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Lauter Irrtümer 10 - Der einsame Wolf

*** Ich bitte um Verständnis: Dieser Text kann Spuren von Ironie enthalten. ***

 

Jo.

Das ist doch mal was: Einsamer Wolf.

Ich weiß nicht, wie oft ich diese Zuschreibung schon von NTs bekommen habe: Ich sei ein einsamer Wolf. Da sind sie sich immer wieder überraschend einig, die NTs, die mich kennen.

Mhm. Einsamer Wolf. Der Stiller ist auch so einer.

Ja sicher. Ganz bestimmt.

 

Schauen wir doch mal ins Handwörterbuch der Klischees. Was lesen wir da unter diesem Stichwort?

 

Wolf (einsamer), Nomen, männlich – völlig überbeanspruchtes Klischeebild, das ausdrücken soll, dass irgendwer frei und wild ist und doch auf seine Weise ziemlich einsam, irgendwie so. Nach Schätzungen unseriöser Wissenschaftler beanspruchen 99% aller pubertierenden Jugendlichen von sich, einsame Wölfe zu sein. Mit anderen Worten: Kaum ein Tier kommt so häufig in der Welt der Metaphern vor, wie der einsame Wolf. Getoppt wird das nur noch von Einhörnern und – selbstverständlich – Katzen.

Einsame Wölfe finden sich auf T-Shirts, Tassen, Postern, Postkarten, Memes, Hoodies, Bettwäsche, Jacken, Basecaps, Flaggen, Wappen, Tapeten, Buchdeckeln, Geschenkpapier, Motorhauben von Autos, Benzintanks von Motorrädern, Kotflügeln von Trucks, Aufnähern, Knöpfen, Kugelschreibern, Aschenbechern, Feuerzeugen … sie sind aus unserem modernen Leben nicht mehr wegzudenken. Sie sind praktisch allgegenwärtig. Bilder von einsamen Wölfen herzustellen und zu verbreiten ist eine gigantische Industrie, die weltweit ungefähr 2,5 Millionen Menschen einen Arbeitsplatz bietet. Getoppt wird das Merchandising dieses Klischees nur noch von Einhörnern und – selbstverständlich – Katzen.

 

 

 

Tja.

Soweit das Handwörterbuch der Klischees.

Und so einer bin ich also. Da sind sich ganz viele NTs ganz sicher und ganz einig.

„Der Stiller, der ist ja auch so ein einsamer Wolf.“

Und dann nicken sie einträchtig.

Mhm. Selbstverständlich.

Stiller, der einsame Wolf. Stiller, das Klischee.

Ja, selbstverständlich.

 

Vielleicht sollte ich froh sein, dass ich nur ein einsamer Wolf bin. Ich hätte es weitaus schlimmer treffen können: Ich hätte ja auch ein Einhorn sein können, oder – selbstverständlich – eine Katze.

 

Irgendwann fing die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, auch noch an, mit diesem Quatsch. Zu allen möglichen Gelegenheiten sagte sie, dass ich ein einsamer Wolf sei. Ich habe versucht, ihr deutlich zu machen, worum es geht. Natürlich habe ich nicht die richtigen Worte gefunden, um mich ihr verständlich zu machen. Aber für die, die’s interessiert: Hier mal eine Zusammenfassung meiner Gedanken zu diesem Thema:

 

Wölfe sind Rudeltiere. Und die sind nicht einsam. Vielleicht sind die manchmal von ihrem Rudel getrennt. Aber dann heulen sie los, dass man es kilometerweit hört, und das Rudel heult zurück, damit das versprengte Rudelmitglied das hört und zurückfindet. Und sobald der versprengte Wolf sein geliebtes Rudel in der Ferne heulen hört, trabt er los. Stundenlang läuft er unermüdlich mit einem freudigen Klopfen im Herzen. Und je näher er seinem Rudel kommt, desto mehr freut er sich. Wenn er dann endlich zurückgefunden hat, wird er vom gesamten Rudel, umringt und freudig begrüßt und alle sind überglücklich, und sie singen und sie tanzen. Und am Abend feiern sie ein riesiges Wiedersehensfest und grillen gemeinsam auf einem großen Lagerfeuer ein Einhorn oder – selbstverständlich – eine Katze.

 

Ich bin kein Rudeltier. Ich bin auch kein Herdentier. Ich bin das, was man im Englischen „one of a kind“ nennt. Nach fünf Jahrzehnten intensiver Suche habe ich vor ein paar Jahren endlich einen Menschen gefunden, der mir ähnlich ist. Wenig später fand ich einen zweiten. So kann’s kommen. Aber wir sind jetzt kein Rudel und auch keine Herde. Im Gegenteil – jeder von uns ist weiterhin ein Individuum. Wir sind sehr, sehr einzelgängerische Menschen.

 

Als ich mich auf die Suche nach Menschen machte, die mir ähnlich sind, habe ich auch nicht mitten in der Nacht mein durchdringendes Geheul ertönen lassen, in der Hoffnung, dass irgendwer das hört und zurückheult. Menschen wie ich sind ziemlich stille Wesen.

 

Ich habe lange nach einem Tier gesucht, dass mir ähnlich sein könnte. Am ehestem käme vermutlich irgendein Bär in Frage. Zum einen, weil ich mich auch eher tapsig bewege und meine Körperkoordination jetzt nicht so sehr zum Filigranen neigt. Zum anderen aber auch, weil die Bärenarten, die ich dabei im Auge habe (Sprachbild), ausgesprochene Einzelgänger sind. Sie leben versteckt in irgendwelchen Wäldern. Dort latschen sie ganz alleine ihre riesigen Reviere ab. Man kriegt sie praktisch nicht zu sehen. Sie meiden Menschen. Sie lassen einander in Ruhe und machen ihr Zeugs. Wenn man sie angreift, dann wird’s richtig, richtig ungemütlich. Aber wer ist schon so bescheuert und tut sowas?

 

Doch aus Gründen, die ich bislang nicht kenne, sagen meinen Kleinen Bären nicht so zu. Sie mögen Bären, aber sie wollen nicht, dass ein Bär ihr Totem- oder ihr Wappentier ist. Also nicht. Damit kann ich leben.

 

Ich bin ein Fremder unter Menschen. Das bin ich immer schon gewesen. Und nach allem, was ich sehen kann, wird das auch für immer so bleiben. Aber das ist schon ganz ok, so. Mich zieht’s nicht zu irgendeiner Herde. Meinesgleichen erkenne ich unter anderem daran, dass sie Einsiedler sind.

 

Und für all die NTs, die mir dieses Bild vom einsamen Wolf überstülpen wollen, weil sie sich überhaupt nicht vorstellen können, dass ein Mensch tatsächlich ein Original sein könnte, das keiner Gruppe sinnvoll zuzuordnen ist – macht ihr nur. Nach allem, was ich sehen kann, tröstet euch das, und es hilft euch, in eurer Welt klarzukommen. Wie ihr mich bezeichnet, ist mir beinahe völlig gleichgültig. Eure Zuschreibungen ändern ja nichts an der Realität.

 

Solange ihr euch nicht zusammenrottet, um mit Fackeln und Mistgabeln vor mein Haus zu ziehen, sei euch das alles erlaubt. Ich weiß ja, wie sehr ihr diese Klischees braucht. Ihr seid ja auch die, die genau das kaufen, was Millionen andere ebenfalls kaufen, weil sie auf diese Weise ihre Einzigartigkeit ganz besonders gut ausdrücken können. Ihr seid die, die im Urlaub dahin fahren, wo man ganz für sich sein kann … und dann buchstäblich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit sich das rumspricht und noch mehr Leute dahin kommen. – Macht ihr mal, wenn es euch gut tut. Ihr habt nun mal diese Neigung, mir dieses Klischee überzustülpen, und ich denke schon geraume Zeit darüber nach, wie ich daraus Geld machen könnte – irgendein Hilfsfonds für einsame Wölfe oder sowas.

 

Manchmal spiele ich aber auch mit der Fantasie, ein Werwolf zu sein. Kein bösartiger, versteht sich. Aber auch kein einsamer. Ich würde mich dann in hellen Vollmondnächten in ein ganz anderes Wesen verwandeln und durch die Gegend streifen. Vermutlich würde ich auch sexuell sehr aktiv sein und dabei vollkommen unaussprechliche und wilde Dinge tun. Völlig ungezügelt, versteht sich. Die ganze Nacht. Denn immerhin bin ich ja ein Werwolf, und Werwölfe tun sowas nun mal. Aber all das würde vermutlich dazu führen, dass ich im Morgengrauen nackt in irgendeinem Käfig im Zoo oder im Tierheim aufwachen würde. Ich wäre völlig verwirrt und würde mich fragen, was denn jetzt schon wieder passiert sei. Und ich weiß nicht, wie für Sie diese Vorstellung wäre – so völlig nackt in einem Freigehege des örtlichen Zoos, und die ersten Besucher und Schulklassen strömen herein, um Sie zu bestaunen.

 

Da wäre ich dann vermutlich doch lieber ein Wereinhorn, oder – selbstverständlich – eine Werkatze.

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Kommentare: 3
  • #1

    nT-Aushalter (Montag, 11 Mai 2020 09:31)

    Teddybär, Nasenbär, Schwarzbär, Braunbär, SCHADBÄR, PROBLEMBÄR, ja dann hoffentlich nicht Letzteres. Da tappen schon zu viele von rum.
    Der VW - Nasenbär war übrigens ein sehr eigenwilliges Auto, trotz VW - Herkunft aus WOLFSburg kein Wagen für die Massen, damit könnte man sich doch auch identifizieren.

  • #2

    Stiller (Mittwoch, 13 Mai 2020 01:20)

    Ja, auch Warumwolf und Wohinwolf sind mir jetzt schon angeboten worden.

  • #3

    Annette (Samstag, 05 September 2020 19:45)

    Oh Mann, je mehr ich lese umso unfassbarer finde ich das Ganze.