*** Vorsicht, bitte. Wie die Überschrift schon vermuten lässt, enthält auch dieser Text einiges an Triggerpotenzial. ***
In dem Konzern, in dem ich arbeite, habe ich unter anderem die Aufgabe, Menschen zuzuhören, die sehr belastende Themen haben. Ich bin dafür nicht ausgebildet. Es steht auch nicht in meiner Stellenbeschreibung, dass ich das zu tun habe. Und helfen kann ich diesen Menschen auch nicht. Aber ich kenne niemand anderen im Konzern, der für diese Aufgabe in Frage kommt. Also kommen die Menschen zu mir. Sie erzählen mir, und ich höre zu. Und wenn mir was dazu einfällt, dann sage ich das. Oft genug fällt mir nichts ein. Dann höre ich nur zu.
Warum die Menschen mit solchen Themen ausgerechnet zu mir kommen, ist mir meistens nicht klar. Wenn ich NTs, dabei beobachte, wie sie sich verhalten, wenn ihnen ein anderer von wirklich schlimmen Themen erzählt, dann fällt mir jedes Mal auf, wie sehr sich ihr Verhalten von meinem unterscheidet:
1
Überbordendes Mitgefühl
Das kannst du bei mir vergessen. Bei mir gibt es kein „Ach, du Armer!“, kein „Nein, wie entsetzlich!“ und kein „Lass dich mal drücken.“
2
Fassungslosigkeit, Schockverhalten
Ob die NTs diese Fassungslosigkeit nur spielen oder ob sie tatsächlich auf der Insel der Seligen groß geworden sind, kann ich oft nicht entscheiden. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass mir mal jemand von Seelenfinsternissen erzählte, die ich nicht kannte. Und auch mein Moralempfinden ist jetzt nicht so ausgeprägt, dass ich vor irgendwelchen Themen zurückscheuen würde.
3
Ratschläge
Keine Chance. Ich bin nicht der nette Briefkastenonkel von nebenan. Ich habe keine Ratschläge, und ich gebe keine - jedenfalls keine sozialen. Falls ich es für angebracht halte, dann gebe ich Hinweise, wie bestimmte Dinge technisch zu handhaben sind. Wenn jemand gemobbt wird z.B., dann ist es sehr sinnvoll, dass er beginnt, das zu protokollieren. Oder wenn sich jemand gravierend strafbar gemacht hat, dann ist es meistens sinnvoll, dass er sich einen Anwalt nimmt und die zuständigen Behörden einschaltet. Aber ich sage den Menschen nicht, was sie zu fühlen oder zu denken haben.
4
Vorwürfe
Das ist auch etwas, was NTs in solchen Situationen sehr gerne produzieren. In meinem Verhaltensrepertoire kommt das einfach nicht vor. Kein
„Ja, warum hast du denn nicht besser aufgepasst?“, kein
„Das hätt‘ ich dir auch vorher sagen können!“, kein
„Wie kann man nur so dumm sein?!“, kein
„Ja, was musstest du auch damit anfangen?!“, kein
„Ich hab’s dir ja gesagt (aber du hast ja nicht hören wollen)!“
Und so weiter.
Das ist so derart an der Realität vorbei, dass es mir nicht mal in den Sinn kommt.
Wer mit wirklich schwerwiegenden Themen zu mir kommt, der ist bereits belastet genug. Der braucht nicht auch noch meine Vorwürfe. Das gilt ganz besonders für die Menschen, die sich sowieso schon schuldig fühlen.
5
Betütteln und beschwichtigen
Kann ich nicht. Ich weiß zwar, wie das gehen würde (ich hab’s ja oft genug beobachtet), aber auch das kommt in meinem Verhaltensrepertoire einfach nicht vor:
„Kopf hoch, das wird schon wieder.“
„Nun setz‘ dich erst mal und trink‘ was.“
„Das geht vorbei, du wirst schon sehen.“
„Alles halb so wild, anderen geht’s viel schlimmer als dir.“
„Du wirst sehen – in zwei Monaten lachst du drüber.“
Und so weiter.
Ich renn‘ den Leuten auch nicht hinterher und biete mich feil: „Komm‘, du kannst mir alles erzählen …“
Eher im Gegenteil: Ich habe keine Sprechstunden. Ich bin nur sehr schwer zu erreichen. Das ist im Konzern allgemein bekannt. Mein Handy ist beinahe immer stumm geschaltet und leitet dann alle Anrufe direkt auf den Anrufbeantworter, (den ich abhöre, wenn mir mal danach ist). Und auch in meine Mails schaue ich nicht allzu oft rein. Ich bin ein sehr introvertierter Mensch, der sich ziemlich abschottet. Die Kollegen erzählen sich Witze darüber.
Wer also mit mir sprechen will, der muss die eine oder andere Hürde überwinden. Und wenn er mir dann erzählt, kann ich nur garantieren, dass ich mir das anhören werde, sonst nichts.
Und trotzdem kommen die Menschen zu mir (und augenscheinlich zu keinem anderen. – Ich habe zigmal bei den zuständigen Stellen eingefordert, dass wir einen Mobbingbeauftragten bekommen. Der Konzern hat für alles mögliche Geld, dafür aber nicht. Und als ich vor Jahren ein wirklich hochrangiges Betriebsratsmitglied anrief, entwickelte sich dieser Dialog:
Stiller: „Ich habe unter den Kollegen erneut einen Amokläufer identifiziert. Wer ist jetzt der Beauftragte im Konzern, an den ich mich in dieser Sache wenden kann?“
Betriebsrat (schweigt einen Moment, dann): „Sie sind das, Herr Stiller.“
Stiller (ziemlich wütend): „Ich bin hier im Konzern Vertriebstrainer und sonst gar nichts!“
Einschub
Immer wieder bekommen Kollegen und Vorgesetzte mit, womit ich mich im Konzern neben meiner eigentlichen Arbeit auch noch beschäftige. Durchweg äußern sie Unverständnis. Sie würden sowas nicht tun. Ich solle das lassen – ich könne doch nicht die ganze Welt retten. Sie könnten das nicht und würden sich sowas niemals antun. Und immer wieder fragen sie mich:
„Warum tust du das eigentlich, Stiller?“
Ich antworte ihnen immer dasselbe:
„Willst du in einer Welt leben, in der Menschen, die solche Anliegen haben, niemanden finden, mit dem sie darüber reden können?“
Einschub Ende
Sie kommen also zu mir, die Menschen, und die Gespräche beginnen immer auf die gleiche Weise:
„Stiller, können wir mal reden?“
Manchmal wirkt das auf mich so, als hätten sich die Anrufer untereinander abgesprochen. Sie sagen tatsächlich fast alle dasselbe am Anfang des Gespräches:
„Stiller, können wir mal reden?“
An der Färbung ihrer Stimme höre ich dann meistens schon, worum es geht.
Und wenn ich die Zeit habe, dann können wir mal reden. Oder präziser: Sie erzählen, und ich höre zu. Wenn ich nicht verstanden habe, stelle ich Fragen. Und da ich gelernt habe, dass NTs das brauchen, gebe ich zwischendurch manchmal Rückmeldung:
„Ok, ich glaube, das habe ich verstanden.“
„Ja, das hört sich wirklich schwerwiegend an.“
Und so weiter.
Das, was sie von anderen NTs bekommen können, das können sie bei mir nicht bekommen (siehe oben). Darüber hinaus lege ich in solchen Gesprächen keinerlei Wert auf die „Wohlfühlathmosphäre“, die den NTs immer so wichtig ist, wenn sie miteinander reden. Ich bin sehr direkt, komme sofort auf den Punkt und nenne die Dinge beim Namen. Ich beschönige nichts.
Was ich vergleichsweise gut kann, ist Ordnung in verwahrloste und verwilderte Gefühle und Gedanken bringen. Aber das ist auch schon alles. Und trotzdem – die Rückmeldungen, die ich zu meinen Gesprächen bekomme, sind geradezu hymnisch. Keine Ahnung, was da vorgeht. Ich bin wirklich nicht gut in dem, was ich da tue. Aber anscheinend sind die anderen, die vielleicht auch für so eine Arbeit in Frage kämen, deutlich schlechter.
In meinem Berufsleben scheint es saisonale Häufungen zu geben, was die Themen betrifft, die an mich herangetragen werden. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. 2018 zählte ich 13 Mobbing-Fälle. Im Jahr darauf keinen. 2019 war anscheinend das Jahr des sexuellen Missbrauchs. Das war bislang in 2020 (ich schreibe diesen Text Mitte Juni) noch überhaupt nicht Thema. Dafür ist jetzt was ganz neues: Bei mir rufen jetzt Menschen an, die ihr Todesurteil bekommen haben oder stündlich darauf warten. Das hatte ich den Jahren davor noch nie, und jetzt ist es bereits das vierte Mal in diesem Jahr.
Todesurteil?
Im Artikel 102 des Grundgesetzes lesen wir klar und schlicht: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ Ich halte das für eine sehr gute Sache. Ich finde überhaupt unsere Verfassung ziemlich gelungen.
Und dennoch:
Todesurteile gibt es auch heute noch. Jeden Tag. Aber sie werden nicht mehr von Richtern in dunklen Roben verkündet, sondern von Ärzten in weißen Kitteln.
Dass wir alle mal sterben müssen, ist ein Allgemeinplatz. Grundsätzlich weiß das jeder. Aber nach meiner Beobachtung sind sich die wenigsten erwachsenen Menschen dieser Tatsache wirklich bewusst. Die wenigsten sind abschiedsbereit. Den wenigsten ist klar, dass sie nur auf der Durchreise sind. Da meine Vergangenheit so ist, wie sie eben war (regelmäßige Leser meines Blogs wissen das eine oder andere davon), ist der Tod mein ständiger Begleiter. Einem englischsprachigen NT, der mir sehr viel bedeutete, schrieb ich in diesem Zusammenhang: „Death is my silent twin brother.“ Nicht jeden Tag sitzt der Tod bei mir am Tisch, nicht jeden Tag ist er mir gegenwärtig. Aber an beinahe jedem Tag. Das ist für mich völlig normal, ich kenne es nicht anders. Ein Psychotherapeut, dem ich sehr viel verdanke, sagte mir mehrfach, ich würde ihn an jemanden erinnern, der in einer Sekte groß geworden ist, die ihre Mitglieder in Särgen schlafen lässt.
Es geht nicht um Todessehnsucht. Ich will steinalt werden. Aber vermutlich weiß jemand, der dem Tod so oft und so früh begegnet ist wie ich, besser worum es geht als jemand, der im Frieden groß geworden ist. Ich kann morgen schon tot sein. Das weiß ich nicht abstrakt oder irgendwie so, so wie ich abstrakt und ohne innere Beteiligung weiß, dass es irgendwo da draußen den Planeten Jupiter gibt. Sondern ich weiß (beinahe) jeden Tag, dass dieser Tag mein letzter sein kann, so wie ich weiß, dass ich Hände habe.
Und die Gespräche mit den NTs, die ihr Todesurteil bekommen haben oder darauf warten, machen mir deutlich, dass es bei den meisten erwachsenen Menschen anders ist.
„Stiller, können wir mal reden? Ich komme gerade vom Arzt. Es hat sich nun doch bestätigt …“
Diese Menschen sind fertig. Sie sind innerlich aschfahl. Sie sind wie Leute, die in einem Aufzug in einem Wolkenkratzer bis nach ganz oben fahren – viele hunderte Stockwerke hoch. Plötzlich aber saust der Aufzug ungebremst in die Tiefe – hunderte Stockwerke. Und der Aufprall ist absehbar. Er kommt. Da rettet keine Kavallerie und auch der Eintritt eines Wunders ist sehr unwahrscheinlich. Anhalten und aussteigen kann man auch nicht. Der Aufprall kommt, und dann ist alles vorbei. Der Aufprall kommt nicht gleich in den nächsten Minuten, aber er kommt. Unabwendbar. Und er ist schon sehr, sehr nahe.
Ich habe keine Ahnung, was ich solchen Menschen sagen könnte außer:
„Ist halt so, finde dich damit ab. Konzentriere dich auf die Tage und die Stunden, die dir noch bleiben.“
Also sage ich nichts. Ich höre nur zu.
Ich stelle Fragen, falls ich nicht richtig verstanden habe. Und falls ich den Eindruck habe, dass das helfen würde, dann entwirre ich das Gestrüpp an verwilderten und verwahrlosten Gedanken und Gefühlen, das sich jetzt beim anderen bildet.
Ja, du wirst sterben. Ist halt so. Hast du gedacht, bei dir machen sie eine Ausnahme?
Ja, du fühlst dich sehr schlecht damit. Kann ich absolut nachvollziehen.
Und immer wieder höre ich bei denen, die den Eindruck haben, weit vor ihrer Zeit sterben zu müssen, diese Frage:
„Warum gerade ich?!“
Spontan fällt mir dazu immer ein:
„Warum eigentlich nicht?“
Aber ich sage das nicht. Ich habe nicht den Eindruck, es würde verstanden werden.
Ich will für die, die es interessiert, hier meine Gedanken zu dieser Frage aufschreiben:
Dem Universum, in dem wir leben, sind wir absolut gleichgültig. Nach heutigem Kenntnisstand gibt es in unserem Universum etwa 100 Milliarden Galaxien. Eine Galaxie ist ein Sternenhaufen wie unsere Milchstraße. In unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße gibt es nach heutigem Kenntnisstand ungefähr 100 Milliarden Sonnen. Wenn wir daraus hochrechnen wie viele Sonnen und Planeten es im uns bekannten All gibt, dann haben wir eine ungefähre Vorstellung davon, was wir selber sind – verglichen mit all dem, was uns umgibt.
Als meine ältere Tochter vier Jahre alt war, saß sie an einem Sonnentag zusammen mit mir auf dem Rasen vor unserem Haus. Sie wollte von mir die Welt erklärt haben. Sie fragte mich, wie viele Sterne es gibt. Ich antwortete ihr:
„Mehr als Grashalme auf dieser Wiese stehen.“
Sie machte ganz große und runde Augen und sagte nur:
„Oooh!“
Dann sagte sie eine Weile nichts.
Dann flüsterte sie:
„Das sind aber viele!“
In Wirklichkeit gibt es deutlich mehr Sterne als Grashalme auf der gesamten Erde. Aber das sagte ich ihr nicht. Sie war ein kleines Kind mit erwachendem Verstand. Für sie sollte diese Wiese vorerst genügen.
Einschub
Für die unter meinen Lesern, die das interessiert:
Wenn die Grashalme sehr dicht stehen – wie zum Beispiel auf einem gepflegten Rasen –, dann gibt es dort ca. 50.000 Halme pro Quadratmeter. (In freier Natur dürften es halb so viele sein). Wenn 50.000 Halme pro Quadratmeter stehen, dann sind es pro Quadratkilometer eine Million mal so viele – 50.000.000.000 … also 50 Milliarden. Das mag sich nach viel anhören. Aber das Universum kontert mit 10 hoch 20 Sonnen. 10 hoch 20 - das ist ein 10 mit 20 Nullen dahinter. (Achtung, das ist eine sehr konservative Schätzung. Es ist gut möglich, dass es zehnmal mehr Sonnen gibt). Da müssen sich unsere Grashalme aber tüchtig ranhalten. Selbst bei dichtestem Bewuchs braucht man 2 Milliarden (2.000.000.000) Quadratkilometer Rasen für so viele Halme. Zum Vergleich: Die USA sind ca.10 Millionen Quadratkilometer groß.
Also: 200 Mal die USA – komplett mit gepflegtem Rasen bewachsen, auch Alaska und Arizona! – Da könnten die Präsidenten dieser Welt aber jede Menge Golf spielen!
Insgesamt bietet die Erde allerdings nur ca. 150.000.000 (150 Millionen) Quadratkilometer Landfläche (inklusive Sahara, Antarktis und Wüste Gobi – versteht sich).
Also - 13 Erden, komplett und überall mit dichtem und gepflegtem Rasen bewachsen (auch in den Wüsten- und Polarregionen) – und schon haben wir ungefähr so viele Grashalme wie Sterne.
Nochmal zur Verbildlichung: Überall, wo Sie sind, gehen Sie auf gepflegtem Rasen – in Ihrer Garage, an der Bushaltestelle, im Einkaufszentrum, am Strand von Norderney und in der Salzwüste von Utah. Überall. Überall auf der Erde gepflegter und dichter Rasen. Und wenn Sie das mal 13 nehmen – dann steht jeder Grashalm für eine Sonne im Universum.
Und nochmal: Das ist eine sehr, sehr konservative Schätzung. Gut möglich, dass es zehnmal so viele Sonnen gibt. Oder noch mehr. … 130 Erden, die mit dichtem Rasen bewachsen sind.
Und wenn wir jetzt davonausgehen, dass jede zweite Sonne ein ausgewachsenes Planetensystem an sich gebunden hat … aber das ist eine Berechnung, die ich an dieser Stelle den Enthusiasten und Puristen überlasse.
Einschub Ende
Also …
Egal, was wir uns als Größenvergleich auch ausdenken – das Universum scheint immer ein bisschen größer zu sein. Verglichen damit sind wir ziemlich klein und unbedeutend.
Das Universum interessiert sich nicht für uns.
Wichtig und bedeutsam sind wir für uns selber (hoffe ich) und für ein paar andere, die uns lieben (hoffe ich auch - für jeden). Aber dann wird es auch schon ziemlich dunkel. Und das Geschick, das uns leitet, ist beherrscht vom Zufall. Ja, sicher, es gibt die Naturgesetze, denen alles gehorcht und die Logik, die alles durchdringt. Aber wer sich intensiv mit Quantenmechanik beschäftigt, der bekommt richtig Respekt davor, in welchem Maße der Zufall alles bestimmt. Menschen, denen das alles nicht gefällt, können sich einen Gott ausdenken oder an irgendeine höhere Fügung oder sowas glauben. Das bleibt ihnen unbenommen. Aber nach allem, was ich sehen kann, ändert das nichts an der Wirklichkeit. Ich selber weiß nicht, ob es einen Gott gibt oder nicht. Jedoch kann das – nach allem, was ich sehen kann - jeder andere Mensch genauso wenig wissen wie ich. Einen allmächtigen Gott kann es aus Gründen der Logik nicht geben. Und ein allgütiges Wesen – ja, vielleicht gibt es sowas. Ich weiß es nicht.
Einschub
Wen das interessiert -
Wenn es einen allmächtigen Gott gibt, dann stelle man ihm diese Aufgabe:
„Erfinde ein Rätsel, das so schwer ist, dass du es nicht lösen kannst.“
Alternativ:
„Schaffe einen Stein, der so schwer ist, dass du ihn nicht hochheben kannst.“
So oder so – an so einer Aufgabe muss auch ein allmächtiges Wesen scheitern.
Einschub Ende
Aus diesen Gründen geht die Frage:
„Warum gerade ich?!“
ins Leere
Es ist Zufall.
Es ist der reine Zufall, der bestimmt hat, dass es jetzt eben dich erwischt. Andere leben genauso wie du, und die erwischt es nicht. Das ist eben so. Dafür hast du bislang ganz viele andere überlebt, ohne das zu bemerken oder Notiz davon zu nehmen. Das Universum interessiert sich nicht für dich oder für jemand anderen. Es ist nur da. Es weiß nicht mal, dass es dich gibt. Diese Welt ist nicht gerecht. Sie war es nie, und sie wird es auch nie sein. Manchmal war sie zu deinen Gunsten ungerecht. (Überlege dir mal, wie viele haarsträubende Situationen du bislang überlebt hast, wo du genauso gut hättest sterben können). Jetzt ist sie eben zu deinen Ungunsten ungerecht. Es ist halt so. Dein Hader mit deinem Schicksal bringt dich keinen Millimeter weiter.
Ich finde das eine der schönsten Stellen in der Geschichte „Lord of the Rings“:
Frodo, der Halbling ereifert sich gegenüber Gandalf, dem Zauberer, dass ein Bösewicht, der schon seit vielen Jahrhunderten lebt, den Tod verdient habe. Gandalf ermahnt ihn:
„Und viele, die sterben, verdienen das Leben.“
Ja, so ist das.
Es ist halt so. Es ist immer so gewesen. Verglichen mit der Zeit, die wir tot sein werden, leben wir nur eine ganz verschwindend geringe Zeitspanne. Wir sollten alles tun, was in unserer Macht steht, um das Leben zu erhalten und zu fördern. Aber wenn es nicht gelingt …
… dann ist das halt so. Wir werden wieder in unsere Bestandteile zerfallen und in absehbarer Zeit wird sich aus diesen Bestandteilen neues Leben entwickeln. Und das wird dann eine Weile leben, um dann auch zu sterben und wieder zu zerfallen. Und so weiter. Das Leben, das wir jetzt zu haben glauben, ist nicht unser Eigentum, sondern nur eine sehr befristete Leihgabe. Diese Leihgabe kann jederzeit zurückgefordert werden. Ich kann es nicht ändern.
Die Frage:
„Warum gerade ich?!“
scheint mir in die Irre zu führen.
Ich kann innerlich nicht nachvollziehen, warum jemand sie stellt.
Ich habe den Eindruck, dass Menschen, die sie angesichts ihres nahenden Todes stellen, in die falsche Richtung gucken. Ich habe den Eindruck, dass sie die wenige Zeit, die ihnen noch bleibt, mit sowas verschwenden. Ihre Sanduhr läuft ab. Sie sollten was anderes mit den wenigen Sandkörnern machen, die ihnen noch bleiben.
Aber letztlich muss das jeder für sich selbst entscheiden.
Ich bin nicht in der Situation der Menschen, die mich da anrufen. Und wenn sie den Eindruck haben, dass ihre Zeit so am sinnvollsten verbracht ist, dann sollen sie das tun.
Mir steht da kein Urteil zu.
Ich höre nur zu.
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