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Die Sprüche der Ahnungslosen 01 – Mir kannst du alles erzählen

Ich war 17, als es mir zum ersten Mal passierte:

Jemand, der mit meinem Leben nichts zu tun hatte, forderte mich ultimativ auf, mich ihm zu öffnen. Er wollte unbedingt, dass ich ihm von meinen Sorgen erzählte und garnierte das mit den Worten:

„Sie können mir alles erzählen.“

 

Was war passiert?

Die Mutter meiner damaligen Freundin hatte mich verbal schwer angegriffen, was mich sehr belastete. Ich erfuhr – beinahe so nebenbei -, dass sie (die Mutter) ziemliche Probleme mit ihrer psychischen Gesundheit hatte. Ich erfragte die Namen einiger Medikamente, die sie nahm und ging mit dieser Information in die örtliche Apotheke. Dort las ich die Namen dieser Medikamente vor und bat darum, dass man mir sagte, gegen was sie helfen sollten.

 

Diese Information bekam ich nicht. Oder präziser: Der Mann im weißen Kittel hinter dem Tresen gab mir ein paar Wischi-Waschi-Antworten und wollte dann von mir wissen, warum ich ihn das fragte. Ich sagte es ihm: Die Mutter meiner Freundin nimmt das.

 

Ja, und anstatt mir jetzt detailliertere Information zu geben, wollte er nun unbedingt, dass ich ihm erzählte, wie es mir damit ginge, dass die Mutter meiner Freundin solches Zeug nahm. Ich schwieg. Ich suchte nach Worten. Also redete der Mann weiter. Er wollte wissen, wie die Mutter sich verhielte und wie ich mich dabei fühlen würde. Die Situation begann, mir völlig zu entgleiten. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Der Mann löcherte mich mit bohrenden Fragen. Und er hörte nicht auf damit.

 

Für diesen ganzen Quatsch hatte er weder einen Auftrag von mir noch eine entsprechende Ausbildung. Aber er ließ partout nicht locker. Ich war 17 Jahre alt, ausgesprochen schüchtern und nicht besonders selbstbewusst. Ich hatte bis dahin noch überhaupt keine Erfahrung mit solchen Überfällen. Also sagte ich diesem Mann ein paar Sätze und gab ihm ein paar Informationen. Aber es war fatal: Je mehr er von mir erfuhr, desto stärker war er interessiert und immer drängender wollte er, dass ich ihm noch mehr erzählte. Das nahm verhörartigen Charakter an.

 

Ich zögerte.

 

Also berichtete er mir davon, wie schon im Studium immer alle Kommilitonen zu ihm gekommen wären, um ihm ihr Herz auszuschütten (Sprachbild). Ich stolperte schon über das Wort „Kommilitone“. Ich kannte es nicht. Ich wusste nicht, dass es soviel bedeutet wie „Mitstudent“.

 

Aber der Mann im weißen Kittel war nicht mehr zu bremsen. Er redete auf mich ein, dass ich mich ihm öffnen solle und wie gut mir das tun würde, er hätte da jede Menge Erfahrung, und die waren natürlich alle positiv. Er redete sich in Fahrt. Und irgendwann sagte er diesen Spruch:

„Sie können mir alles erzählen.“

 

Ich weiß nicht mehr genau, wie das dann weiter ging. Aber gesagt habe ich ihm nichts mehr. Vermutlich habe ich schweigend und unschlüssig den Zettel mit den Medikamentennamen in den Händen gedreht und habe dann genauso schweigend die Apotheke wieder verlassen.

 

Schnitt

 

Zwei Jahre später. Hunderte Kilometer entfernt, aber immer noch in Deutschland. Ich bin zu Besuch bei den Eltern meiner leiblichen Mutter. Mit dem Vater meiner leiblichen Mutter komme ich gut aus. Mit ihrer Stiefmutter habe ich mir beinahe nichts zu sagen. Ich kann mit ihr nichts anfangen. Sie ist überzeugte und extravertierte Anthroposophin. Und sagen wir es mal so: Die Jünger Rudolf Steiners sind nicht die Menschen, die ich gerne um mich habe. Jedenfalls nicht, sobald sie anfangen zu reden. Das, was sie von sich geben, führt bei mir fast immer zu dem Schluss, dass ihr Herz eingekerkert ist, und dass sie ihren Verstand dringend mal zum Auswuchten bringen lassen müssten.

 

Wie auch immer – ich sitze bei meinen Großeltern auf dem Sofa und sage nichts. Ich bin alleine im Raum und sitze schweigend vor mich hin. Sowas tu‘ ich gerne. Sitzen, schweigen, da sein – da brauch‘ ich keine Ablenkung und auch keine Beschäftigung. Vage nehme ich wahr, dass die Stiefmutter meiner leiblichen Mutter immer mal wieder vorbeischaut. Aber ich sitze nur da. Ich sitze schweigend vor mich hin und nehme keinen Kontakt mit ihr auf.

 

Dann kommt sie rein und fängt unvermittelt an, mit mir zu reden:

Sie wäre ja ein Mensch, dem selbst „wildfremde Menschen in der U-Bahn“ ihr Herz ausschütten würden, sie hätte das schon so oft erlebt, und den Menschen würde es danach auch immer viel besser gehen, wenn sie ihr alles erzählt hätten … und bla und blubb.

Anfangs verstehe ich überhaupt nicht, was diese Frau jetzt von mir will. Aber sie redet und redet, und das scheint ihr gut zu tun.

Dann dämmert es mir allmählich: Diese Frau will, dass ich ihr mein Leben erzähle. Und kurz darauf sagt sie diesen Satz:

„Du kannst mir alles erzählen.“

Es ist grotesk:

Ich habe keine Ahnung, was ich ihr erzählen soll. Da bislang ausschließlich sie geredet hat, haben wir nicht mal ein gemeinsames Gesprächsthema.

 

Schnitt

 

Auch in späteren Jahren habe ich es immer wieder erlebt, dass Menschen, mit denen ich praktisch nichts zu tun hatte, mir versicherten, dass ich ihnen alles erzählen könnte. In keinem Fall waren das Menschen, die für mich irgendwas ausstrahlten, was Vertrauen in mir ausgelöst hätte. Und immer war es so, dass sie mich penetrant nötigten, ihnen jetzt endlich zu erzählen, was mich bedrückte. (Völlig egal, ob mich gerade irgendwas bedrückte oder nicht).

 

Heute weiß ich, dass es sich bei diesen Menschen um Hilflose Helfer handelte. Hilflose Helfer sind Menschen, die sich vom Leid und von der Bedürftigkeit anderer ernähren. Sie suchen sich Opfer, denen sie „helfen“ können, um ihre eigene seelische Not und ihre eigene seelische Bedürftigkeit nicht spüren zu müssen. (Ich werde dazu noch einen gesonderten Text schreiben).

 

Damals habe ich diesen Menschen meistens nichts gesagt. Oft habe ich so lange geschwiegen, bis sie wieder weggegangen sind. Manchmal habe ich mich umgedreht und bin selber weggegangen.

 

Heute denke ich, dass ich solchen Menschen vielleicht zwei Dinge zu sagen hätte:

 

1

Du bist völlig ahnungslos. Du bringst dich in Gefahr. In mir sind Erinnerungen an Ereignisse, die derart schrecklich sind, dass es dich als ungeschulten Zuhörer sehr sicher traumatisiert, wenn ich nur davon erzähle. Was andere als Horrorfilm im Kino oder vor dem Bildschirm erleben, das habe ich in mir – jederzeit abrufbar. Und bitte – das, was in mir ist, das ist derart brutal, grausam, vernichtend, verstörend, bizarr, abstoßend und widerwärtig … Wenn ich dir davon im Detail erzähle, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass du  umgehend und langfristig Hilfe brauchst.

 

2

Neulich habe ich mit einem NT, der mir sehr viel bedeutet, ein kurzes Gespräch zum Thema Zuhören geführt. Thema war, dass ich bestimmte Dinge nicht angesprochen hatte, als ich beim Arzt gewesen war:

NT: „Aber du hättest dem Arzt das doch sagen können. Dem wäre bestimmt was eingefallen.“

Stiller (seufzend): „Weißt du, der war so beschäftigt, mir sein Herz auszuschütten … da blieb kaum noch Zeit für was anderes.“

NT: „Der Arzt hat dir erzählt?“

Stiller: „Ja - immer, wenn ich bei ihm bin, erzählt er mir von seiner Familie und wie es ihm geht und wie es seinen Kindern geht und so.“

NT (schweigt und macht ein fragendes Gesicht).

Stiller: „So ziemlich alle Ärzte machen das. Wenn ich bei denen bin, fangen die an, mir zu erzählen.“

NT (schüttelt schweigend und missbilligend den Kopf).

Stiller: „Ja, daraus könnte ich einen Werbespruch machen: „Stiller – der Autist, dem die Ärzte vertrauen.““

NT: „Ich wette, dieser Arzt kann auch zuhören.“

Stiller (eifrig): „Ja, sicher. Ganz bestimmt! Aber warum sollte er es riskieren?“

 

 

Auch mir kann man sicher nicht alles erzählen. Und ich bitte die Leute auch nicht darum, es zu tun. Aber es scheint an meinem Wesen zu liegen – wenn die NTs in meiner Gegenwart sind, dann reden sie … und ich höre ihnen zu.

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