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Was ihr wollt 01 – Harmonie vs Respekt

In der Reihe „Was ihr wollt“ will ich in loser Reihung aufzeigen, wo aus meiner Sicht

a)    die Hauptunterschiede in der Lebensführung zwischen NTs und mir liegen und

b)    die Ursachen für die Hauptmissverständnisse liegen, wenn NTs und ich einander begegnen.

 

Das ist nur meine Sicht der Dinge und nur meine Meinung.

Jeder darf eine andere haben.

In welchem Maße meine Sicht der Dinge auf andere AS zutrifft, weiß ich nicht.

 

Heute soll es um Beziehungen gehen. Präziser: Um

a)    das Fundament der Beziehung und

b)    die Ziele der Beziehung sowie um

c)    die verborgenen (nichtöffentlichen) Ziele der Beziehung,

wenn wir einen anderen Menschen in unser Leben einladen.

 

Ich habe den Eindruck, dass NTs und ich uns hier oft gründlich missverstehen. Nach meiner Erfahrung gehen die meisten Menschen am Beginn einer Beziehung davon aus, dass ihr Partner ähnliche Ziele mit der Beziehung verfolgt wie sie. Und sie gehen ungefragt davon aus, dass der andere das Fundament dieser Beziehung genauso versteht wie sie.

 

Aber nochmal:

Ich sehe die Dinge so. Wie viele andere AS die Dinge auch so sehen, weiß ich nicht.

 

Ich habe den Eindruck, dass den allermeisten NTs Harmonie in Beziehungen deutlich wichtiger ist als mir. Dabei scheint es einen sehr engen und starken Zusammenhang zwischen Harmonie und Gemeinsamkeit zu geben:

·         Man kocht und isst gemeinsam. (Vielleicht hat man vorher sogar gemeinsam eingekauft).

·         Man hat dieselben Interessen.

·         Man hat dieselben politischen Ansichten.

·         Man hat einen gemeinsamen Freundes- und Bekanntenkreis.

·         Man ist Teil der jeweils anderen Familie geworden.

·         Man verbringt die Freizeit miteinander.

·         Und so weiter

 

Gemeinsamkeit ist für die meisten NTs, die ich kenne, sowohl die Basis als auch das Ziel der Beziehung. Über allem steht aber die Harmonie. Eine Beziehung muss für die NTs, die ich kenne, harmonisch sein. Sonst ist sie nicht gut.

 

Schauen wir uns das mal in Zeitlupe an. Die meisten NTs erlebe ich so:

 

a)    Fundament der Beziehung: Gemeinsamkeit

b)    Ziel der Beziehung: Harmonie und Gemeinsamkeit

c)    Verborgene (nichtöffentliche Ziele) der Beziehung: (1) Nie wieder einsam und alleine sein müssen, (2) Nie wieder an dem rühren müssen, was in der Kindheit unharmonisch war. Es soll ab jetzt alles gut sein, und kein Blick zurück soll davon ablenken. (3) Die Beziehung soll sowieso alles retten – ab jetzt ist/wird alles gut. Unsere Liebe überwindet alles.

 

Daraus folgt beim Führen der Beziehung:

 

Dem Wunsch nach Harmonie wird so ziemlich alles untergeordnet.

Beide Partner sind sehr oft bereit, wirklich bedeutsame Kompromisse einzugehen und sehr starke Veränderungen in ihrem Leben hinzunehmen, damit irgendwie Harmonie hergestellt oder beibehalten werden kann. Das geht tatsächlich oft so weit, dass die Partner bereit sind, „sich zu ändern“, damit es der Beziehung gut tut.

 

Als Psychologe sage ich: Das geht nicht. Man kann sich nicht mal eben so ändern. Gesunde und nachhaltige Veränderung ist Wachstum bzw. Heilung. Wachstum und Heilung der Persönlichkeit brauchen Jahre. Ganz wichtig: Gesunde und nachhaltige Veränderung der Persönlichkeit wird nicht dadurch angestoßen, dass wir jemandem gefallen wollen oder eine Beziehung retten wollen. Völlig ausgeschlossen. Gesunde und nachhaltige Veränderung wird angestoßen durch innere Wachstumsimpulse oder durch Selbstheilungsimpulse. Wenn Menschen mir sagen, dass sie sich für ihren Partner geändert haben, meinen sie damit meistens, dass sie bestimmte Teile von sich nicht mehr leben und ein bestimmtes Verhalten nicht mehr zeigen. Sie haben sich nicht verändert, sondern ihr Maskenverhalten optimiert. Sie spielen sich und anderen etwas vor. An die Stelle von Veränderung tritt also Verstellung, Verkrüppelung und Verstummung im Dienst der Harmonie. So kann wirkliche Harmonie natürlich niemals hergestellt oder erhalten werden.

 

Einschub

Manchmal widersprechen mir NTs in diesem Punkt. Sie sagen, dass sie sich verändert haben – für ihren Partner. Sie führen dann oft Beweise an wie:

„Meiner Frau zuliebe habe ich mit dem Rauchen aufgehört.“

Das ist eine sehr gute Nachricht, finde ich. Mit dem Rauchen aufzuhören kann beinahe nie falsch sein. Was mich an dieser Stelle aber immer brennend interessiert ist:

„Der Suchtdruck, diese dunkle Energie, die dein Rauchen bislang angetrieben hat – was hast du damit gemacht? Auf welches Suchtverhalten bist du jetzt ausgewichen?“

Damit will ich nicht sagen, dass es unmöglich ist, mit dem Rauchen aufzuhören, ohne an die Stelle der alten Sucht eine neue zu setzen. Ich sage aber, dass jeder, der raucht, das aus einem guten Grund tut. Und dieser Grund ist in der Regel, dass eine schwere seelische Verletzung sich irgendwie bemerkbar machen will. Wenn man mit dem Rauchen aufhört, nimmt man dieser Verletzung die Möglichkeit zur Artikulation. Und da ist die Frage wichtig: Wenn du nicht geheilt bist – wie artikuliert sich deine seelische Verletzung jetzt? Das Rauchen war ja nicht die Krankheit, sondern nur das Symptom.

Einschub Ende

 

Nochmal, weil das so wichtig ist:

Man kann sich nicht ändern für seinen Partner. Wer das versucht, folgt einer Illusion. Ich zitiere hier mal einen, der weiß, wovon er spricht:

„One does not simply walk into Mordor! Its black gates are guarded by more than just orcs. There is evil there that does not sleep. The Great Eye is ever watchful.“

Du veränderst dich nicht für deinen Partner, sondern du verbiegst dich für ihn und unterdrückst Teile von dir. Das wird sich irgendwann bitter rächen. Letztendlich zeigen sich dann beide Partner nur ihr jeweiliges Maskenverhalten. Nachhaltige und gesunde Veränderung geht anders.

 

Wenn sich die Partner in der Partnerschaft verändern wollen, dann scheint es meistens so zu sein, dass die Frau den Part übernimmt, den anderen zu domestizieren und zu erziehen. Das Erscheinungsbild und das Sozialverhalten dieser beiden Spezies ist oft verblüffend unterschiedlich:

a)    Single-Männer

b)    Männer, die in einer festen Beziehung mit einer Frau sind

Ich formuliere es mal überspitzt:

a)    Der Single-Mann ist (1) wild, (2) frei, (3) männlich, (4) ungepflegt, und (5) er macht, was er will.

b)    Der Mann in einer festen Beziehung mit einer Frau ist (1) gezähmt und (2) brav. Er ist (3) ein Weichei und (4) gepflegt, und (5) er macht nur noch das, was seine Frau ihm nicht verbietet.

 

Dem Beziehungsziel Harmonie wird also sehr viel geopfert. Daraus schließe ich, dass dieses Ziel den NTs ganz, ganz wichtig ist.

Und nochmal:

Natürlich lässt sich auf diesem Wege echte Harmonie nicht erreichen. Auf gar keinen Fall. So kann man nur Maskenverhalten züchten und kultivieren.

 

Aus dieser Harmoniesucht resultieren zahlreiche Verhaltensweisen in Beziehungen, die mir an NTs sehr häufig auffallen. Ich will mal die wichtigsten nennen:

 

1

Dinge, die in der Beziehung unharmonisch zu sein scheinen, werden geflissentlich übersehen, ausgeblendet und totgeschwiegen, so lange es geht. Speziell die Gefühle, die nicht zum Ideal der Partnerschaft zu passen scheinen, werden zensiert und verdrängt.

 

Wenn aber der Druck, der durch diese Verleugnung entsteht, zu groß wird, lässt sich das Unharmonische nicht mehr übersehen. Dann werden diese unharmonischen Gefühle aber nicht etwa auf erwachsener Ebene diskutiert, sondern in (gefühlt) endlosen Vorwürfen (auch Selbstvorwürfen) und Nörgeleien fruchtlos im Kreis herumgereicht. Die Partner machen einander für ihre „schlechten“ Gefühle verantwortlich. Dabei wird nicht versucht, das Problem zu lösen, sondern die Schuldfrage zu klären. Da das logischerweise nicht zu einer Lösung führen kann, wird in einem schleichenden Prozess die Disharmonie zum Zentrum der Beziehung. 

 

2

NTs tun Dinge, die sie gerne tun würden, deshalb nicht, weil der Partner nicht mitmacht. Sie wollen gerne spazieren gehen oder ins Kino. Aber der Partner hat keine Lust. Also lassen sie’s sein. Sie wollen essen gehen oder ins Schwimmbad. Aber der Partner will nicht. Also lassen sie’s. Und so weiter. Damit beschneiden sich beide sehr stark in ihren Möglichkeiten, ein schönes und erfülltes Leben zu führen.

 

 

 

Zwischenfazit

Sehr vielen NTs ist Harmonie in Beziehungen geradezu lebenswichtig. Harmonie ist für sie das alles überragende Ziel einer Beziehung. Diese Harmonie erreichen sie über Gemeinsamkeit. Sie investieren sehr viel Zeit, Energie und Gedanken, um diese Harmonie herzustellen und zu erhalten. Dabei gehen sie sehr weitgehende Kompromisse ein. Männer lassen sich von ihren Frauen domestizieren. Frauen gehen in einer Beziehung geradezu auf (wie Zucker im Kaffee). Sie lesen ihren Männern die Wünsche von den Augen ab und vergessen mit der Zeit, wer sie eigentlich sind und was sie eigentlich wollen.

Letztlich wird hier also keine Harmonie erreicht, sondern die Fassade der Harmonie errichtet, die allen Beteiligten intensives und kräftezehrendes Maskenverhalten abverlangt.

 

 

So.

Und jetzt schaue ich mich an.

In der Beziehung mit einer Frau bin ich fast völlig kompromisslos. Gemeinsamkeit und Harmonie bedeuten mir beinahe nichts. Was sind denn bei mir Fundament und Ziel einer Beziehung?

 

a)  Fundament der Beziehung: Respekt, Ehrfurcht, Demut vor der Persönlichkeit des anderen. Wirkliches Interesse an sich und am anderen. Gemeinsame Wachstumsziele.

b)    Ziel der Beziehung: Echte Begegnung. Miteinander und aneinander wachsen und gemeinsam lebendiger werden.

c)    Verborgene Ziele der Beziehung: (1) Irgendwie heile werden, ohne dass es weh tut. (2) Hausarbeit abwälzen.

 

Das kann Harmonie beinhalten, muss aber nicht.

 

Schauen wir uns auch das in Zeitlupe an:

 

Wenn ich meine Partnerin als von mir getrennte Persönlichkeit ernst nehme und respektiere, dann ist es ganz wichtig, dass ich mich permanent hinterfrage: Sehe ich jetzt tatsächlich meine Partnerin oder sehe ich bloß das Bild, das ich mir von ihr gemacht habe? Sehe ich sie als den Menschen, der sie ist oder sehe ich sie als das Wesen, das meine Bedürfnisse (gefälligst und allesamt) zu befriedigen hat?

 

Das liest sich hier relativ einfach. Nach meiner Erfahrung gehört sowas in Beziehungen jedoch zum Schwierigsten überhaupt. Beziehung bedeutet für mich also vor allem: Permanente Arbeit an mir selber. Permanentes Hinterfragen, in welchem Maße ich in dieser Beziehung real bin. Und ich bitte jede Frau, die mit mir in einer Beziehung ist oder war, um Verzeihung: Diese intensive und permanente Arbeit an mir selber lässt keinerlei Raum mehr dafür, dass ich mich in der Beziehung auch noch um Harmonie oder Gemeinsamkeit kümmern könnte. Harmonie und Gemeinsamkeit, die ergeben sich oder sie ergeben sich nicht. Ich nehm’s wie’s kommt.

Beziehung mit mir kann sehr anstrengend sein.

 

 

Was die Gemeinsamkeit betrifft:

Wenn ich etwas unternehmen will – Spazieren gehen, essen gehen etc. - und die Frau will nicht mit, dann mache ich das alleine. Auf jeden Fall. Gemeinsam wäre es sicher schöner, keine Frage. Aber ich werde doch nicht unterlassen, das zu tun, was mir gefällt und gut tut, nur weil der andere nicht mitmacht. Das käme mir nicht mal in den Sinn. Gemeinsamkeit ist schön aber verzichtbar.

 

Was die Harmonie betrifft:

Ich werde mich nicht verbiegen, bloß damit eine bemühte Harmonie entsteht. Harmonie ist schön, aber nicht wichtig. Ich will Respekt.

Wenn eine Beziehung harmonisch ist, finde ich das meistens sehr schön und angenehm.

Wenn eine Beziehung unharmonisch ist, dann finde ich das meistens unangenehm, aber das ist dann eben so.

 

Vielleicht ist das noch wichtig:

Ich bin innerlich weitgehend unabhängig davon, ob andere mich mögen oder nicht. Du kannst in einer Beziehung mit mir grollen und schmollen und sauer sein und dich beleidigt fühlen. Du darfst mich hassen, verurteilen, verdammen … was du willst. Du wirst gute Gründe haben, wenn du das tust, und vermutlich hast du aus deiner Sicht vollkommen recht. Aber was hat das mit mir zu tun?

Wie du dich fühlst, dafür bist alleine du verantwortlich.

Wie ich mich fühle, dafür bin alleine ich verantwortlich.

 

 

Ok.

Soweit zu meiner Sicht von Harmonie und Gemeinsamkeit in Beziehungen.

Kommen wir zum Respekt.

Gegenseitiger Respekt in Beziehungen ist mir extrem wichtig.

So wichtig, wie den NTs Harmonie und Gemeinsamkeit.

 

 

Respekt bedeutet dabei nicht, dass wir uns die ganze Zeit siezen und formvollendete Umgangsformen an den Tag legen. Respekt bedeutet, dass wir den anderen als einen von uns getrennten Menschen wahrnehmen, mit ganz eigenen Wünschen, Ängsten, Bedürfnissen, Sehnsüchten … und so weiter.

 

Das Gegenteil von Respekt ist für mich: Den anderen nicht als eigenständigen Menschen sehen, der ganz eigene Rechte, Ziele, Wünsche, Bedürfnisse und Vorlieben hat. Respektlos ist: Den anderen unabgesprochen und ungefragt nutzen, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.

Wenn du mich ungefragt nicht mehr als Menschen siehst, sondern als deinen Bedürfnisbefriediger instrumentalisierst, dann ist das das Gegenteil von Respekt.

 

In Zeitlupe:

Respekt – ich sehe den anderen als von mir getrennten Menschen.

Kein Respekt – ich sehe den anderen als Teil von mir oder als meinen beweglichen Besitz. Ich sehe ihn als Werkzeug, Mittel, Seelenmülleimer, Meckerobjekt, Ressource etc.

 

Respekt mir gegenüber in einer Beziehung bedeutet also auch und vor allem:

Du respektierst, dass ich Autist bin. Du tust das jederzeit. Mit allem, was dazu gehört. Du wirst also z.B. diese Dinge in der Beziehung nicht tun

·         dich beklagen, dass ich Autist bin

·         mir Vorwürfe machen, dass ich mich autistisch verhalte

·         versuchen, mir neurotypische Verhaltensweisen anzutrainieren

·         im Stillen hoffen, dass deine Liebe mich irgendwann zu einem NT machen wird

·         dein Leben und diese Beziehung so einrichten, dass es dir nur dann dauerhaft gut gehen kann, wenn ich ein NT bin und mich

wie ein NT verhalte

·         an mir rumerziehen und rumnörgeln, damit ich besser zu dem Bild passe, dass du dir von mir gemacht hast.

Ich kann mich gut erinnern, dass eine stark feministisch engagierte Kollegin mir mal im Gespräch entgegenschleuderte, wie ich mich gerade verhalten hätte, das sei „typisch Mann“ gewesen. Sie schien wirklich aufgebracht zu sein.

Ich sagte ihr:

„Ich bin ein Mann. Ist es Ihnen lieber, wenn ich mich „typisch Frau“ verhalte?“

 

Gehe also mal davon aus, dass ich mich in unserer Beziehung „typisch Mann“, „typisch Autist“ etc. verhalten werde. Denn das ist meine Art, in der Welt zu sein. Ich bin ein Mann. Ich bin ein Autist. Wenn dir meine Art, in der Welt zu sein, nicht gefällt, dann kann ich das gut akzeptieren. Aber dann suche dir einen anderen. Die Welt ist voller Männer – viele Milliarden. Da wirst du schon was passendes für dich finden.

 

Wirf mir also nicht vor, dass ich der bin, der ich bin und nicht der, den du brauchst. Ich kann nichts dafür, dass du zu bequem bist (oder zu wenig Mut hast), dir den passenden Mann zu suchen.

 

 

Zusammenfassung

Ich brauche keine Harmonie in einer Beziehung. Oder präziser: Ich brauche verglichen mit NTs nur sehr wenig Harmonie in einer Beziehung. Partnerlook der Seele ist nichts für mich. Einstudiertes Maskenverhalten um einer Pseudoharmonie willen auch nicht. Aber ich brauche in einer Beziehung immer das gegenseitige Bewusstsein für die Einzigartigkeit, den Wert und die Würde des anderen.

 

Wenn ich merke, dass du mich dauerhaft nicht mehr als Menschen siehst, sondern als deinen Bedürfnisbefriediger, deinen Seelenmülleimer, deinen Rettungsring, dein Mecker- oder dein Erziehungsobjekt oder irgendwas in dieser Richtung …

 

… dann trennen sich unsere Wege sehr, sehr schnell.

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