Als ich im Alter von 16 Jahren von einem Tag auf den anderen beschloss, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, stand ich buchstäblich vor dem Nichts: Alles, was mir meine leiblichen Eltern, meine Lehrer oder andere erwachsene Begleitpersonen als Werkzeuge oder Hinweise mit auf den Weg gegeben hatten, um das Leben zu meistern – es zerbröselte bei näherem Hinsehen zu nichts. Alles Unsinn. Alles Blödsinn. Alles Sprüche. Alles Fantasterei. Ich musste komplett neu aufbauen.
Meine leiblichen Eltern waren sowieso keine Blaupause für ein gelungenes Leben. Das konnte ich komplett knicken. Aber auch, wenn ich mich sonst so umguckte: Von wem konnte ich lernen, wie man ein gelungenes Leben führte? – Absolute und totale Fehlanzeige. Nicht ein einziger Erwachsener war zu sehen, der ein Leben führte, das ich für gelungen hielt. Nicht ein einziger weit und breit. Nicht mal annähernd. Aber an wen kann sich ein 16-jähriger wenden, der beschlossen hat, ein gelungenes Leben zu führen und keine Ahnung hat, wie er das machen soll?
An wen kann er sich wenden, wenn er feststellt, dass sie alle absolut keine Ahnung davon haben, wie ein gelungenes Leben geht – Lehrer, Nachbarn, Kirchenmenschen, sonstige Gottesknechte und religiöse Dummschwurbler, Stars, Gelehrte, Schriftsteller, Künstler, Gurus, Menschen des öffentlichen Lebens … ? – Alle ahnungslos. Alle ahnungslos oder mit irgendwas anderem beschäftigt. Aber schon alleine das: Wie kann man sich im Leben mit irgendwas anderem beschäftigen als damit, wie ein gelungenes Leben geht?! Ich war fassungslos. Fragen, die für mich zentral waren, waren für die meisten anderen Menschen ohne jede Bedeutung. Und die, die sich ernsthaft mit ihnen beschäftigten, schienen nur Murx zustande zu bringen. Wie konnte das sein?!
Noch heute, vierzig Jahre später, gilt für ausnahmslos jede Person, der ich begegne:
So wie du lebst, will ich nicht leben – auf gar keinen Fall!
Gut möglich, dass das so bleibt, bis ich ins Grab sinke. Aber das macht die Frage, die mich damals antrieb, nicht obsolet. Im Gegenteil. Ich hatte die Frage damals in der Form übernommen, die die alten Römer geprägt hatten:
„Lebe so, wie du wünschen wirst, gelebt zu haben.“
Aber wie um alles in der Welt sollte das sein? Wie würde ich wünschen, gelebt zu haben?
Ich habe sehr, sehr viel Zeit mit der Klärung dieser Frage zugebracht.
Ich vertiefte mich dann in die Philosophie. Philosophie – zu Deutsch: Liebe zur Weisheit – versprach Antworten. Und da ausnahmslos alle philosophischen Texte, die ich las, so schwer waren, dass sie für mich nicht zu verstehen waren, hielt ich das für einen Hinweis, dass hier Antworten zu finden waren.
Es sollte Jahre dauern, bis ich dahinter kam, dass das nicht stimmte. Philosophen versuchen, das Leben zu denken. Das Leben kann aber nicht gedacht werden. Es muss gelebt werden. Und für alle Sinnsucher, die diesen Text lesen: Die einzige gültige Aussage, die ich euch geben kann, ist diese:
Alles, was du wissen musst, steht in deinem Herzen. Du brauchst buchstäblich kein einziges Buch, um ein gelungenes Leben führen zu können.
Alles andere musst du selbst finden.
Aber all das wusste ich damals noch nicht. Ich kniete mich also regelrecht rein in die Philosophie (Sprachbild) und las wahllos eine Menge, was die örtlichen Leihbüchereien zu diesem Thema anboten. Ich verstand beinahe nichts. Aber das machte nichts – ich las es trotzdem. Mit den Jahren und mit der Hilfe meines Philosophielehrers bekam ich allmählich Zugang zur Philosophie. Ich gewöhnte mich an diesen ausufernden und verquasten Stil, in dem Philosophen so gerne schreiben. Und ich lernte, ihre Sätze regelrecht aufzumeißeln und zu verstehen, was sie tatsächlich hatten sagen wollen.
So konnte es auch nicht ausbleiben, dass ich mich intensiv mit dem Gedankengut eines gewissen Plato auseinandersetzte. Auf den schien sich beinahe jeder zu beziehen, der in der Philosophie irgendwas zu sagen hatte: Plato hier, Plato da. Plato überall.
Vor allem hatte es mir sein Bestreben angetan, hinter die Dinge zu kommen. Er nannte das: Ideen. Oder anderes ausgedrückt: Das Wesen einer Sache.
Was war das Wesen des Lebens? Was war der Sinn des Lebens?
Es schien mir ein geeigneter Zugang zu sein, buchstäblich hinter die Dinge zu kommen. Was blieb von einem Ding übrig, wenn man das Ding abzog? Wenn man vom Leben alles wegstrich, was nicht absolut notwendig dazugehörte – was blieb dann übrig? Was war die Idee des Lebens? Was war die Idee des gelungenen Lebens? Was machte ein gelungenes Leben aus, wenn man alles, was am Leben vordergründig und oberflächlich war, wegnahm?
Ich beschäftigte mich sehr intensiv und ausdauernd mit diesen bohrenden Fragen. Als ich Jahrzehnte später das Glück hatte, viele Jahre mit einer Philosophin (staatlich geprüft und anerkannt) zusammenarbeiten zu können, nannte sie sowas immer „Harte Arbeit am Wort.“
Ich arbeitete damals hart am Wort.
Und wie.
Ich war 18, als ich ein einschneidendes Erlebnis hatte. Ich erinnere es heute noch so, als ob es gestern gewesen wäre. Ich war zu Fuß unterwegs zu einer Freundin. Ich kannte den Weg und ging, ohne auf die Strecke zu achten, tief in Gedanken versunken vor mich hin. Auf einmal waren die denkenden Strukturen in mir mit ihrer Analyse fertig. Ich war gerade mitten in der Bewegung und wollte meinen Fuß nach dem Überqueren der schmalen Straße auf den Bordstein setzen. Der Fuß hatte den Bordstein noch nicht erreicht, da brach es über mich herein:
Hinter den Dingen ist …
… nichts!
Es war eine der grässlichsten Erfahrungen meines Lebens. Und sie hat mich für immer kuriert. Als ich später bei Jaspers las: „Das Nichts nichtet“, konnte ich absolut nachvollziehen, wovon dieser Mann schrieb. Das ist eine Erfahrung, die ich niemandem wünsche – hinter die Dinge zu kommen.
Ich schaute mir die Analyse an, die mir die denkenden Strukturen in mir vorgelegt hatten. Zwei Jahre intensiver Arbeit – buchstäblich Tag und Nacht – hatten sie gebraucht. Ihre Ergebnisse waren absolut logisch und hieb- und stichfest: Hinter den Dingen ist nichts.
Dieses Erlebnis hat mich sehr gründlich von allem kuriert, was irgendwie mit Ideen und Idealismus zusammenhängt. Später lernte ich, dass Plato ein zutiefst unglücklicher Mensch gewesen war. Das wunderte mich nicht.
Was den Sinn des Lebens anbelangt, scheint es ein Naturgesetz zu sein:
Unglückliche Menschen schreiben Dinge über den Sinn des Lebens, die unglücklich machen.
Ein anderes Naturgesetz scheint zu sein:
Glückliche Menschen schreiben nichts über den Sinn des Lebens.
Epilog
Als ich 22 Jahre alt war, lief ich in Kairo um fünf Uhr morgens in ziemlicher Eile durch die nächtlichen Straßen. Ich wollte zum zentralen Busbahnhof. Es war dunkel. Die Straßen waren noch menschenleer. Ich musste den ersten Bus kriegen, der das Land verließ. Wenn ich ihn verpasste, stand mir ziemlicher Ärger mit allen möglichen ägyptischen Behörden ins Haus. Als ich die Bussteige fast erreicht hatte, sah ich in einem Geschäft hinter den Gittern, mit denen das Schaufenster gesichert war, ein Poster. Dieses Poster zeigte das Foto von zwei Eulen, die einträchtig nebeneinander auf einem Ast saßen. Diese beiden Eulen schauten den Betrachter freundlich und weise an. Unter dem Ast stand in großen Buchstaben:
„The answer is: Maybe! And that’s final!”
Die Antwort ist: Möglicherweise! Und das ist endgültig!
Meine Kleinen kicherten, als sie das sahen.
(So kann auch die Flucht vor arabischen Strafverfolgungsbehörden von Heiterkeit geprägt sein).
Als wir Wochen später wieder sicher in Deutschland angekommen waren, setzten wir uns an unseren Zeichenblock und zeichneten mit Bleistift ein Replikat dieses Posters. Das hängten wir uns über unseren Schreibtisch.
Da hing es jahrelang.
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Träumer (Freitag, 05 Juni 2020 14:58)
Hallo Stiller.
Beiträge wie dieser sind der Grund, weshalb ich immer noch mit gewisser Regelmäßigkeit deinen Blog lese. Ich genieße das dann sehr, weil es mir manchmal vorkommt, als würdest du Gedanken, die schon länger ungeordnet meinem Kopf herum schwirren (Sprachbild), ordnen und in verständliche Strukturen und Worte fassen.
Mit 15 hatte ich eines Tages, nach vermutlich 10 Jahren des Nachdenkens darüber, ein ähnliches Erlebnis, wie du mit 18. Ich erinnere mich noch Heute (9 Jahre später) mit schrecken daran, wie plötzlich eine klare Vorstellung vom Nichts in mir aufkam. Auch wenn man meinen sollte, das sei unmöglich.
Allerdings habe ich seitdem die vage Erkenntnis in mir wachsen gespürt, dass das nur das Ergebnis der Frage nach dem Sinn ist, wenn man versucht, sie mit Gedanken und Logik zu beantworten.
Zitat von dir: "Alles, was du wissen musst, steht in deinem Herzen. Du brauchst buchstäblich kein einziges Buch, um ein gelungenes Leben führen zu können."
Nach diesen Worten scheint mir, dass du das mittlerweile ähnlich siehst. Liege ich da richtig?
Stiller (Freitag, 05 Juni 2020 15:52)
Hallo Träumer,
ich verstehe deine Frage so, dass du mich fragst, ob ich der Meinung bin, dass der Sinn des Lebens nicht durch Gedanken oder durch Logik zu finden ist.
Ja, das ist meine Meinung.
Es ist mir damals gelungen, durch logische Deduktion herauszuarbeiten, was der Sinn des Lebens sein müsste.
Aber das war so, als würdest du dir eine Ansichtspostkarte des Paradieses anschauen. - Davon hast du gar nichts. Du weißt, dass es das irgendwo geben muss. Aber das ist auch schon alles. Und wer glaubt, dass es reicht, sich eine Ansichtspostkarte des Paradieses aufs Kaminsims zu stellen, der glaubt auch, dass man satt wird, wenn man eine Speisekarte liest.