Sie war jung. Sie war in mehrerer Hinsicht sehr begabt. Sie war Autistin. Sie schickte mir Aufnahmen aus ihrem YouTube-Channel, wo sie irgendwelche angesagten Lieder coverte. Sie bat mich um Rückmeldung. Um ehrliche, autistische Rückmeldung.
Sie spielte auf diesen Aufnahmen mehrere Instrumente. Sie sang. Ich fand ihr Rhythmusgefühl bemerkenswert. Bei der Beherrschung der Instrumente sah ich viel Licht und wenig Schatten. Wenn sie sang, dann traf sie ausnahmslos jeden Ton. Aber ihre Stimme drang nicht durch.
Sie verstand nicht, was das bedeuten sollte „Deine Stimme dringt nicht durch.“ Ich versuchte, ihr zu erklären: „Du fühlst wenig, wenn du singst. Du fühlst maximal 20% von dem, was du fühlen könntest. Deine Stimme dringt nicht zu deinen Gefühlen durch und wird deshalb nicht von deinen Gefühlen getragen.“
Ich fand nicht die richtigen Worte. Es gelang mir nicht, mich ihr verständlich zu machen. Sie verwies mich auf die Originale der Lieder, die sie da coverte. Die konnte man sich auch auf YouTube anhören. Ich klickte auf die Links: Grauenhaft! Noch viel schlimmer!
Ja, das war professionell aufgenommen und abgemischt. Ja, diese Videos hatten die üblichen hunderttausende Klicks und tausende schwärmerische Kommentare. Aber die Sänger drangen noch weniger durch mit ihren Stimmen. Diese Sänger fühlten allenfalls 10% von dem, was sie hätten fühlen können.
Meine Kleinen sagten: „Gesangsmaschinen.“ und wendeten sich angewidert ab. Aber es gelang uns nicht, uns dieser hochbegabten, jungen Autistin verständlich zu machen.
Wir hatten uns vorher lange und ausführlich über ihre Erfahrungen mit Psychotherapie ausgetauscht. Mir stand da kein Urteil zu. Aber mit Sicherheit galt im Zusammenhang mit ihrem Gesang:
Den Teil, den ich meine, den kannst du mit Worten nicht erreichen. Und wenn du in deiner Psychotherapie redest oder sprichst, dann ist das mit Sicherheit gut und schön und richtig. Aber dann gilt deine Psychotherapie nicht diesem Teil von dir, der hier fehlt. Dann redest du, um nicht fühlen zu müssen. Denn für diesen Teil von dir gilt: Du kannst reden oder fühlen. Aber du kannst nicht beides gleichzeitig.
Dieser Teil von dir hat keine Worte.
Dieser Teil von dir kann mit Worten nicht erreicht werden.
Und ich erinnerte mich, wie ich vor Jahrzehnten durch die weihnachtlich illuminierte Fußgängerzone meiner Heimatstadt gegangen war. Irgendein Live-Event fand gerade statt. Meine damalige Freundin begleitete mich. Sie war völlig aus dem Häuschen:
„Die Kelly-Family!“
Hochinteressant. Die Kelly-Family. Wenn meine Freundin das sagte, dann würde das schon stimmen. Die kannte sich aus mit sowas. Sie wollte unbedingt näher ran. Sie zog mich energisch in Richtung Bühne. Ich hörte wie „Let it be“ von den Beatles intoniert wurde. Ich hatte schon viele Versionen dieses Liedes gehört. Aber ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass man das auch singen kann, ohne überhaupt irgendwas zu fühlen. Aber das ging. Die „Kelly-Family“ machte es gerade vor. Ich blieb stehen. Meine Freundin drängte mich, mit ihr in Richtung Bühne zu gehen.
Ich sagte ihr:
„Das sind Musikroboter. Die kannst du dir gerne alleine ansehen.“
Das hat sie dann auch gemacht. Sie ging auf in dieser hemmungslos begeisterten Masse vor der Bühne. Da wurde gerockt, dass es nur so fetzte: Die Kelly-Family – das musste man gesehen (und gehört) haben!
Zum Glück musste ich das nicht. Ich ging irgendwo anders hin, wo das nicht mehr zu hören oder zu sehen war.
Ich bin nicht besonders musikalisch. Das gebe ich gerne zu. Wenn ich singe, dann fallen die Fliegen tot von den Wänden. Wenn ich lauter singe, dann taut sich der Kühlschrank ganz von selbst ab, und kleinere Säugetiere fangen an, Petitionen an den örtlichen Tierschutzverein zu schreiben. Mein Rhythmus-Gefühl ist geradezu barbarisch. Ich kann keine Musik machen.
Aber ich kann hören, ob jemand was fühlt oder nicht.
Das kann ich sogar sehr genau und sehr differenziert hören.
(Und das, obwohl ich Autist bin – man höre und staune!)
Und ich erlebe es sehr selten, dass Sänger oder Sängerinnen wirklich zu ihren Gefühlen durchdringen.
Sehr, sehr selten.
Sie mögen technisch brillant sein, diese Sänger und Sängerinnen. Sie mögen jede Technik, jede Koloratur und jede Vibration beherrschen – das interessiert mich alles nicht. Wenn ich Gesang höre, dann interessiert mich vor allem eins: Fühlst du, was du da singst oder fühlst du das nicht? Und die meisten fühlen es eben halt nicht. Oder nur sehr bruchstückhaft.
Dass ich mit dieser Sicht der Dinge allein auf weiter Flur bin, das weiß ich. Aber für mich ist das unerheblich. Was ich wahrnehme, das nehme ich wahr und nicht etwa unwahr.
Schnitt.
Andere Zeit, anderer Ort, andere Szene.
Ich gehe durch die Fußgängerzone einer sehr bekannten Großstadt in Deutschland. Es ist sonnig und friedlich. Ich nähere mich einer Gruppe Erwachsener, die um einen Kinderwagen herumsteht. Und schon von weitem höre ich einen Säugling schreien. Dieser Säugling ist noch keinen Monat alt. Und er ist in Todesnot. Er schreit dieses ganz charakteristische Schreien, das Säuglinge schreien, wenn sie unbedingt hochgenommen werden müssen. Wenn nicht sofort jemand kommt und sie hochnimmt, dann müssen sie sterben. Auf der ganzen Welt schreien Säuglinge auf diese charakteristische Weise.
Die Erwachsenen stehen dicht gedrängt um den Kinderwagen. Mehrere Köpfe beugen sich über den Säugling. Und jetzt bin ich nahe genug heran, um zu hören, was gesprochen wird:
„Oooh, ist der süß!“
„Ja, wo isser denn?!“
„Oooch, ist das goldig!“
„Ja, was hatter denn?“
Und so weiter.
Keiner der Umstehenden lässt sich von der Not des Säuglings erreichen. Keine Hand rührt sich für ihn. Sie haben sich erfolgreich gegen ihre Gefühle abgeschottet. Sie sind innerlich gepanzert und abgehärtet. Hier ist ein Neugeborenes in Todesnot und sie finden das süß und niedlich.
Ich lebe sehr oft in einer Welt, in der ich von Menschen umgeben bin, die sich zu Robotern, Maschinen und Androiden gemacht haben, die aussehen wie Menschen. Ich gebe gerne zu, dass es sehr einsam sein kann in dieser Welt.
Schnitt.
Andere Zeit, anderer Ort, andere Szene.
Ich fahre heim von meiner Psychotherapie. In den letzten Stunden habe ich eine Szene wiedergefunden, nach der ich fast 40 Jahre gesucht habe. Ich hatte nicht gewusst, worum es in dieser Szene ging. Jetzt weiß ich es: Als ich noch keine 20 Tage auf der Welt war, hat mein leiblicher Vater versucht, mich zu ermorden.
Über fünfzig Jahre hatte ich das in mir eingekapselt und komplett vergessen. Es hatte nicht mal Spuren von Erinnerungen in mir gegeben. Jetzt ist das alles hervorgebrochen. Dementsprechend fühle ich mich jetzt.
Auf dem Weg zur Autobahn fahre ich an neun großformatigen Plakaten vorbei, auf denen irgendwelche Menschen lachen. Gute Laune verkauft sich offenbar hervorragend. Nicht ein einziges Lachen auf diesen Plakaten ist echt. Sieben von diesen Plakaten zeigen tatsächlich ein derart bemühtes Lachen, dass ich nur eine Grimasse, eine Maske sehen kann. Völlig verzerrte Gesichter. Die Karikatur der guten Laune.
Anscheinend bin ich so ziemlich der einzige, der das so wahrnimmt, denn sonst würden die Plakate mit diesen abstoßend hässlichen Gesichtern nicht dort hängen. Sie hängen dort für die breite Masse. Ich habe dazu verschiedentlich Untersuchungen gemacht: Die NTs, die mich umgeben, sind nicht in der Lage, ein echtes von einem falschen Lachen zu unterscheiden, wenn sie es auf einem Foto sehen.
Sie haben sich dagegen abgeschottet. Um sowas sehen zu können, muss man Zugang zu seinen Gefühlen haben.
Ich lebe sehr oft in einer Welt, in der ich von Menschen umgeben bin, die sich zu Robotern, Maschinen und Androiden gemacht haben, die aussehen wie Menschen. Ich gebe gerne zu, dass es sehr einsam sein kann in dieser Welt.
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