*** Dieser Text ist ein Versuch. Vielleicht habe ich verstanden. Vielleicht auch nicht.
Darüber hinaus: Es ist gut möglich, dass dieser Text für viele Leser langweilig ist. – Bitte denkt daran: Ich zwinge niemanden, das zu lesen. Klickt das weg, wenn es euch anödet. Für mich ist das interessant und wichtig. ***
An den NTs fällt mir seit jeher etwas auf, was ich von mir nicht kenne: Es scheint für die weitaus meisten von ihnen so zu sein, dass es gut für sie ist, wenn sie über das, was sie im Moment bedrückt, reden können. Dabei scheint es weitgehend belanglos zu sein, mit wem sie darüber reden – mit ihrem Hund, mit Siri, mit einem Stein oder mit einem Freund – wichtig scheint für sie zu sein, dass sie darüber reden können. Wer (oder was) ihnen zuhört, ist augenscheinlich zweitrangig. Wenn sie die Wahl haben, erzählen sie es aber offenbar bevorzugt einem anderen NT. Bis zu zehn Prozent ihrer wachen Zeit scheinen sie damit zu verbringen, einander zu erzählen, was sie bedrückt. Nach so einem Gespräch ist es oft so, dass sich beide NTs besser fühlen.
Ich kenne sowas aus meinem Leben nicht. Was mich bedrückt, das mache ich mit mir selber aus. Ich bin permanent im inneren Dialog mit mir. Wenn ich den Eindruck habe, dass ich das hinreichend mit mir besprochen habe, dann gehe ich damit nach außen. Mit ein paar wenigen Menschen, denen ich vertraue, bespreche ich das.
Aber das scheint der entscheidende Unterschied zwischen mir und den NTs zu sein, wenn ich das, was mich bedrückt, mit anderen teile:
Für NTs scheint entscheidend zu sein, dass der andere emotional Anteil nimmt. Sie signalisieren einander laufend, dass sie Verständnis für einander haben. Dass sie Anteil nehmen. Das scheint ihnen Kraft zu geben. Ihre Sprache ist dann voller Ausdrücke, die Nähe und Verständnis signalisieren:
„Du, ich kann das soooo gut verstehen!“
„Da hab‘ ich volles Verständnis für – hätte ich genauso gemacht!“
„Ich weiß ja so gut, wie’s dir jetzt geht – ist mir damals genauso gegangen.“
„Ohh, du Armer, lass dich mal drücken.“
Ich kenne das aus tausenden von Beobachtungen. Aber emotional bin ich davon sehr weit entfernt.
Meistens denke ich nur:
„Hä?“
Wenn ich nicht im Krisenmodus bin und mit anderen teile, was mich bedrückt, dann tue ich das vor allem aus drei Gründen:
a) Ich will ihnen nahe sein. Das tut mir gut. Das tut ihnen gut.
b) Ich will mich für sie verstehbar machen.
c) Ich will durch ihre Rückmeldung erfahren, ob ich etwas wichtiges übersehen habe oder falsch interpretiert habe.
Aber Mitgefühl?
Was soll ich damit?
Wenn ich in Krisensituationen bin, dann will ich erst recht kein Mitgefühl. Ich will auch kein Verständnis. Das hilft mir kein bisschen. Wenn ich in so einer Situation jemandem erzähle, was mich bedrückt, dann deshalb, weil ich jemanden brauche, der mir hilft, die Situation zu analysieren und Handlungsoptionen zu finden. Krisen werden durch die Tat überwunden, nicht durch Mitgefühl. Und vor der Tat steht logischerweise die klare Analyse der Situation.
Einschub
Exemplarisch deutlich werden diese Unterschiede zwischen NTs und mir immer wieder bei Filmen, die von NTs für NTs gemacht werden. Nehmen wir zum Beispiel „Der Herr der Ringe“. Ich kenne die Bücher, die diesen Filmen zugrunde liegen, in- und auswendig. Deshalb finde ich die Filme auch so zum Kotzen: In den Filmen wird so ziemlich jede Aussage, die Tolkien in seinen Büchern macht, ins Gegenteil verdreht oder zumindest grotesk entstellt.
Und da gibt es diese berühmte Szene in Moria an der Brücke von Khazad-dûm: Gandalf schwitzt wie so ein Affe unter der Hitze, die der Balrog absondert (in den sie offenbar ein kleines Atomkraftwerk eingebaut haben, so viel Energie kann der produzieren). Gandalf stellt sich dem Balrog auf der schmalen Steinbrücke entgegen und deklamiert: „You! Shall not! Pass!“ Er tappst energisch mit seinem Stab auf die Brücke. Die Brücke wird daraufhin baufällig und reißt den Balrog in den Abgrund. Und wie die Dramaturgie es eben so will – Gandalf stürzt mit ihm in den Abgrund. Gandalf ist nicht mehr zu retten. Der ist hin. Und dieser leicht schwachsinnige Frodo hat nichts anderes zu tun, als zur Brücke zurückzulaufen und laut und klagend: „Gandalf!“ zu brüllen. – Ganz so, als könnte er damit Gandalfs Sturz aufhalten oder wenigstens verzögern.
Gefühlt anderthalb Millionen Orcs sind gerade hinter ihm her und wollen ihm ans Leder. Und dieser Schwachkopf hat nichts besseres zu tun, als zur Brücke zurückzulaufen und zu versuchen, Gandalfs Sturz durch Jammern und Klagen aufzuhalten. Sowas käme mir nie in den Sinn. In so einer Situation renne ich wie der Wind und versuche, mich in Sicherheit zu bringen. All dein Mitgefühl und all dein Jammern wird an Gandalfs Sturz nichts ändern. Den kannst du später betrauern. Aber jetzt gilt eins: Bring dich in Sicherheit!
Die Verfilmung von Tolkiens Büchern ist voll von solch dysfunktionalem NT-Drama. Das kann nur bedeuten, dass die NTs sowas ungemein schätzen. Mitgefühl in Kampfsituationen? Was für ein Unsinn!
Einschub Ende
Zwischenfazit
NTs zeigen sich gerne und häufig gegenseitig Mitgefühl und Verständnis. Es gibt ihnen Kraft und stärkt ihr Gefühl der Verbundenheit.
Ich kann mit Mitgefühl und Verständnis beinahe nie was anfangen.
Sagst du mir, dass du Verständnis für mich hast, dann zucke ich mit den Achseln. Hast du also – na und? (Natürlich glaube ich dir kein Wort).
Sagst du mir, dass du Mitgefühl mit mir hast, schaue ich dich für einen kurzen Moment sehr genau an, um zu verstehen, ob du nicht alle Tassen im Schrank hast oder gerade irgendwelche Floskeln daherschwurbelst. (Natürlich glaube ich dir kein Wort. Aber ich will sehen, was deine Motivation ist, sowas zu sagen).
Seit einiger Zeit habe ich aber den Eindruck, dass ich in dieser Sache bis jetzt etwas wichtiges übersehen habe. Und vielleicht ist das ausschlaggebend. Ich will das hier mal aufschreiben. Vielleicht kann ich mich verständlich machen.
Dazu muss ich in zwei Schritten vorgehen und etwas ausholen. In einem ersten Schritt werde ich von meiner Arbeit erzählen, im zweiten Schritt von meiner Weiterbildung.
1
Aufgaben, die im Beruf bei mir landen, sind oft heftig. Das, wo sich kein anderer rantraut, das ist bei mir meistens richtig aufgehoben. Seit Jahren schon werde ich bei uns im Konzern in einem immer stärkeren Maße ins Konfliktmanagement einbezogen. (Nach allem, was ich sehen kann, bin ich der einzige Konfliktmanager, den wir bei uns haben). Und schon seit Jahren nehmen die Konflikte, mit denen die Menschen zu mir kommen, an Härte, Schwere und Intensität zu.
Das bedeutet nicht, dass die Menschen mehr und schwerere Konflikte haben als früher. Nur die Aufträge, die bei mir landen – die werden immer wuchtiger.
Dezember 2018
Eine der größten und besten Versicherungsagenturen, die wir bei uns haben, kommt auf mich zu. Sie wollen eine Teamentwicklung machen. Die drei Geschäftsführer haben mich mehrfach in Seminaren erlebt und dabei getestet. Sie haben meine Arbeitsweise kennengelernt und ausprobiert, wie ich auf bestimmte Problemstellungen und Provokationen reagiere. Nach einem Seminar, in dem sie alle drei gleichzeitig Teilnehmer waren, sitzen sie auffällig lange noch zusammen und bereden sich intensiv. Dann bittet mich einer von ihnen, zu dem Gespräch dazu zu kommen. Und so erfahre ich, dass sie in ihrer Agentur strukturelle Konflikte haben, und dass sie das mit mir mal angehen wollen.
Januar 2019
Wir treffen uns für ein Auftragsklärungsgespräch in der Agentur. Beinahe einen ganzen Tag sitze ich mit den drei Geschäftsführern in ihrer Hauptfiliale zusammen. Wir besprechen intensiv, was die Themen und die Rollen sein werden. Wir besprechen Aufgaben- und Zielstellungen. Es sind drei pickelharte Jungs – wirkliche Krieger. Aber sie haben das Herz auf dem rechten Fleck. Ich arbeite sehr gerne mit solchen Menschen zusammen. Da sie beruflich und sozial sehr erfolgreich sind, ist es wichtig, dass die Kinderanteile in ihnen begreifen, dass es bei so einer Teamentwicklung nur ein Alpha-Männchen gibt, und dass ich das bin und niemand sonst. Es muss jedem Beteiligten klar sein, dass in der Teamentwicklung meine Regeln gelten werden. Und dass jeder ein ernstes Problem hat, der dagegen verstößt. Ich stelle fest, dass die drei Alpha-Tiere der Agentur kein Problem damit haben, mir temporär die Führung zu überlassen. Darüber hinaus fallen die avisierten Konflikte in meinen Kompetenzrahmen, und der Auftrag ist ethisch gerechtfertigt – wir können also loslegen.
Februar 2019
Wir treffen uns im größten Raum in der größten Filiale der Agentur. Wir sitzen alle um einen Konferenztisch herum. 12 Leute sind da. Drei Frauen fehlen noch, wird mir mitgeteilt. Die mussten zu einem unverschiebbaren Außentermin. Das ist nicht besonders glücklich für die Situation. Aber ich bin gewohnt, mit den Situationen zu arbeiten, die ich vorfinde: Was ich mit meinen Kunden plane, und was ich dann am Ende tatsächlich vorfinde - das sind oft zwei ganz verschiedene Dinge.
Viele, die in der Agentur arbeiten, kennen mich aus Seminaren und Veranstaltungen. Die anderen haben zumindest von mir gehört. Ich stelle kurz mich und meine Arbeitsweise vor. Dann bespreche ich mit der gesamten Gruppe, wie wir diesen Tag gestalten können. Wir einigen uns auf ein bestimmtes Vorgehen und legen los. Es beginnt damit, dass jeder im Raum kurz sich und seinen Werdegang vorstellt und im Anschluss drei Fragen beantwortet:
a) Was gefällt mir gut an dieser Agentur?
b) Was gefällt mir weniger gut an dieser Agentur?
c) Wenn ich mir etwas für die Zukunft (in dieser Agentur) wünschen dürfte – was wäre das?
Nach ungefähr zwei Stunden schälen sich zwei schwerwiegende Konflikte heraus, die die Menschen in dieser Agentur schon seit Jahren mit sich herumtragen. Diese Konflikte sind strukturell – die lassen sich also nicht mal eben so lösen, sondern sie stecken in der Struktur dieser mittelständischen Firma. Wäre diese Firma ein Haus, dann hätten wir jetzt festgestellt, dass das Fundament ernste Schwächen aufweist, und dass Teile der tragenden Wände nicht tragen.
Ich habe – wie üblich – absolut keine Ahnung, wie man diese Konflikte lösen könnte. Das ist zum Glück auch nicht meine Aufgabe. Meine Aufgabe ist es,
a) die vorhandenen Konflikte sichtbar und besprechbar zu machen und
b) für einen Rahmen zu sorgen, in dem diese Konflikte konstruktiv bearbeitet werden können.
Das tue ich. Das ist etwas, was ich gut kann.
Die Lösungen müssen die Beteiligten dann selber finden.
Die Gruppe geht dazu über, unter meinem wachen und scharfen Blick die Themen, die all die Jahre unter den Teppich gekehrt wurden (Sprachbild) zu besprechen und Lösungen zu finden. Ich moderiere und ordne die Kommunikation und sorge dafür, dass sie konstruktiv bleibt. Wäre ich ein Arzt, dann wäre ich jetzt ein Zahnarzt, der mit einer komplizierten Wurzelbehandlung beschäftigt ist: Das ist für keinen der Beteiligten angenehm und kann durchaus schiefgehen. Aber so wie es war, kann es nicht bleiben, und wenn wir uns der Dinge annehmen, dann gibt es gute Chancen auf Besserung.
Am frühen Nachmittag sind wir mit den beiden Hauptkonflikten beinahe fertig. Es sind Lösungen gefunden worden, die tragfähig sein können. – Es geht um
a) veränderte (realistischere) Erwartungen aneinander
b) verändertes Rückmeldeverhalten zu erlebten Enttäuschungen
c) Umbesetzungen in den Teams
Die Gruppe ist erleichtert, dass das so glimpflich verlaufen ist. Die Stimmung wird gelöster, beinahe heiter.
Dann geht die Tür auf, und die drei Frauen, die auf Außentermin waren, kommen herein. Sie werden von den anderen mit viel Hallo sehr herzlich begrüßt. Ich schaue mir die Frauen an und denke nur:
„Ach! Du! Scheiße!“
Darauf hat mich keiner vorbereitet. Und ich habe keine Ahnung, wie das jetzt werden soll. Jetzt kann es richtig, richtig hässlich werden. Dieser Tag kann in einer Katastrophe münden.
Was habe ich gesehen?
Warum ist jetzt auf einmal „Ach! Du! Scheiße!“ ?
Warum bin ich nicht vorbereitet?
Eine der Frauen ist schwerst traumatisiert. Das sehe ich an der Art, wie sie beim Hereinkommen ihre Schultern bewegt. Das ist etwas ganz, ganz ernstes. Und was diese Frau offenbar nicht weiß, was ich aber sehen kann, wie den lichten Tag: Dieses Trauma ist gerade eben – vor ein paar Minuten – durch irgendwas angetriggert worden. Und ich mach‘ hier gerade Teamentwicklung!
Mit anderen Worten:
Entweder breche ich die Veranstaltung jetzt sofort ab, oder wir erleben hier in wenigen Minuten Traumaausbruch. Und wenn das Trauma in dieser Frau wieder akut wird, dann kann so ziemlich alles passieren. Es kann sein, dass sie einen Flashback hat – die traumatisierende Situation also erneut erlebt -, dass sie in die reaktive Psychose geht, dass sie suizidal wird, dass sie Leute angreift, rumschreit und mit Sachen um sich schmeißt …
Ich hab‘ all sowas bei der Arbeit schon mehrfach erlebt. Bis jetzt ist es mir immer gelungen, sinnvolle und nachhaltige Krisenintervention zu machen. Aber das ist keine Garantie, dass es auch diesmal wieder gut geht.
Jetzt ist hier also was geboten. Ich schaue mich kurz im Raum um:
Ich bin im Moment der einzige, der begreift, was hier gleich sein wird. Alle anderen sehen das nicht und sind ahnungslos. Ich entscheide mich für’s Weitermachen. Wenn wir weiter machen, habe ich die Situation noch einigermaßen unter Kontrolle. Ich kann für nichts garantieren, wenn wir das jetzt abbrechen.
Also stellen sich die drei Frauen vor und beantworten diese Fragen:
a) Was gefällt mir gut an dieser Agentur?
b) Was gefällt mir weniger gut an dieser Agentur?
c) Wenn ich mir etwas für die Zukunft (in dieser Agentur) wünschen dürfte – was wäre das?
Die Frau, die ich im Auge habe, ist als letzte dran. Als sie von ihrem Werdegang erzählt, thematisiert sie auch das Trauma, um das es geht – es ist das Übliche: Sie und ihr leiblicher Vater. Sie spricht davon, wie sie in dieser Agentur zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie eine Familie gefunden hat, wie viel ihr das bedeutet und dass sie das ausbauen will. Sie spricht, wie Traumatisierte das oft tun – Ohne. Jede. Emotion. Es hört sich an, als würde ein Blecheimer sprechen.
Ich habe aus dem Augenwinkel auch die Gruppe im Blick. Die Gruppe ist stark verunsichert. Niemand weiß so recht, was hier gerade vorgeht und wie man mit der Situation umgehen soll. Aber ich nehme wahr, dass alle Kinderteile der Anwesenden Vertrauen in mich haben und mir zutrauen, die Situation zu meistern.
Also los.
Die Worte der Frau mit der Blecheimerstimme verklingen. Eine angespannte Stille lastet auf der Gruppe. Ich lasse die Stille noch etwas wirken. Dann frage ich die Frau:
„Ist es ok für Sie, wenn ich etwas zu dem sage, was Sie da gerade erzählt haben?“
Die Frau bewegt sich steif, als wäre sie eingegipst. Sie dreht ihren gesamten Oberkörper zu mir. Leere Augen schauen mich an. Tonlos sagt sie:
„Ja“ und zuckt dazu ein wenig mit den Achseln.
Ich nehme den Faden auf:
„Das, was Sie gerade erzählt haben, ist wirklich schwerwiegend. Und ich habe den Eindruck, dass es keinen im Raum gibt, der nicht wirklich betroffen ist von dem, was Sie gerade erzählt haben. [Vielfältiges Nicken im Raum, das auch die Frau sehen kann]. Das, was Sie erzählt haben, lässt keinen hier kalt. Das ist bewegend. Das ist berührend. … Nur Sie – Sie haben das alles so erzählt, als ob Sie das alles irgendwie gar nichts anginge. Als ob das jemand ganz anderem passiert wäre. Das ist auffällig für mich.“
Es scheinen die richtigen Worte gewesen zu sein.
Die Frau bricht von jetzt auf gleich in Tränen aus. Sie löst sich geradezu auf in Tränen. Da sie neben dem ranghöchsten Geschäftsführer sitzt, lässt sie sich ein wenig gegen ihn sinken, und ihm gelingt es spontan, sie so in den Arm zu nehmen, dass sie Sicherheit fühlt. Und sie weint und weint und weint. Sie versucht immer wieder anzusetzen, etwas zu sagen. Aber die Tränen schwemmen alles weg. Ich sehe, dass die Frau beim Geschäftsführer für den Moment buchstäblich in guten Händen ist. Ich wende mich der Gruppe zu. Natürlich sind alle zutiefst betroffen und verunsichert. Durch Körpersprache und Blicke signalisiere ich, dass jetzt alles in Ordnung ist, und dass bitte niemand etwas sagt oder die Situation stört. Meine Signale werden verstanden und befolgt. Obwohl viele in der Gruppe jetzt sehr gerne etwas tun würden, um die Situation aufzulösen oder zumindest zu verändern, setzen sich alle dieser Situation aus und tun das einzige, was in einer solchen Situation zu tun ist: Wahrnehmen, fühlen und schweigen.
Nach ein paar Minuten beruhigt sich die Frau wieder ein wenig. Es wird wieder stiller im Raum. Ich frage sie:
„Wollen Sie etwas sagen?“
Die Frau sammelt sich und richtet sich in ihrem Stuhl wieder auf. Dann beginnt sie unter Tränen so ziemlich das gleiche zu erzählen wie vorhin auch. Nur dass diesmal die Emotionen mit dabei sind. Wir hören, wie sehr sie unter ihrem Vater gelitten hat, wie sehr sie sich immer gewünscht hat, irgendwo Sicherheit zu finden, wie sehr sie immer auf der Suche nach Unterschlupf und Familie war, wie viel es ihr deshalb bedeutet, Teil dieser Agentur geworden zu sein …
Diesmal ist es die Gruppe, die ich im Auge behalten muss. Wenn so etwas berichtet wird, kann das für die Zuhörer gravierende Folgen haben.
Wenn ich ein Arzt wäre, dann wäre ich jetzt ein Chirurg, der am offenen Herzen operiert. Dafür war ich heute nicht angetreten. Absolut nicht. Aber wenn die Situation schon mal da ist, ist es meine Aufgabe, das zu tun, was in meiner Macht steht.
Die Gruppe wird mit Emotionen überladen. Ich sehe bei einigen Teilnehmern deutliche Zeichen der Überlastung. Es ist nicht leicht, sich sowas anzuhören und konzentriert dabei zu bleiben. An der Körperspannung sehe ich, dass einige anfangen, Fluchttendenzen zu entwickeln – Fluchttendenzen nach innen und Fluchttendenzen nach außen. Wenn ich jetzt auch nur einen einzigen in der Runde habe, der auch traumatisiert ist und dessen Trauma jetzt angetriggert wurde, dann habe wir alle gleich ein ziemliches Problem. Aber ich kann nichts dergleichen erkennen. Die Leute fühlen sich nicht wohl, und das ist völlig in Ordnung.
Die Frau kommt zum Ende. Ihre Tränen fließen jetzt ruhig und nicht mehr so eruptiv. Ich frage sie:
„Würde es Sie interessieren, wie das, was Sie grade gesagt haben, bei der Gruppe angekommen ist?“
Sie schweigt und nickt heftig.
Ich wende mich der Gruppe zu:
„Ok. Keiner hier im Raum fühlt sich jetzt wohl. Das ist in Ordnung so. Das darf sein. Jetzt ist nicht die Zeit zum Wohlfühlen. Ich sehe, dass viele im Raum gerne sagen würden, was in ihnen ist. [Vielfältiges Nicken].
Deshalb gilt jetzt: Sie geben Frau [Name] Rückmeldung. Aber das ist wichtig: Einer nach dem anderen. Es spricht immer nur einer auf einmal. Unterbrechen Sie einander nicht. Lassen Sie einander ausreden, ergänzen Sie einander nicht. – Einer nach dem anderen! Berichten Sie Frau [Name], was Sie gerade erlebt haben, und wie es Ihnen dabei ging. Frau [Name] darf dazu Nachfragen stellen und sich dazu äußern. Und wenn der erste fertig ist, werde ich Frau [Name] fragen, ob es ok ist, wenn jetzt der nächste berichtet. Und wenn Frau [Name] zustimmt, ist dann der nächste dran. Ist das ok für Sie so?“ Allgemeines erleichtertes Nicken.
Und so bekommt die schwerst traumatisierte Frau sehr sensible, sehr sanfte und sehr emotionale Rückmeldung zu ihrem Ausbruch. Ich höre mir viele, viele Dinge an, von denen ich weiß, dass sie nicht funktionieren können. Viele lieb gemeinte Illusionen. – Wer schwerst traumatisiert ist, der kann sein Trauma nicht dadurch überwinden, dass er liebevolle Aufnahme in seinem Arbeitsteam findet. Das funktioniert nur in schwülstigen Hollywood-Filmen. Aber ich schweige dazu. Das hier ist Teamentwicklung und nicht Therapie. Und ich bin sehr froh, dass die gesamte Gruppe so konstruktiv, fürsorglich und auffangend auf diese Frau reagiert.
Wir besprechen noch vieles. Der Tag endet deutlich intensiver als das von irgendwem geplant oder vorausgesehen worden war. Die Teilnehmer sind sich deutlich näher gekommen als sie das vorher geahnt hatten. Und ich überlege mir, ob es nicht allmählich an der Zeit ist, dass ich mich beruflich etwas anders aufstelle. Ich brauche Fortbildung in Sachen Trauma. Ich brauche mehr Handwerkszeug. Das ist schon die zweite wirklich schwerwiegende Traumatisierung, mit der ich in diesem Jahr bei meiner Arbeit konfrontiert werde. – (Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass im Verlauf des Jahres noch vier weitere folgen werden).
2
Januar 2020
Fortbildungsangebote in Sachen Trauma zu finden, ist nicht weiter schwierig. Das Internet ist voll davon. Aber ich finde beinahe nichts, was mir auch nur ansatzweise zusagt. Über 98% dessen, was mir da angeboten wird, sortiere ich sofort als „Psychobabble“ weg. Der Rest beschränkt sich auf wenige Angebote im psychotherapeutischen Bereich und ein paar Bücher.
Ich arbeite im Konzern nicht als Psychotherapeut. Das ist nicht meine Aufgabe, und der Konzern stellt auch nicht den dafür notwendigen Rahmen zur Verfügung. Und wirksame Traumaarbeit unterhalb der psychotherapeutischen Schwelle scheint nicht zu existieren. Was machen eigentlich die ganzen Sozialarbeiter, Flüchtlingshelfer und Streetworker, wenn sie auf schwerst traumatisierte Menschen stoßen? Sind sie dann betroffen und voller Mitgefühl? Äußern sie dann ihr Verständnis?
Aber egal.
Ich habe mich zu einem eintägigen Kongress einer recht bekannten psychotherapeutischen Vereinigung angemeldet, der unter der Überschrift „Trauma und Traumabewältigung“ angeboten wird. Es gibt ein Impulsreferat und daran anschließende Workshops. Das ganze ist erschwinglich und findet in für mich gut erreichbarer Nähe statt – also los.
Als ich in das Kongresszentrum komme, stelle ich fest, dass viel mehr Teilnehmer gekommen sind, als ich erwartet hatte. Ich hatte gedacht, dass vielleicht 20 bis 30 Leute kommen würden. Aber es sind deutlich über hundert da. Vielleicht sind es sogar 200. Alles Psychotherapeuten. Man kennt sich, man liebt sich - Umarmungen, Küsschen hier, Küsschen da, herzliche und warme Worte, jede Menge Mitgefühl, Kaffee, selbstgebackener Kuchen … Na klasse.
Als jeder seinen Sitzplatz gefunden hat und auch die fertig sind, die immer bei solchen Anlässen vor dem eigentlichen Ereignis salbungsvolle Worte zum Volk sprechen, wird da vorne ein Beamer aufgebaut, und irgendeine Frau murkst da an ihrem Laptop rum. Sie bekommt ein Mikrofon und erzählt uns dann, dass sie Psychotherapeutin aus Berlin sei und dies und das und jenes. Was Menschen halt so erzählen, wenn sie sich vorstellen.
Ich habe meine dicke, schwarze Kladde auf den Knien und meinen schwarzen Stift in der Hand. Meine Kleinen warten zunehmend ungeduldig darauf, dass es endlich losgeht. Wir sind nicht für Grußworte und NT-Bla-Bla hergekommen. Und Blechkuchen und herzliche Umarmungen interessieren uns auch nicht. Kein bisschen. Wir wollen Information.
Dann beginnt die Frau da vorne ihren eigentlichen Vortrag. Sie hat zahlreiche Powerpointfolien mitgebracht, die ihren Vortrag strukturieren. Ihre Stimmlage und ihre Körperspannung verändern sich, und ihr Vortrag nimmt Fahrt auf. Sie bewegt sich jetzt auf einem Gebiet, auf dem sich ihre Kleinen ganz, ganz sicher fühlen. Und schon nach wenigen Worten wispern meine Kleinen aufgeregt:
„So redet nur jemand, der Viele ist.“
Das ist doch mal was – endlich begegnen wir mal einem anderen Vortragenden, der Viele ist. Wir können nicht sagen, wie viele diese Frau ist, aber mehr als zwei Dutzend Anteile sind gut zu sehen. Diese Frau scheint zu wissen, wovon sie spricht.
Und dann bekommt der Vortrag für uns (meine Kleinen und mich) auf einmal eine Wendung. Die Frau beginnt davon zu erzählen, wie es in Traumatisierten aussieht. Und das, was sie erzählt und wie sie es erzählt, lässt nur einen einzigen Schluss zu:
Die Frau weiß Bescheid.
Diese Frau weiß wirklich Bescheid. Sie redet nicht nur gescheit und gelehrt daher – sie weiß!
Sie redet von uns (meinen Kleinen und mir).
Sowas kann nur wissen und so kann nur berichten, wer dort war. Wer dort seine Heimat und seinen Ursprung hat. Das unterscheidet die, die dort waren von den Gelehrten: Die Gelehrten reden über das Trauma. Die, die es angeht, die reden vom Trauma. Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.
Und die Frau erzählt nicht über Trauma, sie redet vom Trauma. Ruhig und gelassen geht sie Folie für Folie durch. Nie verlässt sie die Rolle der Psychotherapeutin - auch dann nicht, als sie einmal kurz von eigenen Lebenserfahrungen spricht. Und sie berichtet sehr kenntnisreich von dem, was in einem Traumatisierten ist. Meine Kleinen sind hingerissen: Sie erzählt von Dingen, die wir noch nie jemandem erzählt haben, weil es nur für uns ist. Sie erzählt in einer sehr wertschätzenden Weise, die niemals herablassend wird, und in kürzester Zeit sehen wir verschiedene sehr wichtige Verknüpfungen zwischen Aspekten von Traumata, die völlig logisch sind, die uns bislang aber noch gar nicht aufgefallen waren.
„Sie weiß Bescheid“, sagen meine Kleinen immer wieder.
Wir schreiben sehr, sehr viel mit.
„Sie weiß Bescheid!“
In einigen grundlegenden Aspekten sehen wir die Dinge ziemlich anders als diese Frau. Mehrfach schütteln meine Kleinen energisch den Kopf:
Aber das macht nichts. Die Frau weiß Bescheid. Zum ersten Mal in unserem Leben erleben wir jemanden, der Bescheid weiß. Ihre Art, mit Trauma und Traumafolgen umzugehen, ist nichts für uns. (Wem es nützt, oder wen die Sehnsucht da hinzieht, der soll das so machen. Ich bin sehr sicher, dass diese Frau im Gegensatz zu vielen anderen, die auf dem Markt sind, Traumatisierten wirksam und nachhaltig helfen kann).
In all den Monaten davor hatten wir uns immer wieder wütend durch Aufsätze zum Thema Traumatisierung geklickt, durch Bücher gewühlt und uns Referate angehört:
Nie hatten wir den Eindruck, dass irgendwer von uns sprach oder schrieb, wenn er über Traumatisierte sprach oder schrieb. Nur einen einzigen hatten wir gefunden, der wusste einigermaßen Bescheid. Aber der schrieb über uns. Er gehörte nicht dazu. Der wusste abstrakt Bescheid, aber er war emotional ganz, ganz weit weg von uns.
Hier bei diesem Vortrag ist das anders. Meine Kleinen taufen diese Frau die „Traumatante“. Und die Traumatante schildert das alles so kenntnisreich und in so einfachen Worten, dass uns klar wird, dass sie die letzten paar Jahrzehnte beruflich nichts anderes gemacht hat als Traumaarbeit. Man muss diese Thematik wirklich absolut durchdrungen haben, um sie so einfach und so strukturiert darstellen zu können. Sie ist die Meisterin des Traumas. Trauma - das ist ihr Leben, das ist ihre Mission. Wäre sie ein AS (was sie leider nicht ist), dann wäre Trauma ihr Spezialinteresse. Sie weiß Bescheid.
Schon während des Vortrages ist an der Art, wie die Zuhörer atmen und wie ihre Körperspannung ist, ganz genau zu sehen, wen das Thema betrifft, und wer nur interessiert zuhört. Es betrifft maximal zehn Prozent der Zuhörer. Und natürlich übernehmen die interessierten Zuhörer nach dem Vortrag sofort die Regie. Es gibt sehr viele Fragen, die Betroffenheit, Hilflosigkeit und Ahnungslosigkeit signalisieren. Ich kann nicht ein einziges Mal erkennen, dass ein Betroffener zu Wort kommt. Die Interessierten sind schneller, hartnäckiger und drängender mit ihren Fragen - und sie sind deutlich mehr. Dann wird Pause verkündet, und es gibt Kaffee, Saft, Blechkuchen, Umarmungen, warme Worte, Smalltalk. Die interessierten Zuhörer entspannen sich sichtlich. Die anderen nicht.
Stunden nach dem Vortrag dämmert es uns allmählich:
Vielleicht sind wir hier zum ersten Mal in unserem Leben auf einen Menschen gestoßen, der Verständnis für uns hat. Das ist eine ganz, ganz neue Erfahrung für uns. Bislang wurde uns gegenüber von Verständnis immer nur geredet. Jetzt hat ein Mensch für uns Verständnis. Auch das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Bislang war ich der einzige, der für meine Kleinen Verständnis hatte. Wir sind uns sicher: Diese Frau hat es auch.
Vielleicht ist es so, dass wir nie nach dem Verständnis anderer gesucht haben, weil niemand versteht. Es ist gut möglich, dass uns das angebliche Mitgefühl der anderen völlig gleichgültig geworden ist, weil mit uns nur jemand mitfühlen kann, der da war. Es ist ein Riesenunterschied, ob jemand von Mitgefühl redet oder ob er tatsächlich mitfühlen kann.
Fazit für die NTs unter meinen Lesern:
Wenn euch ein AS etwas erzählt, was ihn im Innersten bewegt:
a) Hört zu und redet nicht direkt wieder euer Zeug da drauf.
b) Hütet euch zu sagen: „Das kann ich gut verstehen.“ Ihr könnt es nicht. Akzeptiert das mit Demut.
c) Hütet euch vor eurem ewigen: „Das geht mir genauso!“ – Eure Ignoranz kann unverschämt und verletzend wirken. Es geht euch nicht genauso. Nicht mal annähernd.
d) Behaltet euer Mitgefühl in so einer Situation für euch. Ihr könnt da nicht mitfühlen. Ihr seid keine Autisten. Natürlich fühlt ihr etwas in so einer Situation. Aber es sind eure Gefühle, nicht die des Autisten. Habt Mitgefühl mit euch selber.
Ich bin Autist. Mir geht es mit euch genauso. Ich kann sehr oft nicht innerlich nachvollziehen, wie es euch NTs geht. Ich kann es sehr oft nur aus meinen Beobachtungen schlussfolgern. Aber das ist nicht weiter wild:
Wir müssen uns in den anderen nicht hineinversetzen können, um ihn respektieren zu können. Umgekehrt gilt: Wenn wir tatsächlich glauben, nur das respektieren zu können, was wir auch verstehen, dann wird es uns ziemlich unmöglich, mit anderen in Frieden zu leben.
Wir können mit Demut darauf reagieren, dass wir den anderen nicht verstehen und vermutlich auch nie verstehen werden. Das ändert ja nichts daran, dass der andere ein vollwertiger und liebenswerter Mensch ist.
Liebe NTs, erzählt mir also bitte nichts von eurem (angeblichen) Verständnis und eurem (angeblichen) Mitgefühl für mich. Ich seh‘ ja, wie sehr ihr euch bemüht, Verständnis und Mitgefühl für mich zu haben. Aber davon hat niemand was.
Begegnet mir mit Respekt. Begegnet mir mit Respekt, auch und gerade dann, wenn ihr nicht versteht und nicht mitfühlen könnt.
Das wäre schon eine ganze Menge.
Ihr könnt euch nur ansatzweise in mich oder meine Situation hineinversetzen. Daraus folgt, dass ihr nur ansatzweise Mitgefühl mit mir oder Verständnis für mich haben könnt.
Wenn ihr Respekt für mich aufbringt, dann reicht mir das völlig.
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