*** „Ach, was muss man oft von bösen Kindern hören oder lesen …“
(Zitiert nach einem sehr bekannten deutschen Comic-Autor, dessen Comics derart grausam gegen Kinder sind, dass meine Kleinen nichts mehr von ihnen wissen wollen). ***
Ein NT, der mir sehr viel bedeutete, schenkte mir das Buch „Charlie and the Chocolate Factory“. Er kannte sehr gut meine verträumte Art und wusste, wie sehr meine Kleinen fantasievolle Geschichten lieben. Ihr Hunger nach Geschichten scheint geradezu unstillbar zu sein.
Ich begann, das zu lesen und erinnerte mich dunkel: Diese Geschichte hatte uns unsere Lehrerin immer in der letzten Stunde am Samstag vorgelesen, als ich in die zweite Klasse ging. (Damals war noch regelmäßig samstags Schule). Da mein Gehör wirklich schlecht gewesen war, hatte ich aber von dieser Geschichte so gut wie nichts mitbekommen.
Wir begannen, das zu lesen, und meine Kleinen waren sehr angetan von der Geschichte. Auf den ersten Seiten wurde sehr klar und unromantisch beschrieben, wie sich Armut tatsächlich anfühlt. Wir (meine Kleinen und ich) kennen buchstäblich dutzende Geschichten – für Kinder und für Erwachsene – in denen die Armut von Autoren beschrieben wird, die entweder nie arm gewesen sind oder deren Erinnerung verblasst ist: Romantisierender Stuss über Armut und in Armut Lebende. Ich kann jedem meiner Leser versichern: An ungewollter Armut ist buchstäblich nichts schönes oder irgendwas gutes. Ungewollte Armut ist die nackte Gewalt. Wer irgend kann, der versucht, ihr zu entkommen. Wenn ungewollte Armut die Armen eins lehrt, dann ist es dieses: Es ist besser, nicht arm zu sein.
Dieser Charlie – ein Junge im Grundschulalter - ist also arm. Er kauft sich von irgendwelchem Geld einen Schokoladenriegel und gewinnt eine goldene Eintrittskarte in die Schokoladenfabrik. Für ungewollt arme Kinder ist eine Schokoladenfabrik tatsächlich sowas wie das Paradies: Einmal soviel Schokolade essen, wie man mag! Charlie hat also die Eintrittskarte seines Lebens gewonnen – das ganz große Los. Besser kann sein Leben nicht mehr werden.
Wie es mit der Geschichte genau weiter geht, erinnere ich nur noch vage:
Charlie darf an einer Führung durch diese geheimnisvolle Schokoladenfabrik teilnehmen. Er gehört jetzt zu den Eingeweihten. Und wie es jetzt genau dazu kommt, weiß ich nicht mehr – aber Charlie begegnet jetzt vielen Kindern, die böse sind und zu Recht bestraft werden.
Böse Kinder!
Wieder einmal!
Was muss man oft von bösen Kindern hören oder lesen!
Wir (meine Kleinen und ich) haben sofort aufgehört, dieses Buch zu lesen. Wir haben es wütend zugeklappt und weggelegt. Am nächsten Tag haben wir es genauso wütend ins Altpapier geschmissen.
Böse Kinder!
Wieder einmal!
Wir wollen nie wieder etwas von bösen Kindern hören oder lesen!
Die erzählende und die nicht erzählende Literatur des Abendlandes ist voll mit dieser unheilvollen Fiktion:
Dass es sowas wie böse oder missratene Kinder gibt.
Die Bücher, in denen die Rede davon ist, wie schwierig und böse und verdorben Kinder sind, erreichen auch heute noch höchste Auflagen. Regelmäßig erscheinen Bestseller, die von bösen, tyrannischen, herrschsüchtigen etc. Kindern die Rede ist. Was die Kinder nun (angeblich) ganz genau sind, das wechselt mit den Moden. Aber eins ist mal klar: Die Kinder sind böse. Und sie sind schuld. Und das staunende und dankbare Millionenpublikum lässt sich mal wieder von irgendeinem selbsternannten Experten oder Bonsai-Psychologen in seiner vorgefertigten Meinung bestärken: Diese Kinder – wenn die nur nicht böse wären! Dann wäre alles gut. Aber mit Gewalt wird man das alles hinbekommen.
Ich habe oft den Eindruck, dass weite Teile der westlichen Kultur von dieser vernichtenden Überzeugung durchdrungen sind: Kinder sind böse.
Und nochmal, weil es so wichtig ist:
Heute ist es aus der Mode gekommen, direkt und offensiv von „Bosheitskindern“ zu sprechen, wie das bis vor wenigen Jahrzehnten noch absolut üblich war. Diese Illusion, dass Kinder böse oder schlecht sein könnten, hat jetzt in Zeiten der politischen Korrektheit andere sprachliche Hüllen gefunden. Gemeint ist aber immer dasselbe:
Es gibt Kinder, die böse sind. Und da muss man was tun! Denen muss man was antun. Wenn ein Kind böse ist, dann hilft nur noch Gewalt.
Folgerichtig gab es früher „Besserungsanstalten“ für böse Kinder. Die hießen tatsächlich so. Alles Schönfärberei. Es waren Folterhöllen für unglückliche Kinder. Genauso wenig wie eine Atommülldeponie ein „Entsorgungspark“ ist (so hat man das früher tatsächlich genannt), ist eine Folterhölle für Kinder eine „Besserungsanstalt“.
Einschub
Wer wissen will, wie’s wirklich war, der lese zum Beispiel das hier
Buch: Hört ihr die Kinder weinen
Einschub Ende
Heute ist man „politisch korrekt“. Da kleidet man dieses Konzept in eine andere Sprache. Von „Besserung“ ist heute nicht mehr die Rede. Heute spricht man von „Förderung“ und von „Hilfe“. Manchmal sogar von „Eingliederung“ oder „Wiedereingliederung“. Das hört sich einfach besser an. Ich will nicht in Abrede stellen, dass es öffentliche Einrichtungen für unglückliche Kinder gibt, in denen ihnen tatsächlich geholfen wird, und in denen sie tatsächlich gefördert werden. Ich kann hier nur von meiner eigenen Erfahrung berichten, und die ist naturgemäß sehr begrenzt.
Ich bin Vater zweier Töchter. Beispielhaft für vieles, was ich als Vater mit staatlich anerkannten „Förder“konzepten erlebt habe, will ich die Leiterin einer Institution zitieren, die bei uns in der Gegend sehr bekannt und renommiert ist. Diese Leiterin nahm mich beiseite und sagte mir:
„Sie müssen Ihrer Tochter das Leben daheim zur Hölle machen. Sie muss es erleben, dass es besser für sie ist, wenn sie herkommt. Nur dann kommt sie wirklich dauerhaft hierher. Vertrauen Sie mir. Ich habe da jahrelange Erfahrung: Nur die Kinder der Eltern, die daheim den nötigen Druck aufbauen, haben hier Erfolg. Alle anderen scheitern.“
Hier war das Fundament des „Förderkonzepts" also die nackte Gewalt gegen Kinder.
Wieder einmal!
Wenn man sich jedoch die Internetseite dieser Institution anschaut, bekommt man glänzende Augen. Schon im Titel nennt sie sich:
„Schule mit Förderschwerpunkt kranke Schülerinnen und Schüler, Sonderpädagogisches Beratungs- und Förderzentrum“
Mann, da ist ja wirklich alles geboten:
Förderung!
Pädagogik!
Beratung!
Und nochmal Förderung!
Was kann man da mehr wollen?! (Ironie)
Hinter dieser glänzend-schimmernden Fassade verbirgt sich eine Anstalt der institutionalisierten Gewalt gegen Kinder.
Ich habe als Vater oft hinter die Kulissen solcher Institutionen schauen können und habe dabei fast immer denselben wirklich tiefsitzenden Glauben gefunden: Es gibt Kinder, die böse sind. Ihnen kann nur noch mit Gewalt auf den richtigen Weg geholfen werden.
Deshalb will ich das hier ein für alle Mal klarstellen und festhalten:
Es gibt keine bösen Kinder.
Es gibt nur unglückliche Kinder.
Kinder, die sich nicht so verhalten, wie sie das offiziell sollen, haben dafür sehr gute Gründe. Meistens sind diese Kinder zutiefst unglücklich. Manchmal sind sie darüber hinaus noch krank. Manchmal sind sie körperlich oder geistig eingeschränkt. Aber wenn sie Verhaltensweisen entwickeln, die uns nicht passen, dann hat das niemals mit Bosheit zu tun. „Böse“ ist eine Wertung. Mit diesem Begriff lässt sich Wirklichkeit nicht angemessen beschreiben.
Wenn Kinder eine Verhaltensweise entwickeln, die uns nicht passt, dann tun die Kinder das nicht aus „Bosheit“, sondern weil das System, in das sie hineingepresst wurden, genau dieses Verhalten von ihnen fordert. Die Kinder tun das nicht freiwillig, sondern weil sie sehr genau begreifen, dass das ihre einzige Möglichkeit ist, in diesem System ihren Platz zu finden und zu überleben. Es ist also eine ungeheure Anpassungsleistung, die sie hier erbringen. Und meistens setzen sie all ihren Mut, all ihren Einfallsreichtum und all ihre Energie dafür ein, dieses Verhalten zu entwickeln und dauerhaft zeigen zu können.
Nochmal:
Es ist für diese Kinder eine Frage von Leben und Tod in diesem System. Das System lässt ihnen keine andere Chance. Kleine Kinder begreifen sehr, sehr schnell, was für ein Verhalten insgeheim von ihnen gefordert wird. Und sie setzen alles daran, das gewünschte Verhalten auch zu zeigen. Und wenn es sie umbringt.
Jedes Kind wird in eine Umgebung hineingeboren, die zu einem gewissen Grad gestört, krank, dysfunktional oder unglücklich ist. So ideal wie im Mutterbauch ist es für die geborenen Kinder nirgends. Für die weitaus meisten Kinder ist das System, an das sie sich am meisten anpassen müssen, ihre Familie.Und wenn das System „Familie“ nur gestört genug ist, dann mündet die Anpassungsleistung des Kindes in ein Verhalten, dass es der Öffentlichkeit und den akkreditierten Hilfesystem erlaubt, ihm das Etikett „Böses Kind“ anzuhängen.
Einschub
Wenn solche Kinder Erwachsene werden, verlangen sie von ihrem Partner häufig: „Liebe mich so, wie ich bin.“ Dabei übersehen sie meist dieses:
So, wie sie sind, sind sie oft nicht zu lieben.
Um den Anforderungen ihrer Ursprungsfamilie zu genügen, haben sie sich unbewusst absichtlich nicht liebenswert gemacht. Und wenn sie von ihrem Partner verlangen, nun auch diesen Teil zu lieben, der sich unbewusst absichtlich so verhält, dass man ihn gar nicht lieben kann, dann überfordern sie ihn damit häufig.
Manchmal erkennen die beiden das und sagen: „Unsere Liebe überwindet alles!“
Ich als Psychologe antworte ihnen:
„Von wegen!“
Einschub Ende
Um den Sprachgebrauch verständlicher zu machen:
Heute sagt man nicht mehr „böses Kind“, obwohl man genau das meint. Heute sagt man „aggressives Kind“ (oder noch besser: „Kind mit oppositionellem Verhalten“), man sagt „Schulversager“ (oder noch besser: „Underachiever“), oder man sagt „schwieriges Kind“ (oder noch besser: „Fehlangepasst“) – alles derselbe Quatsch.
Ich will hier mal beispielhaft zwei Etikettierungen etwas näher beleuchten, um zu skizzieren, was die psychischen Mechanismen sind, die hier zum Tragen kommen. (Aus Platzgründen muss es leider bei einer ganz, ganz groben Skizze bleiben – das hier ist ja kein Buch).
1
Du Versager!
Das begegnet mir in meiner Arbeit recht häufig: Menschen kommen zu mir, weil sie bei der Arbeit weit unter ihrem Potenzial bleiben und alle Ansätze, beruflich oder privat erfolgreich zu werden, systematisch torpedieren. Sie tun das unbewusst absichtlich. Da ihnen nicht bewusst ist, dass sie das selber inszenieren, haben sie meistens den Eindruck, dass diese Missgeschicke, ihnen irgendwie „passieren“. Sie kommen zu mir in dem festen Glauben, Versager zu sein.
Wenn wir uns die innere Dynamik dieses Prozesses anschauen, stellen wir fast immer fest, dass dieses Verhalten in frühester Kindheit gelernt wurde. Das Kind lernte zu versagen, weil die eigenen Eltern das forderten.
1a)
Damit sich die Eltern besser fühlen konnten.
(Bemerkenswert viele Eltern haben ein sehr fragiles Selbstbewusstsein und brauchen einen ständigen Versager in der engsten Umgebung, auf den sie verächtlich herabsehen können, um sich besser fühlen zu können).
1b)
Damit ein Elternteil immer was zu helfen hatte und sich nicht so nutzlos vorkam.
(Verblüffend viele Eltern geben sich (unbewusst) selbst nur solange ein Lebensrecht, wie irgendjemand sie „braucht“. Also sorgen sie (unbewusst) bei ihren Kindern dafür, dass sie versagen, damit sie ihre Eltern weiterhin brauchen und sie (die Eltern) weiterhin leben dürfen.)
1c)
Um die Familie zusammenzuhalten.
(Solange die Eltern sich die ganze Zeit voller Sorge um dieses stets versagende Kind zu kümmern haben, haben sie weder die Kraft noch die Zeit, sich dauernd zu streiten und sich scheiden zu lassen).
1d)
Um dem Neid der Eltern zu entgehen.
(Sehr viele Eltern sind zutiefst durchdrungen von Missgunst gegen alle Kinder, denen es besser geht als ihnen. Daraus resultiert dann ein sehr starker (und oft völlig unbewusster) Hass gegen erfolgreiche, fröhliche und lebendige Kinder).
Zwischenfazit
Wenn solch ein Mensch als Erwachsener zu mir kommt, ist es für ihn häufig erleichternd, wenn er beginnt, die Realität zu sehen. Dann sieht er, dass er als Kind nicht etwa ein Versager war, sondern dass er im Gegenteil ein sehr schlaues, sehr einfallsreiches und sehr erfolgreiches Kind gewesen ist.
Ihm ist es gelungen,
(a) diese verwickelten, widersprüchlichen und verworrenen unbewussten Botschaften des Systems Familie zu entschlüsseln und
(b) einen ganz konkreten Handlungsplan daraus abzuleiten und den auch noch
(c) umzusetzen und nachhaltig voranzutreiben:
Ein voller Erfolg!
Eine Meisterleistung!
So ein Mensch ist alles mögliche, aber ganz sicher kein Versager.
2
Das aggressive Kind
Und immer wieder kommen Menschen zu mir, die ziemliche Schwierigkeiten mit Impulskontrolle haben oder deutlich aggressiver sind als es eigentlich nötig wäre.
Hier finden sich oft diese in frühester Kindheit gelernten Mechanismen:
2a
Sei für mich aggressiv – ich trau' mich das nicht.
(Das Kind wird von den Eltern unbewusst so manipuliert und großgezogen, dass es all die „abenteuerliche“ Aggressivität auslebt, die sich die Eltern selber versagen, weil sie „gute“ Menschen sein müssen).
2b
Räche mich.
(Das ist eigentlich ein Unterpunkt von 2a, aber speziell bei Menschen mit sehr ausgeprägter aggressiver politischer Agenda finde ich das so häufig, dass es für mich ein Extrapunkt ist:
Die kleine Tochter, die sieht, wie ihre Mutter vom Vater misshandelt wird und beschließt, das zu rächen, wenn sie mal groß ist. Sie führt dann oft einen Feldzug gegen alle Männer oder gegen das Patriarchat. … Der kleine Junge, der mitbekommt, wie sein trotteliger Vater sich gegen keinerlei Autorität durchsetzen kann und überall untergebuttert wird. Der beschließt dann, es allen zu zeigen, die seinen Vater so untergebuttert haben und führt dann als Erwachsener einen Feldzug gegen Autoritäten, Firmeninhaber oder was auch immer. … Und so weiter).
2c
Lass deine Eltern unangetastet.
(In sehr vielen Familien gilt, dass Eltern mit ihren Kindern so ziemlich alles dürfen – sie dürfen das Kind belügen, abkanzeln, demütigen, körperlich und seelisch misshandeln und so weiter. Sie müssen sich dafür nicht mal entschuldigen, denn sie dürfen das ja. … Die Kinder dürfen sich aber nicht wehren. Sie dürfen meist nicht mal mehr sehen, was die Eltern da mit ihnen in Wirklichkeit machen. Um solche Eltern ist dann häufig eine Gloriole der Unantastbarkeit. Kinder von solchen Eltern erzählen mir häufig etwas von ihrer glücklichen Kindheit. Wenn ich mir dann aber ihre Kinderfotos anschaue, dann kann ich nicht ein einziges glückliches Kind erkennen.
Da solche Kinder mit ihrem Hass meistens nicht mehr wissen, wohin (gegen ihre Eltern richten dürfen sie ihn ja nicht), lenken sie ihn entweder nach innen (werden krank oder dergleichen) oder nach außen (dann werden sie es z.B. diesen „Bullenschweinen“ aber schon zeigen!))
Fazit
Jedes Fehlverhalten, jedes Versagen, jede Erkrankung erzählt eine Geschichte. Ich habe es noch nie erlebt, dass „dysfunktionales Verhalten“, mit dem ich konfrontiert wurde, tatsächlich „dysfunktional“ war. Im Gegenteil – meistens war es völlig vernünftiges und sehr rationales Verhalten – aber eben angepasst auf ein dysfunktionales System.
Kinder, die sich so verhalten, sind nicht böse. Sie sind auch nicht gestört, oppositionell, fehlangepasst oder was auch immer politisch korrekte Klugscheißerei ihnen in heutiger Zeit andichtet. Sie sind ausgesprochen kreativ, mutig, tapfer, umsichtig und rational.
Natürlich muss im Ernstfall die Umwelt oder sie selber vor diesem Verhalten geschützt werden. Aber solange wir nicht begreifen, dass diese Kinder nur eine Anpassungsleistung an ihre kranke Umwelt zeigen und wir zu Mitteln der Gewalt greifen, um ihnen das wieder auszutreiben, wird sich diese schier endlose Spirale der Gewalt weiterdrehen.
Ich trete Kindern, die sich mir gegenüber dysfunktional verhalten, rigoros und entschlossen entgegen. Aber ich nehme sie als Menschen wahr und ernst. Ich dulde nicht, dass sie mich in ihr Wahnsystem einbinden. Aber ich kann sehr gut verstehen, was sie da tun, und warum sie es tun.
Und was meine eigene Erfahrung als Vater betrifft:
Ich habe sehr oft von anderen Eltern gehört, dass die Kinder „einen ja zur Weißglut treiben“ könnten. Dass sie einen in den Wahnsinn treiben und an die Grenzen bringen könnten.
Tatsächlich?
Können sie das?
Ich kann in diesem Punkt ganz offensichtlich nicht mitreden. Ich bin jetzt seit fast einem Vierteljahrhundert Vater. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass meine beiden Töchter mich irgendwann zur Weißglut, in den Wahnsinn oder in was auch immer getrieben hätten.
Kinder nerven nicht. Oder präziser: Sie nerven nur dann, wenn sie von ihren Eltern den Auftrag dazu bekommen.
P.S.
Der bedeutendste deutsche Comic-Preis heißt leider immer noch „Max-und-Moritz-Preis“. Ich wünsche mir sehr, dass die Menschen anfangen, die Comics von Wilhelm Busch als das zu lesen und zu begreifen, was sie tatsächlich sind – eine widerliche Gewalthetze gegen Kinder.
Es ist nicht harmlos oder zum Lachen, wenn Kinder in Comics von Erwachsenen getötet, misshandelt, gefoltert oder verstümmelt werden. Und wen das wirklich interessiert (Comics sind eines meiner Spezialinteressen) – nehmt euch doch mal wirklich jede Geschichte im Gesamtwerk von Wilhelm Busch vor und macht eine Strichliste: Jedes Mal, wenn es einem Kind schlecht geht, dann macht einen Strich. Also guckt: Geht es dem Kind schlecht? Wird es verächtlich gemacht oder abgekanzelt, misshandelt, verstümmelt, gefoltert, getötet, oder sonstwie schlecht behandelt oder kommt es „irgendwie so“ zu Schaden?
Und dann nehmt euch ein anderes Blatt Papier und macht eine Strichliste, in der ihr festhaltet, wie oft mit Kindern in diesen Geschichten gut und liebevoll umgegangen wird, sie sich wohlfühlen und ihnen was gutes geschieht.
Geht Wilhelm Buschs Gesamtwerk durch und nehmt euch jede einzelne Zeichnung und jede Zeile vor.
Und dann zieht eure Schlüsse daraus.
Vielleicht kommen wir dann ja dahin, dass dieser Preis umbenannt wird in „Heinrich-Zille-Preis“ oder „Konrad-und-Paul-Preis“ oder „Marvin-Clifford-Preis“ oder was weiß ich.
Und vielleicht kommen wir dann auf lange Sicht ja dahin, dass wir nie wieder was von „bösen“ Kindern hören oder lesen müssen.
P.P.S.
Wenn Kinder „böse“ sind, liegt dem fast immer ein Defizit der Eltern zugrunde.
Wen die zugrundeliegenden psychischen Mechanismen der Eltern interessieren -
stark vereinfacht und grob skizziert sind die logischen Zusammenhänge in etwa wie folgt:
1
Menschen, deren Liebesfähigkeit stark eingeschränkt ist, werden Eltern.
(Und leider, leider ist das bei sehr vielen Eltern so).
2
Diese Eltern merken unbewusst, dass sie ihr Kind nicht so annehmen können, wie sie das eigentlich können wollen. Sie wollen das Kind lieben, aber sie können es nicht.
3
Das löst in den Eltern ganz enorme Schmerzen und Drücke aus, die ihnen nur zum Teil bewusst werden. Sie könnten die Wände hochgehen vor Schmerz, Leid und Trauer darüber, dass sie ihr Kind nicht lieben können. Aber es wird ihnen nicht bewusst.
4
Um sich zu entlasten geben diese Eltern unbewusst diesen Druck nach außen: Sie erfinden Gründe, warum ihr Kind gerade nicht liebenswert ist.
5
Das kleine Kind nimmt diese Verschiebung sehr genau wahr. Es weiß nicht, worum es geht, aber es erkennt ganz klar diesen Auftrag: „Verhalte dich so, dass wir dich nicht mehr zu lieben brauchen. Verhalte dich so, dass du nicht mehr liebenswert bist.“
6
Das kleine Kind gehorcht. Es bleibt ihm nichts anderes übrig – es ist von seinen Eltern auf Gedeih und Verderb abhängig. In seiner kleinen Seele, in seinem kleinen Herzen, und in seinem gerade erwachenden Verstand wird auf diese Weise alles mögliche verdreht. Aber schlussendlich schafft es das Kind, sich so böse zu fühlen und zu verhalten, wie die Eltern das brauchen.
7
Die Eltern spüren unbewusst eine sehr deutlich Entlastung und bestärken unbewusst ihr Kind ganz kräftig, mit diesem Verhalten und mit diesem In-der-Welt-sein weiter zu machen. Endlich gibt das Kind ihnen Gründe, nicht mehr lieben zu müssen. Die Eltern sind total erleichtert.
8
Das Kind fügt sich in diese Rolle und wird böse. Es wird ein teilweise (oder durch und durch) nicht liebenswertes Kind. In diesem Zustand bleibt es die ganze Zeit, bis es erwachsen ist.
9
Wenn dieses Kind erwachsen geworden ist, wird es sich unbewusst ständig für alles mögliche schuldig fühlen. Die Gründe, aus denen sich dieser junge Erwachsene böse fühlt, wirken meist wie an den Haaren herbeigezogen (Sprachbild). Dieser Mensch hat keine Ahnung, wo dieses Grundgefühl des Böse-Seins eigentlich herkommt und sucht die Gründe im Außen.
10
Dieser Mensch wird vermutlich stark überkompensieren und ständig versuchen, ein ganz besonders guter Mensch zu sein.
Er wird sehr viel Energie und Zeit investieren, um seine imaginäre Schuld abzutragen. Damit wird er aber keinen Millimeter weiterkommen, denn die Gründe für seine Schuld liegen innen. So ist er – bis er diese Gründe in sich findet – dazu verflucht, völlig sinnlos irgendwas zu inszenieren, um seiner Schuld zu entrinnen und ein ganz besonders guter Mensch zu sein. So ein Leben ist ungefähr so angenehm wie eine Schubkarre ohne Räder den Strand entlangzuschieben. Und es ist in etwa so erfolgreich wie einen Brunnen leerzuschöpfen - mit einem Eimer, dem der Boden fehlt.
Gleichzeitig erlebe ich es wirklich häufig, dass erwachsene Menschen einen großen Teil ihres Lebens vergeuden, indem sie versuchen, aus ihren objektiv nicht liebesfähigen Eltern Menschen zu machen, die lieben können. Sie mühen sich, sie engagieren sich, sie reiben sich auf, sie verzweifeln und sie hoffen, hoffen, hoffen – gegen alle Erfahrung. Sie klammern sich an ihre verzweifelte Hoffnung, dass ihre Eltern sie irgendwann doch noch mal lieben werden – so, wie ein Ertrinkender, der sich an einen Rettungsring aus Blei klammert.
Dann geht das ganze Leben rum, immer auf der verzweifelten Suche nach der Liebe der Eltern, die nie kam und die nie kommen wird, weil sie nie lieben konnten.
Dabei waren sie nie ein böses Kind, das Liebe nicht verdient. Sie waren immer nur ein unglückliches, ungeliebtes Kind, das völlig in Ordnung war.
Trauriger geht’s kaum.
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Tina (Sonntag, 14 Juni 2020 14:20)
"das hier ist ja kein Buch"
Wirklich schade, dass es das nicht ist. Ich würde es sofort kaufen :) Ein sehr guter und wichtiger Text, vielen Dank dafür.
Tina (Sonntag, 14 Juni 2020 14:21)
Schwieder ein Doppelkommentar von mir :D Irgendwie haben Ihre Internetseite und ich Verständigungsprobleme ;)
Stiller (Sonntag, 14 Juni 2020 15:50)
Hallo Tina,
danke für deine Rückmeldung.
Tatsächlich werden die Rufe nach einem Buch von mir in den letzten Wochen lauter. Du bist nicht die einzige, die mich darum bittet.
(Und bei einem kleinen Spezialverlag stehe ich schon seit einem Jahrzehnt im Wort, dass ich ihm was schreibe).
Aber im Moment kann ich nicht sehen, dass das Realität wird. Ich bin zeitlich und kräftemäßig zu sehr eingebunden.
Ein "Doppelkommentar" ist bei mir nicht angekommen. Aber im Zweifel liegt es nicht an dir oder deiner Verbindung, sondern daran, dass in meinem Leben die Dinge manchmal etwas merkwürdig sind :-D.
Hanspeter Fischer (Sonntag, 07 März 2021 18:57)
Da habe ich in meinen alten Tagen auch noch was gelernt.
Hoffe ohne Doppelkomment
Sven (Mittwoch, 27 September 2023 21:09)
Hast Du für Punkt 1b) ggf. ein Beispiel oder zwei?
Stiller (Mittwoch, 27 September 2023 22:32)
1
Die Eltern nehmen schulische Erfolge des Kindes eigentümlich ungerührt und teilnahmslos zur Kenntnis. Das Kind lernt: Wenn ich Erfolg in der Schule habe, sind die Eltern unglücklich.
Schulische Misserfolge des Kindes jedoch spornen die Eltern geradezu zu Höchstleistungen an. Die Kinder werden von Pontius zu Pilatus geschleppt (Sprachbild): Ärzte und Pädagogen werden konsultiert, Nachhilfe und andere Unterstützung wird organisiert, Lernpläne werden aufgestellt … und so weiter. Nie sind die Eltern so vital und aktiv wie in Zeiten des schulischen Misserfolgs des Kindes. Das Kind lernt:
Wenn ich Misserfolg in der Schule habe, sind die Eltern glücklich.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieses Kind, wenn es erwachsen ist, unbewusst absichtlich dafür sorgt, dass es dauerhaft in der einen oder Form von den Eltern abhängig bleibt.
2
Analoges gibt es häufig, wenn das Kind gesund bzw. krank ist:
Ist das Kind gesund, fliegt es regelrecht unter dem Radar der Eltern (Sprachbild) und wird von ihnen kaum wahrgenommen.
Ist das Kind jedoch krank, dann überschlagen sich die Eltern regelrecht.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass es diesem Kind, wenn es erwachsen ist, im Beruf sehr schwer fällt, in stressigen Situationen längerfristig gesund zu bleiben.