadt nach dem Weg fragen, wenn unser Rechner abgestürzt ist und wir nicht weiter wissen. Und so weiter.

 

2

Wenn in so einem Fall objektiv Hilfe nötig ist, dann agiert der Helfende in aller Regel nicht als Hilfloser Helfer:

Er hilft und tut dabei das notwenige, achtet dabei aber darauf, sich nicht aufzuopfern.

Nachdem die Hilfe erfolgt ist, zieht er sich wieder aus der Situation zurück bzw. hört mit dem Helfen auf.

 

3

Wenn wir einen Hilflosen Helfer so richtig beschimpfen und ihm Vorwürfe machen, dass er ein Hilfloser Helfer ist, dann mag sich das anfühlen wie eine sehr wirksame Gegenwehr. Aber in Wirklichkeit begeben wir uns damit in die Rolle a) und beginnen ein Psychospiel. Wir versorgen damit den Hilflosen Helfer mit negativer Zuwendung. Auf diese Weise tragen wir dazu bei, dass sich dieses ewige Rad von a), b) und c) weiter dreht.

 

Dasselbe gilt, wenn wir versuchen, dem Hilflosen Helfer zu helfen. – Auch das erlebe ich bei meiner Arbeit immer wieder: Zwei pickelharte Psychospieler, beide auf die Rolle des Hilflosen Helfers abonniert, versuchen einander zu helfen. Das führt natürlich nicht zu einer grundlegenden Verbesserung der Situation, sondern nur zu noch mehr negativer Zuwendung.

 

 

Also:

Wie wird’s gemacht?

Letztlich scheint es nur diesen einen Weg zu geben: Verzichte darauf, negative Zuwendung einzufordern und zu geben. Das ist alles andere als einfach und dauert viele, viele Jahre.

Also ganz konkret:

Wie wird’s gemacht?

 

1

Ich erkenne, welche Lieblingsrolle ich einnehme, wenn ich negative Zuwendung erpressen will.

Nehme ich, wenn ich negative Zuwendung will, eher die Rolle a), b) oder c) ein?

Bin ich der typische Verfolger/Ankläger (a) oder bin ich normalerweise das Opfer (b) oder bin ich selber einer, der am liebsten hilft (c)?

 

2

Ich lerne mit den Jahren, welche Form der Zuwendung ich jetzt tatsächlich brauchen würde.

Nehmen wir an, ich bin das typische Opfer (b). Dann habe ich über Jahrzehnte (seit meiner frühesten Kindheit) gelernt, geradezu reflexhaft ein Opferverhalten zu zeigen, wenn es mir nicht gut geht und ich Zuwendung brauche. So ein Verhalten kann ich nicht von einem Tag auf den nächsten ablegen. Dafür brauche ich Jahre. Und auf dem Weg dahin ist es sehr wichtig, dass ich lerne, zu spüren, welche Zuwendung ich jetzt tatsächlich brauche.

 

Wenn ich aufhöre, das Opfer zu geben, werde ich allmählich unattraktiv für die Hilflosen Helfer.

 

3

Ich lerne, an positive Zuwendung zu kommen - sie offen und transparent einzufordern.

Das bedeutet zum Beispiel, dass ich mich in so einem Fall an Menschen wende, von denen ich diese positive Zuwendung auch bekommen kann (und nicht wie früher an die, die diese Zuwendung gar nicht geben können und mich stattdessen immer mit negativer Zuwendung versorgen).

 

4

Ich lerne, diese Zuwendung auch anzunehmen.

Das ist ausgesprochen schwierig. Jeder, der erwachsen ist, hat über Jahrzehnte gelernt, positive Zuwendung reflexhaft zurückzuweisen. Wieder zu lernen, positive Zuwendung anzunehmen, dauert Jahre. (Punkt 4 gilt nur für Menschen, die nicht verliebt sind. Wenn wir verliebt sind, läuft für kurze Zeit ein anderes Programm in uns, und wir sind in der Lage, beinahe unbeschränkt positive Zuwendung anzunehmen).

 

5

Ich lerne, auf Kunstgefühle zu verzichten.

Das bedeutet

 

a)    für Menschen die reflexhaft in den Verfolger/Ankläger gehen: Ich verzichte darauf, im Recht zu sein. Ich verzichte darauf, mich zu ärgern, wenn andere meine Ratschläge und Hinweise nicht annehmen (und so weiter).

b)    für Menschen, die reflexhaft die Opferrolle übernehmen: Ich verzichte darauf, mich hilflos zu fühlen. Ich verzichte darauf, mich so zu fühlen, als sei ich in einer Sackgasse. Ich lerne, dass ich ein erwachsener Mensch bin und dass mir (beinahe) immer Verhaltensalternativen zur Verfügung stehen.

c)   für Menschen, die reflexhaft helfen wollen: Ich verzichte darauf, ein guter Mensch zu sein. Ich verzichte darauf, mich für unentbehrlich zu halten. Ich verzichte auf Unwillen, wenn andere sich nicht von mir helfen lassen. Ich helfe nur, wenn ich einen konkreten Auftrag bekomme (aber den fordere ich nicht ein).

 

Hilflose Helfer wagen sich nur an verwundbare Opfer. Ob wir tatsächlich verwundbar sind oder nicht, haben wir als erwachsene Menschen zu einem großen Teil selber in der Hand. Der einzig wirksame Schutz, den ich vor Hilflosen Helfern anbieten kann, ist:

Verzichte darauf, ein Opfer zu sein. (Verzichte aber auch darauf, ein Verfolger/Ankläger zu sein und verzichte darauf, selber zum Hilflosen Helfer zu mutieren).

Verzichte darauf, negative Zuwendung einzufordern und zu geben.

 

Der Weg dahin ist lang.

 

Der Weg lohnt sich.

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