Das ist eine Frage, die mich umtreibt, seit ich denken kann. Die Frage, wie das geht, durchzieht mein ganzes Leben.
Als ich drei oder vier Jahre alt war, begann ich meine leibliche Mutter zu löchern:
Wie näht man einen Knopf an?
Wie geht Häkeln?
Wie näht man?
Wie wird Wäsche gewaschen?
Und so weiter.
Ich wollte das alles selber können.
Ich löcherte meinen leiblichen Vater. Der hatte sich in unserer kleinen Wohnung eine kleine Werkstatt eingerichtet:
Wie haut man einen Nagel ins Holz?
Wie sägt man mit der Handsäge etwas durch?
Wie schraubt man eine Schraube ein?
Wie funktionieren diese ganzen Werkzeuge – Bohrmaschine, Schwingschleifer, Stichsäge …
Und so weiter.
Ich wollte das alles selber können.
Das führte dazu, dass ich viele dieser Dinge konnte, bevor ich in die Schule kam. Natürlich konnte ich keine Kleidung nähen oder ein Haus bauen. Aber in dem Rahmen, wie das ein kleiner Junge können kann, konnte ich das alles.
Aber ich wollte auch von allem anderen wissen, wie das geht.
Und so konnte ich lesen, schreiben und rechnen, noch bevor ich in die Schule kam. Als ich dann in die Schule kam, langweilte ich mich dort fürchterlich. Ich war sehr neugierig und wollte unbedingt lernen. In der Schule versuchten sie, mir das mit aller Gewalt auszutreiben. Sie haben sehr viel Energie und Einfallsreichtum dort hinein investiert: Ich sollte nicht neugierig sein, sondern gehorsam. Ich sollte nicht verstehen, sondern irgendwas auswendig lernen. Das Motto beinahe jeder Schulerfahrung, die ich bislang gemacht habe, ist: „Stumpf ist Trumpf!“. Sie wollten mir meine Neugierde und mein Verstehenwollen austreiben. Es ist ihnen nicht gelungen. Es ist einer meiner stärksten Antriebe: Ich will wissen, wie das geht. Vermutlich muss man mich töten, um mich davon abzuhalten, verstehen zu wollen.
Als ich in die zweite Klasse kam, wurden auf einmal für die Mädchen Handarbeitskurse angeboten. Die Jungen wurden am Mittwoch eine Stunde früher nach Hause geschickt (und mussten dafür ein wenig mehr Hausaufgaben machen als die Mädchen). Die Mädchen mussten noch eine Stunde länger bleiben und irgendeine Frau brachte ihnen dann Sticken und andere Handarbeiten bei.
Ich hatte noch nie gestickt. Ich wollte das unbedingt können.
Und ich war sowas von neidisch auf die Mädchen!
Obwohl ich die Schüchternheit selber war, ging ich zu meiner Klassenlehrerin und fragte sie, ob ich nicht auch an diesem Kurs teilnehmen könnte. Sie war total erstaunt: Ein Junge, der Handarbeiten können wollte?! Das kam in ihrem Weltbild einfach nicht vor. Sie erzählte mir, dass ich dann aber an diesem Tag eine Stunde länger in der Schule bleiben müsste. Ein ganzes Schuljahr lang. War mir egal. Ich wollte Sticken lernen. Sie erzählte mir lang und breit, dass das nur für Mädchen sei, und dass ich der einzige Junge dort sein würde, und dass ich mich dort mit Sicherheit nicht wohlfühlen würde. War mir egal. Ich wollte Sticken lernen. Sie sagte …… War mir egal! Ich wollte Sticken lernen.
Das Ergebnis war, dass ich teilnehmen durfte. Ich ließ mich von meiner leiblichen Mutter mit dem notwendigen Material ausstatten und ging da hin. Und war selig. Ich durfte da die ganze Stunde völlig friedlich vor mich hinsticken und alle ließen mich in Ruhe. Die Handarbeitslehrerin erklärte mir kurz, was ich zu tun hatte, und ich machte das dann. Völlig friedlich, völlig ruhig: Stick, stick, stick. Ich ging völlig darin auf. Es war wie Knöpfe annähen oder Taschentücher bügeln, nur schöner. Stick, stick, stick.
Nach zwei Stunden hatte ich mein erstes gesticktes Lesezeichen fertig. Ich war total stolz auf mich und meine Arbeit. Das sah richtig gut aus!
Und so stickte ich vor mich hin. Woche für Woche, Monat für Monat. In dieser Schule war ich der einzige Junge in diesem Kurs. Gefühlt war ich sogar der einzige Junge in der ganzen Stadt in einem Handarbeitskurs. Ich war mal wieder der Sonderling. An der Schule sprach sich schnell rum, dass ich mal wieder sehr merkwürdig war. In der Schülerschar genauso wie bei den Lehrern. Ich wurde angesprochen, ich wurde beäugt, die Lehrer steckten die Köpfe zusammen, wenn sie mich sahen. Das war mir gar nicht recht. Aber dass ich Sticken lernte, war mich wichtiger. Und so stickte ich da vor mich hin. Woche für Woche, Monat für Monat.
Später im Leben weitete ich das dann aus. Ich kann mich noch erinnern, wie ich in der Oberstufe beäugt wurde, als ich den Kursen, die ich eher langweilig fand, mein Strickzeug mitbrachte, damit es für mich was vernünftiges zu tun gab. Ich strickte Pullis für mich selber und hatte mir recht elaborierte Muster aufgezeichnet, die ich in den Pullis verwirklicht sehen wollte. Für mich als Stricklaien war das eine ziemliche Herausforderung. Aber ich wollte wissen, wie das geht. Also machte ich mich an die Arbeit. Meine leibliche Mutter hatte so ein dickes Buch über das Stricken im Regal, und aus diesem Buch machte ich mich regelmäßig schlau. Beim Abketten ließ ich mir von ihr helfen. Dafür war ich dauerhaft zu ungeschickt.
Natürlich interessiert mich auch im intellektuellen Bereich, wie die Dinge funktionieren. Ich habe mir Teile der höheren Mathematik beigebracht, um Fragestellungen aus der theoretischen Physik beantworten zu können, die mich brennend interessierten. Ich habe mich in die Tiefen der Chemie eingelesen, um Zusammenhänge chemischer Natur verstehen zu können. Vergleichbares gilt für so unterschiedliche Bereiche wie Musiktheorie, Geologie, Geschichte, Meteorologie, Volkswirtschaftslehre, Astronomie oder Logik. Das Vorgehen war (beinahe) immer dasselbe:
In einem ersten Schritt ging ich in Buchhandlung oder Bibliothek und holte mir ein dickes Buch auf Universitätsniveau mit dem Titel „Einführung in …“ Das arbeitete ich durch. Danach holte ich mir die Bücher, die die Spezialfragen dieser Disziplin behandelten, die mich besonders interessierten.
Auf all diesen Gebieten bin ich immer ein interessierter Laie geblieben. Ich kann mich da in keiner Weise mit irgendwelchen Experten messen. Aber es interessierte mich, also habe ich mich in die Thematik vertieft.
Aber es sind auch all die praktischen Dinge, die mich interessieren. Ein Beispiel: Als ich noch freiberuflicher Trainer war, gehörte zu meinen Hauptaufgaben, Umschülern die Grundlagen des Arbeitsrechts nahezubringen. Dabei stellte ich zufällig fest, dass in einem anderen Raum des Gebäudes eine Werkstatt eingerichtet war, in dem den Menschen die Grundlagen der Metallbearbeitung nahegebracht wurde. – Das war was für meine Kleinen! Sofort nahm ich Kontakt mit dem dortigen Dozenten auf und ließ mich in die Grundlagen des Gewindeschneidens einweisen. Innengewinde, Außengewinde – herrlich! Sobald wir die Zeit dazu finden, wollen wir das unbedingt vertiefter lernen. Ans Schweißen oder ans Löten haben wir uns damals noch nicht rangetraut, aber irgendwann machen wir das.
Es gibt sooooo viele Dinge, die wir noch lernen wollen.
Wir wollen wissen, wie das geht.
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