Ich kann Pferde nicht leiden. Das hat aber mehr mit meinen Erfahrungen mit „Pferdemenschen“ zu tun als mit den Tieren selber. Wenn ich Pferden begegne, und es sind keine Menschen dabei, dann kann das ganz ok sein.
Ich bin mit zwei Schwestern groß geworden, die etwas jünger sind als ich. Beide entschieden sich in der Pubertät, Pferde zu werden. Sie sprachen beinahe nur noch Pferdesprech. In gefühlt jedem Gespräch mit ihnen ging es um Pferde. Um Sattel, Zaumzeug, Trense und was weiß ich. Wurden sie wütend, sagten sie: „Ich krieg Schaum!“, freuten sie sich, bäumten sie sich auf und wieherten. Es war entsetzlich. Es ging Tag und Nacht so. Es nahm kein Ende. Die eine machte später Pferde zu ihrem Beruf. Die andere half ihr dabei.
Als ich mit siebzehn meine erste Freundin kennenlernte, hing ihr Zimmer natürlich voller Pferdeposter. Und ihre ältere Schwester erlebte ich auch als einen Menschen, der lieber ein Pferd gewesen wäre. Und natürlich ritten die beiden. Später wurde ich Vater zweier Töchter. Beide reiten. Sattel, Trense, Zaumzeug, Reitstiefel, Reitturnier, B-Springen …
Und ich weiß nicht, warum das so ist, und ob nur ich das so erlebe:
a) Wo Pferde sind, sind vor allem Frauen bzw. Mädchen. Und
b) Wo Pferde sind, da wird rumgezickt.
Das scheint ein Naturgesetz zu sein: Pferd + weiblicher Mensch = Rumgezicke. Es ist grauenhaft. (Für mich natürlich. Für die Frauen und Mädchen, die da rumzicken scheint das gar nicht grauenhaft zu sein). Aber es scheint zu gelten: Willst du die Zicke im Mädchen oder in der Frau wecken, dann bring Mensch und Pferd zusammen.
Meine Erfahrung ist:
Das klappt immer.
Das klappt tadellos.
Werde ich also gefragt, ob ich Pferde mag, so antworte ich meist:
„Meinst du jetzt gekocht oder gebraten?“
Ich schicke das voraus, weil es im folgenden viel um Pferde gehen wird. Ich bin kein Pferdefreund und kein Pferdeflüsterer. Wenn ich mit Pferden reden kann, dann ist das meistens ganz ok. Sobald ein Mensch dazukommt, entwickle ich Fluchttendenzen. Pferde sind in der Lage, die wirklich unangenehmen Seiten im Menschen hervorzubringen.
Es geht heute um die Bilder anderer. Und ich habe mir überlegt, wie ich meine Wahrnehmung verständlich machen kann. Und da dieses Ereignis so klar umrissen und so gut zu beschreiben ist, will ich vom Pferdeschubsen erzählen.
Also los geht’s!
Die Geschichte vom Pferdeschubsen
Es ist über zehn Jahre her. Der Weltkonzern, in dem ich gearbeitet hatte, war von einem anderen Weltkonzern geschluckt worden. (Rülps). Das Spitzenmanagement hatte sich das fein ausgedacht – wenn man die entsprechenden Excel-Tabellen nebeneinanderlegte, sah das auch wirklich wunderbar aus: Synergieeffekte ohne Ende! Aber die Menschen passten nicht zusammen. Überhaupt nicht. Hier trafen zwei völlig unterschiedliche Unternehmenskulturen aufeinander. Da man nicht wegen seiner emotionalen Kompetenz Konzernchef wird, sondern weil man Machtspiele so gut beherrscht, ist es üblich, dass Weltkonzerne von emotionalen Analphabeten geführt werden. Diese Spitzenmanager sprechen Excel. Fließend. Aber was ein Mensch ist, was ihn antreibt, was er erlebt, fühlt und denkt – davon wissen sie nur sehr wenig.
Was nicht in eine Excel-Tabelle passt, kommt in der Welt der Konzernlenker in der Regel nicht vor.
Die Konzerne waren also fusioniert worden, und die Menschen verstanden einander überhaupt nicht. Und so wurden von der Konzernleitung Teamentwicklungen befohlen. Das waren dann meistens Outdoorevents. Wem dieser Begriff nicht geläufig ist – bei Outdoorevents macht man so eine Art „Dschungelcamp für Arme“: Man bringt die Leute eines Teams irgendwo in der freien Natur in schwierige Situationen, die sich nur gemeinsam meistern lassen. Das soll den Teamgeist stärken und das Verständnis füreinander fördern. Für mich war das sinnlose Beschäftigungstherapie. Ich leite jedes Jahr mehrere Teamentwicklungen und ich verzichte dabei auf jeden Outdoorklimbim. Nach meiner Erfahrung bringt das nichts. Ich erlebe sowas als Zeit- und Geldverschwendung.
Aber jetzt sollte ich die Teamentwicklungen ja nicht leiten. Ich sollte selber teamentwickelt werden. Ich weiß nicht mehr, wie viele Flöße ich mit anderen zusammengebaut habe, um damit irgendwelche Gewässer zu überwinden. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir im Wald waren, um irgendwelche Probleme zu lösen, die sich irgendwer für uns ausgedacht hatte.
Alles Quatsch.
Und als alles nichts half, wurde ich zum Pferdeschubsen befohlen. („Pferdeschubsen“ ist der abwertende Begriff, den ich für dieses „Outdoorevent“ gefunden habe. Die, die das anboten und durchführten, nannten das natürlich ganz anders. Irgendwas englisches stand in dem Flyer, der uns zur Vorbereitung zugeschickt worden war. Ich habe aber vergessen, was da genau stand).
Das Team hatte sich also in aller Herrgottsfrühe in der Nähe von Köln bei irgendeinem Reitstall einzufinden. Zwei Tage sollten uns jetzt Pferde beibringen, wie wir miteinander umzugehen hatten.
Ich war in einer wirklich finsteren Stimmung. Und meine Kollegen erlebten mich als noch schweigsamer als sonst.
Zwei junge, dynamische und extrem aufgekratzt-gutgelaunte Outdoortrainer nahmen uns in Empfang. Na klasse. In der Halle selbst waren da noch ein paar Outdoortrainerinnen. Hier wurde richtig was geboten .Ach ja – die Pferde. In der Reithalle standen auch noch ein paar Pferde rum. Jeder sollte sich eins aussuchen, das ihm zusagte und mit ihm Kontakt aufnehmen. Ich hatte meins auf den ersten Blick identifiziert. Ein sehr ruhiges, kleines mit sehr interessanten Augen.Es stand mit seiner Freundin etwas abseits und peilte die Lage. Ich ging hin zu dem Pferd und schaute es schweigend an. Das Pferd schaute mich schweigend an. Wir schwiegen. Ich verneigte mich vor ihm und sagte leise:
„Tach.“
Das Pferd bewegte schweigend seine Ohren und schaute mich an. Ich hielt ihm meine Hand hin, damit es daran schnuppern konnte. Das tat es ausgiebig.
Und dann standen wir nebeneinander und ließen einander in Ruhe.
Dem Pferd gefiel das. Mir gefiel das auch.
Meine Kollegen quatschten und säuselten ihre Pferde schier besinnungslos. Da wo ich stand, war es ganz still. Ich stand da. ‚Mein’ kleines, struppiges Pferd stand da. Es beobachtete die Szenerie und stand völlig still.
Danach war unsere Aufgabe, ‚unsere’ Pferde in der Reithallean einem armlangen Strick durch einen Hindernisparcours zu führen. Kurze Labyrinthe aus Stangen, ein Joch, das mit rot-weißen Plastikbändern behängt war (Bändern wie es sie bei Baustellenabsperrungen gibt) und solche Sachen. Ich ging zu ‚meinem’ Pferd und sagte ihm leise:
„Und los geht’s.“
Und los ging’s. Das Pferd folgte mir und als es mal nicht wollte, zeigte ich ihm kurz und energisch, dass ich derzeit das Sagen hatte, und es war’s zufrieden. Die anderen quatschten ihre Pferde durch den Parcours. Ich zog und führte. Ich sagte kein Wort. ‚Mein‘ Pferd sagte kein Wort.
Bei der nächsten Übung gab es wieder einen Parcours, diesmal waren die Hindernisse jedoch bedrohlicher für die Pferde. Sie weigerten sich hier und da.
‚Mein’ Pferd folgte mir überall hin, aber vier Meter vor dem letzten Hindernis blieb es stehen. Hier lag eine blaue Plastikplane auf dem Boden und auf dieser Plane lag eine durchsichtige Plastikfolie, so dass es knisterte, wenn jemand drauf trat. Ich zog energisch, aber das Pferd rührte sich keinen Millimeter. Ich schaute das Pferd an. Das Pferd schaute mich an. Wir schwiegen.
„Du musst nicht“, sagte ich ihm dann leise und schob es am Hals weg von dem Hindernis.
„Schau dir das mal an“, sagte ich ihm und drehte das Pferd so, dass es sah, wie andere Pferde über das Hindernis gingen (oder auch nicht).
„Los geht’s“, sagte ich zu dem Pferd und führte es aus einem anderen Winkel an das Hindernis heran. Ich führte es sehr eng und kraftvoll, und es zögerte keinen Moment.
Unmittelbar vor dem Hindernis blieb ‚mein’ Pferd stehen und rührte sich nicht mehr. Ich zog am Seil. Nichts. Ich stellte mich aufrecht vor das Pferd und schaute das Pferd an. Schweigen. Das Pferd schaute mich an. Schweigen.
Plötzlich durchfluteten mich Bilder. Bilder, die nicht meine waren. Bilder, die ich nicht kannte.
„Du hast Angst“, sagte ich leise zum Pferd und schob es am Hals von dem Hindernis weg in eine andere Ecke der Reithalle. Wir gingen nie wieder zurück zu diesem Hindernis.
Ich brauchte einige Zeit, um die Bilder, die ich gesehen hatte, zu ordnen. Plötzlich sah ich lichter. Die Bilder fügten sich. Ich sah. Ich sah ganz deutlich …
Und so ging ich in einer stillen Stunde zur einer dieser Outdoortrainerinnen hin:
„Dieses Pferd, das ich da führe …“
„Ja?“
„Ist das als Kind im Wald groß geworden?“
„Weiß ich nicht.“
„Und ist es dann eine zeitlang in einem Blechstall oder einem kleinen Behältnis aus silbernem Blech gewesen?“
„Ich weiß nicht. Aber ich kann mal die Besitzerin des Stalls fragen, die kennt alle Pferde in- und auswendig.“
Wir führten ein Gespräch zu dritt, die Stallbesitzerin, die Outdoortrainerin und ich. Ich stellte meine Fragen.
„Der kommt aus dem Fjäll“, sagte die Reitstallbesitzerin. „Das ist ein Gebirge in England.“
„In England gibt es kein Gebirge“, entgegnete ich. „Es gibt in Schweden eine Art Gebirge, das ‚Fjäll’ genannt wird. Kommt er aus Schweden?“
„Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall hat er als Fohlen frei in der Landschaft gelebt. Vor allem im Wald. Er war nie im Stall.“
„Und wie ist er dann hierher gekommen?“
„Ich habe ihn gekauft.“
„Nein, ich meine, wie wurde er transportiert.“
„In einem Container.“
In dem Container war das Pferd voller Angst gewesen. Es war umgefallen in diesem Container. Es hatte den Boden unter den Füßen verloren und war herumgeschleudert worden. All das hatte ich gesehen. Ich hatte gesehen, wie es als sehr junges Pferd im Wald herumgestrolcht war, sich seines Lebens freute und die Bäume kennenlernte …
Als ich die Bilder sah, hatte es eine Weile gedauert, bis ich begriffen hatte, dass das alles sehr sinnvoll war, wenn ich mir vorstellte, das aus der Perspektive eines kleinen Pferdes zu sehen, das den Kopf deutlich niedriger über dem Boden trug als ich. Aber danach kam alles zusammen – von einem Moment auf den anderen – und ich war in der Lage die Bilder dieses Pferdes zu verstehen.
Das letzte Hindernis, an das ich das Pferd geführt hatte, hatte es an diese katastrophale Situation im Container erinnert. Es war völlig richtig gewesen, dass ich beschlossen hatte, mit ihm da nicht wieder hinzugehen.
Ich sehe Bilder anderer – speziell, wenn sie in Krisensituationen sind. Das gilt für Tiere wie für Menschen. Ich weiß nicht, wo diese Bilder herkommen. Und ich sehe sie auch nicht oft. Aber wenn ich sie sehe, dann weiß ich, dass ich mich absolut auf sie verlassen kann.
Post Scriptum
Für die unter meinen Lesern, die lieber eine Version mit Menschen hätten:
Die meisten Situationen, in denen ich die Bilder anderer Menschen sehe, sind derart komplex, dass ich das hier nicht vernünftig verbalisieren kann. Oder ich kann sie nicht zuordnen. Ich kann mich erinnern, dass ich vor ein paar Jahren miterlebte, wie eine Frau ein Kind zur Welt brachte. Wer diese Frau war und warum ich ihre Bilder auffing – ich habe bis heute absolut keine Ahnung.
Aber es gibt da eine kurze Anekdote, die passt hier rein.
Das war vor ein paar Jahren. Ich fuhr im Auto von der Arbeit nach Hause. Kurz nachdem ich die Autobahn verlassen hatte, sah ich die Bilder eines Menschen, der sehr nahe an meinem Herzen ist und der mir sehr viel bedeutet. Er war knapp 600 Kilometer von mir entfernt.
Da mir gerade danach war, wissenschaftliche Erhebungen zu machen, hielt ich den Wagen an und schrieb ihm eine SMS:
„Isst du gerade Zitrusfrüchte?“
Nach wenigen Minuten bekam ich die Antwort:
„Nein, aber ich lutsche gerade Orangenbonbons.“
Kommentar schreiben