Musik und Emotion

*** Vorausgeschickt: Um den Text lesbar zu gestalten, habe ich die Begriffe Emotion, Gefühl und Empfindung synonym verwandt. Für Sprachpuristen wie mich ist sowas furchtbar, aber es soll hier nicht um die Unterscheidung von Gefühl, Emotion und Empfindung gehen. ***

 

 

Eine Psychologiestudentin sprach mich darauf an: Sie hätte gelernt, dass Menschen erst bei einer Abfolge von Tönen – also einer Melodie oder dergleichen – Emotionen empfinden würden und nicht bei einzelnen Tönen. Ob das bei mir auch so wäre.

 

Bei mir ist das anders. Wenn ich an einem Klavier sitze und eine einzelne Taste drücke, dann löst das bei mir sofort ein ganzes Feuerwerk an Sinneseindrücken aus – optischen und akustischen. Und das ist bei mir immer mit Emotionen verbunden.

 

Schauen wir uns das mal im Detail an:

 

Im Studium habe ich gelernt, dass in der Akustik folgendes unterschieden wird:

a)    Ton – man hört nur eine Schwingung in einer Frequenz

b)    Klang – man hört mehrere Schwingungen gleichzeitig, deren Frequenzen aber harmonisch aufeinander abgestimmt sind.

c)    Geräusch – man hört mehrere Schwingungen gleichzeitig, deren Frequenzen aber nicht aufeinander abgestimmt sind.

 

Ich weiß nicht, ob das heute noch die gängige Unterscheidung in der Wissenschaft ist. Aber nehmen wir sie mal als Arbeitsgrundlage.

Wenn ich bei einem Klavier eine Taste drücke, dann höre ich nach dieser Definition also keinen Ton, sondern einen Klang: Mehrere harmonisch aufeinander abgestimmte Schwingungen überlagern sich und ergeben einen Sinneseindruck.

 

Wie ist das bei mir, wenn ich eine einzelne isolierte Schwingung (ohne Ober- und Untertöne) höre – zum Beispiel an einem Oszillator?

Das löst bei mir genauso optische und akustische Sinneseindrücke aus, die mit Emotionen verbunden sind.

 

Für mich als Wissenschaftler ergeben sich daraus einige sehr interessante Fragestellungen, die ich leider wegen meiner knappen Ressourcen (Zeit, Geld) nicht weiterverfolgen kann.

 

Voraussetzung:

Ich gehe davon aus, dass mir die Psychologiestudentin keinen Blödsinn erzählt hat, und dass die, die ihr das beigebracht haben, wissenschaftliche Untersuchungen dazu gemacht haben, bevor sie mit dieser Behauptung an die Öffentlichkeit gingen.

 

 

 

Fragestellungen

 

1

Liegt es jetzt an meiner ausgeprägten Synästhesie, dass ich bei jedem Ton und bei jedem Klang was empfinde? Da ich alles, was ich höre, auch optisch wahrnehme, ist es denkbar, dass ich mit Gefühlen auf das reagiere, was ich sehe, wenn ich etwas höre. Anders gefragt:

 

Fühle ich bei einem Ton etwas, weil ich ihn sehe? Würde ich nichts fühlen, wenn ich ihn nur hören würde?

 

2

Fühlen Autisten bei Musik anders als NTs?

 

 

Der Fragestellung 2 bin ich zumindest ein bisschen nachgegangen. Ich habe eine Internetseite gefunden, auf der mit wissenschaftlichem Hintergrund geschaut wird, was wir bei Musik fühlen:

http://www.dzm-heidelberg.de/forschung/aktuelle-projekte/musik-und-emotion/

 

Auf dieser Seite werden sechs der sieben Grundemotionen (nach Ekman) mit Musik verknüpft.

Das Ganze geht so: Man hört sich ein paar Sekunden Musik an und soll diese Musik dann einer Emotion zuordnen.

 

Im Ergebnis war ich hier deutlich besser, als bei diesem Augenpartien-Test, den vermutlich jeder Autist kennt.

http://www.aspergia.de/index.php?cat=Tests&page=Augenpartientest

Den Augenpartien-Test habe ich bestimmt zwanzig Mal machen müssen, bis es mir gelang, unauffällige Ergebnisse zu erzielen.

 

Einschub

Hierzu gestatte ich mir eine kleine Abschweifung vom Thema:

Ich habe keine Ahnung, was die NTs in diesen Augen alles sehen. Für mich gilt:

a)    Ich brauche ein ganzes Gesicht, um Emotionen erkennen zu können

b)    Bei etlichen dieser Augenpaare nehme ich mehrere Emotionen wahr, die übereinander liegen. Und da kann ich nicht sagen, was die eine Emotion sein soll, die da zu sehen ist.

 

Ich gebe Seminare, in denen ich den NTs beibringe, wie Gesichter zu lesen sind. Wenn man weiß, wie’s gemacht wird, dann ist das nicht weiter schwer. Und sobald die NTs begriffen haben, worum’s geht, habe ich in den Seminarpausen buchstäblich keine ruhige Minute mehr. Die ganze Zeit bin ich umlagert von NTs, die mir auf ihrem Smartphone Fotos von der Familie, von Freunden, von Vorgesetzten und Kollegen zeigen. Und dann wollen sie immer wissen:

„Wen siehst du hier?“

 

Das gleiche bei Tagungen, auf denen sie mich wiedererkennen. Sofort wird das Smartphone gezückt und mir wird ein Foto unter die Nase gehalten:

„Wen siehst du hier?“

 

Ganz ehrlich – das würden die NTs nie und nimmer machen, wenn ich Emotionen in Gesichtern so schlecht erkennen könnte, wie es mein Ergebnis beim Augenpartien-Test vermuten lässt.

Einschub Ende

 

 

Zurück zum Thema:

Für mich wäre es sehr spannend, herauszufinden, ob die Musik ein Hilfsmittel sein könnte, dass AS und NTs in Sachen Emotion mal ein bisschen mehr zueinanderfinden. Ich erlebe die meisten NTs in Sachen Gefühl als einigermaßen rechthaberisch und ziemlich unbedarft. Nach allem, was ich sehen kann, ist das umgekehrt genauso. Und es ist gut möglich, dass in diesem Fall beide Seiten Recht haben.

 

Ich halte die Kluft zwischen NTs und AS für unüberbrückbar.

Aber vielleicht ist mit Mitteln der Musik eine bessere Verständigung über diese Kluft hinweg möglich als mit Mitteln der Sprache.

 

Ich weiß das nicht.

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