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Lauter Irrtümer 09 - Der autistische Schlawiner und das Gesetz

*** Der Begriff Schlawiner bezeichnet laut Wikipedia

 

(1) Einen pfiffigen und gerissenen Menschen

(2) Einen gerissenen Gauner

(3) Einen unzuverlässigen Menschen ***

 

 

Ich bin ein Schlawiner.

Immer schon gewesen.

Schon als sehr kleines Kind.

 

Wenn ich lese, was neurotypische Experten über Asperger-Autisten (AS) schreiben, stelle ich fest, dass sie sich ziemlich einig sind, dass AS dazu neigen, sich an Gesetze und Regeln zu halten. Dass sie das in einem (deutlich) stärkeren Maße tun als die Neurotypischen (NT).

 

Ok. Das nehme ich zur Kenntnis. Und ich nehme an, dass das tatsächlich für die meisten AS gilt. Aber für mich gilt es nicht. Ich bin ein ziemlicher Schlawiner. Regeln sind für mich etwas, was ich jederzeit breche, wenn ich den Eindruck habe, dass das besser ist. Ein Internet-Meme, das ich letztens fand, brachte es sehr gut auf den Punkt:

 

Rules are made to be broken!

Unless following them is logical …

Or strategically advantageous …

Or has a higher probability of success.

But mostly they’re made to be broken.

 

Besser kann ich es auch nicht ausdrücken.

Lange Jahre krähten meine Kleinen vergnügt: „Gebt mir Regeln! Ich breche jede Regel!“

 

Ganz so ist es nun nicht:

Ich achte darauf, dass ich keinen Menschen schädige oder in Gefahr bringe. Ich übervorteile niemanden. Ich nehme niemandem was weg und ich stelle mich auch nicht über andere Menschen. Aber mein Verhältnis zur Wahrheit zum Beispiel – das ist durchaus taktischer Natur. Warum sollte ich dir die Wahrheit sagen, wenn du das benutzen wirst, um mir oder anderen zu schaden? Glaubst du, ich bin bescheuert?!

 

Ich schreibe diesen Text zur Hochzeit der Corona-Krise. Selbstverständlich halte ich mich an die verordneten Verhaltensregeln. Ich will niemanden schädigen oder in Gefahr bringen. Aber Regeln einhalten, nur weil sie da sind? Das kommt überhaupt nicht in Betracht. Auf gar keinen Fall. Es gibt Normen und Prinzipien, die stehen über jeder Regel.

 

Es gibt also keine Regel, die ich nicht hinterfrage.

Und ich entscheide dann, ob ich mich an die Regel halte, nicht die Regel.

 

Ich will das anhand von Beispielen verdeutlichen

 

1

Ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt. Wir wohnten damals in der Nähe der Bahnschienen. Die Bahnschienen führten hier durch dichten Wald. Am Bahndamm zu spielen war immer spannend. Es war zwar nicht direkt verboten, aber die Erwachsenen sahen es nicht gerne.

 

Auf dieser Strecke fuhr der Zug nur zweimal in der Stunde durch. Wir wussten, dass er immer um fünf Minuten vor der vollen Stunde und um zehn Minuten nach der vollen Stunde durchfuhr. Kein Problem also.

 

Eines Tages fanden wir etwas abseits des Bahndamms eine Schieblore. Das war ein größerer Holzkasten, an dem unten kleine Eisenbahnräder befestigt waren. Irgendwelche Arbeiter hatten ihn bei Reparaturarbeiten benutzt, um mit ihm Werkzeug und Material auf den Schienen zu transportieren. Jetzt brauchten sie ihn nicht und hatten ihn deshalb ins Gebüsch gelegt.

 

Wir waren zu dritt. Wir waren alle so um die zwölf, dreizehn Jahre alt. Und so eine verlassene Schieblore zu finden, das war beinahe wie Weihnachten. Das roch nach Abenteuer, das roch nach Fünf Freunden (Bücher von Enid Blyton) und nach Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Wir schauten auf die Uhr. Der nächste Zug würde erst in zwanzig Minuten kommen. – Zeit genug.

 

Gemeinsam wuchteten wir die Lore auf die Schienen. Zwei setzten sich rein, einer schob – und looooos ging‘s! Die Abenteuer begannen. In unserer Fantasie waren wir sonstwo – in einerverlassenenGoldmine im Klondike, auf einer einsamen Pionierstrecke im australischen Outback …

 

Ich war gerade mit Schieben dran, als mir irgendwas merkwürdig vorkam. Ich drehte mich um, und hinter mir baute sich der Zug auf. Wenn sich so ein Zug mit hoher Geschwindigkeit nähert und nur noch zehn Meter entfernt ist, ist er groß wie ein Hochhaus. Ich nahm von jetzt an alles nur noch in extremer Zeitlupe wahr. Jedes Geräusch war verschwunden. In völliger Lautlosigkeit sah ich:

 

Wir poppten aus dieser Lore und von den Schienen wie die Sektkorken. Ein Mensch in Lebensgefahr kann richtig hoch und weit springen. Wir überschlugen uns und purzelten den Hang hinunter. Sträucher, Brombeergestrüpp. Im Fallen sah ich, wie die Lokomotive auf die Lore prallte. Die Lore wurde komplett zersplittert, und die Lokomotive fuhr durch einen wahren Kranz aus Holzsplittern und Metalltrümmern hindurch.

 

Dann fehlen mir da in meiner Erinnerung ein paar Sekunden. Es war alles totenstill. Wir Kinder saßen völlig verstört und geschockt im Unterholz, keine dreißig Meter vom Bahndamm entfernt. Auf der anderen Seite der Schienen sahen wir durch das Geäst die nahe Siedlung. Der Zug war nicht weitergefahren, sondern stehengeblieben. Er stand einfach da. Und dann kamen da Leute raus. Schaffner, Zugführer, Passagiere. Sie kamen und guckten. Und wir wussten, was uns blühte, wenn sie uns im Unterholz entdeckten.

 

Dann kamen Menschen, die in der nahegelegenen Siedlung wohnten. Sie strömten regelrecht zum Schauplatz. Wir machten uns noch kleiner in unseren Verstecken. Keiner rührte sich. Keiner sagte was. Die Minuten vergingen. Die Leute begannen auszuschwärmen. Offenbar suchten sie uns.

 

Dann kam ein Polizeiauto langsam in die Siedlung gefahren. Drei Polizisten stiegen aus. Sie kamen zum Zug. Sie sahen sich das alles genau an. Sie fingen an, mit den Leuten dort zu reden. Die Leute aus der Siedlung, die ausgeschwärmt waren, gingen wieder zurück zu den Schienen und drängten sich um die Polizisten.

 

Dann kam ein zweiter Streifenwagen langsam in die Siedlung gerollt. Diesmal stiegen vier Polizisten aus. Diese Polizisten gingen zu ihren Kollegen. Und dann machten sie Gesten und Kopfbewegungen in unsere Richtung. Und ich wusste, dass uns nicht mehr viel Zeit blieb. Es war nicht das erste Mal, dass ich von Erwachsenen verfolgt wurde. Es war nicht das erste Mal, dass Polizei im Wald nach mir suchte. Ich hatte also meine Erfahrungen:

  1. Sie wissen nicht genau, wen sie suchen – sie haben nur eine ganz vage Beschreibung
  2. Sie sind im weglosen Wald lange nicht so gut zu Fuß wie ich.

Normalerweise half also immer weglaufen. Die Jacke mit dem Innenfutter nach außen tragen, damit man anders aussieht als vorher und sobald man halbwegs in Sicherheit ist – rennen wie der Wind. Im weglosen Wald mit viel Unterholz und Gestrüpp war ich bislang jedem Polizisten und jedem Erwachsenen überlegen gewesen.

 

Ich drehte mich vorsichtig nach hinten um, um zu schauen, ob wir in diese Richtung abhauen konnten. Hinter uns begann sehr übersichtliches Gelände – Kleingärten und eine weitere Siedlung. Keinerlei Deckung, dafür aber neugierige Menschen. Da, wo wir im Unterholz saßen, führte ein schmaler Pfad parallel zum Bahndamm durch den Wald.

 

Diesmal gab es also keine Möglichkeit, sich unauffällig zu verdrücken und dann zu rennen wie der Wind. Trotzdem zog ich so schnell und so leise wie möglich meine Jacke aus, drehte das Innenfutter nach außen und zog sie wieder an. Die sieben Polizisten und die von ihnen rekrutierten Milizionäre begannen, sich in Bewegung zu setzen.Sie schwärmten aus. Die Menschenjagd hatte begonnen. Sie kamen über den Bahndamm herunter in unsere Richtung. Ungefähr dreißig Leute – Erwachsene, Jugendliche, Kinder. Sie schienen keine Ahnung zu haben, wo wir genau waren, denn sie verteilten sich über ungefähr zweihundert Meter Strecke.

 

Hier war jetzt also sehr schnelles und sehr sicheres Handeln gefordert. Aus Gründen, die ich nicht kenne, bin ich krisenfest. Dass ich kopflos oder gar panisch reagiere, kommt praktisch nie vor. Ich dachte in dieser Situation sehr schnell. Und ich erkannte unsere einzige Chance. Die beiden anderen schlossen sich mir an.

 

Die Polizisten und die Leute der Bürgermiliz waren in dem unwegsamen Gestrüpp schlecht zu Fuß. Brombeerhecken, Sträucher, Gestrüpp – nix gut für jemanden, der es nicht gewohnt ist. Links von uns hatten sich aus irgendwelchen Gründen die Kinder und die Jugendlichen gehäuft. Kein Erwachsener war dort zu sehen. Wir krochen also im Schutz einer dichten Brombeerhecke langsam und so leise wie möglich nach links. Immer parallel zu den Bahnschienen. Es gab keine andere Möglichkeit. Immer weiter. Es gelang uns tatsächlich, ungesehen so weit nach links zu kommen, dass wir den äußersten Flügel der Milizionäre rechts von uns sahen.

 

Aber jetzt war jede natürliche Deckung zu Ende. Hier standen nur junge Laubbäume, und es gab keinerlei Unterholz, keine Brombeeren, kein Gebüsch. Hier verbreiterte sich der schmale Pfad, der parallel zum Bahndamm entlanglief und wurde zum Weg. Wer auch immer hier ging – er wurde gesehen.

 

Es gab also nur eins – in einem günstigen Moment, als die, die uns suchten, zeitgleich woanders hinschauten, erhoben wir uns und schlenderten neugierig und gelassen in Richtung Unfallstelle. Wir waren sicher – wenn wir uns unter die Kinder und die Jugendlichen mischen, können die Polizisten uns nicht erkennen. Sie wissen nicht genau, wen sie suchen. Zumindest mich würden sie nicht kriegen. Da war ich ganz sicher und entschlossen.

 

Das liest sich hier so simpel. Aber ich bin sicher, dass mein Puls die ganze Zeit jenseits der 200 bpm war. Nach dem Schock durch den Unfall begann jetzt der Stress durch die Menschenjagd. Griffen die Polizisten mich auf und lieferten mich bei meinen leiblichen Eltern ab, dann konnte es lebensgefährlich für mich werden.

 

Wir kletterten den Bahndamm hinauf. Wir gingen langsam in Richtung Unfallstelle. Wir mischten uns unter die Kinder und Jugendlichen und taten so, als ob wir neugierig seien. Wir achteten dabei darauf, keinem Erwachsenen und vor allem keinem Polizisten zu nahe zu kommen. Den Kindern war ziemlich egal, wer wir waren. Die kamen nicht auf die Idee, das nach uns gesucht wurde.

 

Auf der anderen Seite des Bahndamms stiegen wir dann wieder hinunter in Richtung Siedlung. Betont langsam und gelassen gingen wir in den Wald, der dort begann. Beton langsam verließen wir den Fußweg und drückten uns ins Unterholz.

 

Und dann rannten wir wie der Wind.

 

 

2

Ich bin Anfang dreißig. In meinem kleinen Opel Corsa bin ich auf der Autobahn unterwegs. Ich muss zur Arbeit. Da ich zu spät von daheim losgefahren bin, wird es schwer für mich, pünktlich zu sein. Da ich aber noch in der Probezeit bin, ist es wichtig, dass ich pünktlich komme. Also halte ich mich nicht ganz so an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Jedenfalls nicht so, wie die StVO das vorsieht. Die Autobahn ist völlig frei, also gefährde ich niemanden, wenn ich jetzt schneller fahre – also los. Vollgas. Ich komme gut voran. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich doch noch pünktlich komme, steigt mit jeder Minute.

 

In einer sehr lang gezogenen Kurve fährt auf der rechten Spur ein langsamer, sehr breiter und behäbiger brauner PKW. Keine Ahnung, welche Marke – ich kenne mich nicht aus mit Autos. Wir beide sind allein auf weiter Flur. Deshalb setzte ich zum Überholen an. Ich schätze mal, dass ich 80 km/h schneller bin, als man das zur Zeit sein darf. Genau weiß ich das nicht. Keine Zeit, auf irgendwelche Schilder zu achten. Keine Zeit, auf den Tacho zu gucken.

 

Gerade als ich diesen bräsigen, geierkackefarbenen PKW überhole, blitzt es direkt vor mir und freundlich zu mir herein. Es blitzt, wie es immer in solchen Situationen blitzt. Und ich fühle mich, wie ich mich immer in solchen Situationen fühle. Und ich verhalte mich auch so, wie ich mich immer in so einer Situation verhalte:

Ich fluche.

Ich nehme abrupt das Gas weg, um auf meinen Tacho zu schauen und im Kopf zu kalkulieren, was das für Folgen haben wird. Ich denke in dieser Situation sehr schnell:

Ich kann’s drehen und wenden, wie ich will – das ist das, was ich eine „Der-Lappen-ist-weg-Geschwindigkeit“ nenne. Dann aber fällt mir auf, dass ich exakt zu dem Zeitpunkt geblitzt wurde, als ich diesen anderen Wagen überholte. Sie können also gar nicht wissen, wer von uns beiden da so schnell gefahren ist. In heiterer Gelassenheit und wesentlich langsamer fahre ich weiter durch diese langgezogene Kurve. Der andere PKW ist jetzt ca. hundert Meter hinter mir.

 

Ich fahre an einem großen und schweren Polizeiwagen vorbei, der da auf dem Seitenstreifen steht. Als ich ihn passiere, setzt er sich in Bewegung. Ich denke:

„Nanu?“

Ich schaue in den Rückspiegel: Die Jungs treten richtig auf’s Gas. Aber ihr Wagen ist ziemlich schwer, so dass er deutlich langsamer beschleunigt als mein kleiner und leichter Corsa.

 

Ich schaue erneut in den Rückspiegel – der Polizeiwagen ist jetzt ungefähr 200 Meter hinter mir. Aber er wird schneller und holt auf. Und die Jungs haben ihr Blaulicht eingeschaltet! Wen die wohl suchen?

 

Und mit einem Mal begreife ich, was hier passiert:

Das gilt mir! Genau für diesen Fall, dass man anhand des Fotos nicht beweisen kann, wer hier so schnell gefahren ist, hat sich das Auge des Gesetzes dort postiert. Sie wollen mich also jagen, zur Strecke bringen und meinen Führerschein gleich einziehen. Schlechte Aussichten. Bilder von klickenden Handschellen stehen mir vorm inneren Auge.

 

Aber in Krisensituationen reagiere ich eiskalt. Es ist nicht das erste Mal, dass die bewaffnete Staatsgewalt Interesse an meinem Führerschein zeigt. Bislang haben sie mich nie gekriegt. Ich denke sehr, sehr schnell. Im Kopf spule ich Formeln zur Geschwindigkeit und zu Beschleunigung ab. Kraft ist Masse mal Veränderung der Geschwindigkeit pro Sekunde. Die Veränderung der Geschwindigkeit pro Sekunde, die meine Verfolger hier an den Tag legen, ist atemberaubend. Dem kann ich nichts entgegensetzen. Masse ist hier also das einzige, was mich retten kann. Denn mein Schrumpelcorsa gegen diese Polizeilimousine – das ist wie Nashorn gegen Wombat. Mein Wagen hat nicht annähernd soviel Kraft wie ihrer. Ich kann nicht so schnell beschleunigen wie sie. Ich kann nicht mal annähernd so schnell werden wie sie. Aber ich kann sehr viel schneller als sie langsamer werden – meine einzige Chance. Ich habe eine Idee.

 

Die Kurve ist langgezogen und ich weiß, dass sie hinten in eine vier Kilometer lange Gerade münden wird. Ich habe maximal 20 Sekunden Zeit.

 

Es geht los. Ich trete das Gaspedal meines Corsas bis in die Ölwanne. Die Jungs hinter mir kriegen das mit und reagieren dementsprechend: Blaulicht, Tatü-tata. Sie geben Gas! Und wie sie Gas geben! Gepard jagt Gnu. The heat is on. Die Kurve verengt sich am Ende, so dass ich sie verlassen kann, ohne, dass sie mich sehen. Das ist meine einzige Chance. Dann kommt diese ewig lange Gerade. Und ich habe Glück:

Auf der rechten Spur ist diese nicht endende Kette nationaler und internationaler LKW. Die anderen beiden Spuren sind dicht befahren mit zügig fließendem Berufsverkehr. Alles sehr unübersichtlich – Glück für einen autistischen Schlawiner in einem Schrumpelcorsa.

 

Direkt am Ende der Kurve schaue ich nochmal in den Rückspiegel – kein Polizeiauto zu sehen. Ich fahre 180 km/h – mehr gibt mein Wagen nicht her - und die sind mit gefühlt 250 km/h unterwegs. Ich überhole auf der mittleren Spur die ersten beiden LKW und bremse dann abrupt ganz stark ab, um mich zwischen den zweiten und den dritten LKW zu schieben. Dort ist noch genug Platz.

 

Und so rolle ich keine zwei Sekunden später mit 90 km/h zwischen zwei LKW auf der rechten Spur langsam und gemächlich vor mich hin.

 

Nur Sekunden später schießt auf der linken Spur eine schwere Polizeilimousine mit Blaulicht und Höchstgeschwindigkeit an mir vorbei. – Gute Reise, Jungs.

 

 

3

Zehn Jahre später. Ich bin abends mit dem Auto in Köln unterwegs. Ich will nach einem laaaangen Arbeitstag nach Hause. Ich habe Verantwortung in so vielen nationalen und internationalen Projekten, dass ich nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht (Sprachbild). Als ich langsam in Richtung Autobahn fahre, sehe ich, dass ich völlig alleine auf der Straße bin. Klar - die anderen sind schon alle daheim. Es ist Mittsommer und noch freundlich hell, obwohl es schon so spät ist. Ich will noch ein letztes Telefonat erledigen. Da ich keine Freisprecheinrichtung habe, tue ich das beim Fahren. Das tue ich sonst nie, weil es so gefährlich ist. Die Unfallwahrscheinlichkeit steigt um mehr als das achtfache, wenn man mit dem Handy am Ohr Auto fährt. Aber hier bin ich alleine unterwegs. Ich gefährde niemanden außer mir.

 

Und dann kommt es zu einer Situation, die so unwahrscheinlich ist, dass man sie einem Drehbuchautor nicht abnehmen würde, wenn er sie für einen Film nutzen wollte:

Ich fahre in einem Winkel von 90 Grad auf die Autobahn zu und fädele mich auf die Autobahnauffahrt ein. Die Autobahn liegt ungefähr fünf Meter höher als die Auffahrt. Genau in diesem Moment fährt dort oben ein Polizeiauto vorbei – langsam und auf der rechten Spur. Und gerade in diesem Moment schaut der Polizist auf dem Beifahrersitz runter zu mir. Er sieht, dass ich im Auto fahre und dabei mit dem Handy am Ohr telefoniere. Er sieht das, und er registriert das. Ich sehe, wie er sich abrupt zum Fahrer umwendet und dem was sagt. Ich weiß genau, was mich jetzt erwartet – und die abendliche Mittsommersonne scheint freundlich dazu.

 

Aber ich kann unmöglich meinen Wagen auf der Autobahnauffahrt anhalten oder drehen. Wie jede Autobahnauffahrt ist das eine langgezogene Kurve und ich habe keine Ahnung, wer hinter mir fährt. Ich würde mich und andere in Lebensgefahr bringen, wenn ich das tun würde.

Ich überlege kurz, das Handy einfach aus dem Autofenster zu schmeißen und bei der anstehenden Kontrolle blöd zu tun: „Handy? Welches Handy? Ich weiß nicht, was Sie meinen. Durchsuchen Sie mich doch. Ich habe kein Handy.“

Aber das verwerfe ich wieder. Die Wahrscheinlichkeit, dass mir das abgekauft wird, ist einfach zu gering.

 

Ich fahre also schuldbewusst auf die Autobahn auf und kalkuliere im Kopf durch: Das gibt einen Punkt in Flensburg und ein Bußgeld von 80 Euro … Solche Sachen hat man als vielfahrender Schlawiner meistens im Kopf.

 

Die Autobahn ist hier dreispurig. Es ist immer noch reger Verkehr. Köln kommt nie zur Ruhe. Jedenfalls nicht auf der Autobahn. Dreihundert Meter vor mir fährt dieser Polizeiwagen auf der rechten Spur. Er fährt LANGSAM. Das sind keine 80 km/h. Sie wollen, dass ich sie einhole, damit sie ihr nettes Leuchtschildchen anschalten können, das sie für solche Fälle immer auf dem Dach haben: „Bitte folgen!“ Das kenne ich schon.

 

Aber aufgeben kommt in meinem Verhaltensrepertoire eher nicht vor. Meine Kleinen sagen immer: „It’s never over till it’s over.“ Und so beschließe ich: „Langsam kann ich auch.“ Und ich fahre mit ca. 70 km/h auf der rechten Spur. Ist ja nicht verboten. Der Abstand zwischen mir und dem Polizeiauto vergrößert sich. Ich sehe das mit Wohlgefallen.

 

Die Polizisten merken sofort, was vorgeht und bremsen ihrerseits ab. Entschleunigung ist das Gebot der Stunde. Soll ja sehr stressreduzierend sein, so eine Entschleunigung. Ich fahre in dem Tempo, dass sie fahren, um nicht aufholen zu müssen. Mein Tacho zeigt 65 km/h. Sie bremsen noch weiter ab. Und mir wird klar, dass ich diese Eskalation der Entschleunigung nicht beliebig fortsetzen kann. Ich darf nicht ohne triftigen Grund auf der Autobahn anhalten. Also fahre ich so, dass ich langsam aufhole. Aber noch haben sie ihr „Bitte folgen!“-Schild nicht angemacht. Noch habe ich eine Chance.

 

Und siehe da – Hoffnung naht. Ein Autobahnkreuz. Köln ist voll mit Autobahnkreuzen. Und weiß der Geier wie, aber ich habe sofort die Idee, wie ich doch noch aus dieser Nummer rauskomme:

 

Ich beschleunige meinen Wagen ein klitzekleines bisschen. Das Autobahnkreuz ist noch fünfhundert Meter entfernt. Der Polizeiwagen maximal noch 150 Meter. Ich hole auf. Das Autobahnkreuz ist noch dreihundert Meter entfernt. Der Polizeiwagen maximal noch 100 Meter. Ich setze den Blinker nach rechts und signalisiere damit, dass ich mich in Richtung Oberhausen orientieren will. Ich fahre auf die entsprechende Spur. Die Jungs im Wagen vor mir registrieren das und setzen den Blinker nach rechts und fädeln sich auf die Spur nach Oberhausen ein. Sie sind noch 80 Meter vor mir. Ich kann sehen, dass sie sich angeregt unterhalten. Wir fahren auf das Autobahnkreuz auf, und sie fahren in die langgezogene Rechtskurve auf die A3 in Richtung Oberhausen.

 

Als sie das weit genug gemacht haben, entscheide ich mich plötzlich anders. Ich setze meinen Blinker links und fädele mich auf die Spur in Richtung Frankfurt ein und gebe Gas. Sie müssen nach rechts fahren – nicht mal die Polizei darf ohne wirklich triftigen Grund mitten in einem Autobahnkreuz drehen. Ich fahre nach links.

 

Sie fahren also nach Oberhausen und ich in Richtung Frankfurt. So trennen sich unsere Wege. Wir sind uns nie wieder begegnet.

 

 

Okay.

Ich breche das hier mal aus Platzgründen ab.

Ich könnte noch viele, viele solcher Situationen schildern.

Mein Leben ist voller Situationen, wo ich Regeln gebrochen habe – zum Teil bewusst, zum Teil ohne das zu wissen – wo ich mich dann irgendwie wieder rausschlawinert habe. Die Finanzbehörden waren mehrfach hinter mir her, die Polizei sowieso, Vorgesetzte und andere Hierarchen auch, ich hab‘ mal, ohne das zu wollen oder zu wissen, einen ganzen Feuerlöschzug mobilisiert …

Ach ja – und die Arbeitszeugnisse. Sagen wir es mal so: Wenn die Arbeitszeugnisse, die ich meinen Bewerbungen beifüge, nachweislich nicht die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ich zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen werde, dann entwickle ich die Neigung, korrigierend einzugreifen.

 

Ich bin immer aus allem heil rausgekommen. Ich habe keinen Punkt in Flensburg, mir wurde nie der Führerschein abgenommen, nie ist ein Verfahren gegen mich eröffnet oder angestrengt worden. Als „bad guy“ tauge ich nicht.

 

Mir ist beim Regelbrechen wichtig:

Ich gefährde andere nicht, ich gefährde mich nicht. Ich übervorteile niemanden, und ich schädige niemanden. Einfaches Beispiel: Wenn ich merke, dass mir ein Kellner oder eine Kassiererin zuviel Geld rausgegeben hat, mache ich sie darauf aufmerksam. Wenn ich im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) mal versehentlich zu wenig bezahlt habe und das niemandem auffiel, hole ich das bei der nächsten Fahrt nach. (Wenn ich mal eine abstrakte Größe schädige wie „den Staat“ oder „die Gesellschaft“, dann nehme ich das jedoch eher gelassen zur Kenntnis).

 

Aber als Rollenmodell für AS, die sich an die Regeln halten, tauge ich ganz bestimmt nicht. Da es aber in meinem erwachsenen Leben noch nie mein Ehrgeiz war, brav, gehorsam oder gar „gut“ zu sein, ist mir das ziemlich gleichgültig.

 

Gib mir eine Regel, und ich werde sie brechen, wenn mir das sinnvoll und ethisch gerechtfertigt zu sein scheint.

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Kommentare: 3
  • #1

    Tina (Sonntag, 26 April 2020 00:12)

    Ich halte das auch eher für ein Gerücht mit den "gesetzestreuen" Asperger Autisten. Ich mache es genauso, ich halte mich nur an die Regeln, die ich selbst für sinnvoll halte. Alle anderen Regeln sind für mich "nette Vorschläge" ;)

  • #2

    Tina (Sonntag, 26 April 2020 00:13)

    Oh, keine Ahnung warum mein Kommentar nun zwei Mal dort steht.

  • #3

    Stiller (Sonntag, 26 April 2020 01:10)

    Da wirst du wohl eine Regel übertreten haben. :-D