Die Bilder 02 - Visionen

Ich habe Zugriff auf eine Bilderwelt, die tatsächlich objektiv – also außerhalb von mir - zu existieren scheint. Ich habe keine Ahnung, wo diese Bilder herkommen und was ihre physikalische Grundlage ist. Aber jederzeit – Tag und Nacht – bin ich randvoll mit Bildern, die durch mich fließen.

 

In meinem letzten Blogtext („Die Bilder 01 – Von Stiller geprüft“) habe ich berichtet, dass es zusätzlich zu den Bildern, die durch mich fließen, Bilderfluten in mir auslöst, wenn ich Menschen wahrnehme, und dass ich mich auch auf diese Bilder absolut verlassen kann. Ob diese Bilder nur in mir existieren oder auch objektiv außerhalb von mir, das weiß ich nicht. Heute will ich einen anderen Aspekt meiner Bilder thematisieren: Wenn die Bilder anfangen, sich zu verdichten und zu verschwimmen und zu Visionen werden.

 

Vor etwas über einem Jahr beschloss ich, nach über 17 Jahre Pause wieder eine Psychotherapie anzufangen. Es hatten sich Dinge in meinem Inneren aufgebaut und angestaut, die ich für schwerwiegend hielt – da musste also was passieren. Ich besprach mich mit den Kinderanteilen in mir (ich nenne sie meine „Kleinen“), wen sie sich als Therapeuten wünschten. Und wir legten gemeinsam fest, dass es (a) eine Frau sein musste und (b) eine bestimmte Psychotherapieform. Dann setzten wir uns an den Rechner und ergoogelten das deutschlandweite aktuelle Angebot an Psychotherapeutinnen, die mit dieser Technik arbeiteten. In einem nächsten Schritt schauten wir gemeinsam die Portraitfotos an, die wir auf den entsprechenden Internetseiten fanden. Meine Kleinen klickten sich da ratzfatz durch. Für jedes Foto brauchten sie maximal zwei Sekunden:

Klick.

„Nein.“

Klick.

„Nein.“

Klick.

„Nein.“

Klick.

„Nein.“

Klick.

„Ja.“

Klick.

„Nein.“

 

Nach ca. fünf Minuten hatten wir alle relevanten Seiten durch und hatten zwei Jas und ganz viele Neins. Wir schauten uns die beiden Jas nochmal genauer an und meine Kleinen hatten sofort ihre Favoritin.

„Die da!“ sagten sie.

Und damit war das entschieden:

Sie sollten „Die da!“ bekommen.

 

Wir schrieben eine Mail an „Die da!“ Wir vereinbarten einen Termin für ein Erstgespräch mit ihr. Das Erstgespräch fand statt. Die Therapeutin und ich vereinbarten, zusammenzuarbeiten. Dann suchten sie und ich Termine für die ersten Therapieliegungen. (Bei dieser Therapieform liegt man, deshalb sprechen meine Kleinen nicht von „Sitzungen“). Die Therapeutin erzählte was von „drei probatorischen Sitzungen“. Sie wollte erst mal schauen, ob sie und ich überhaupt zusammenpassten. Von „probatorisch“ wollten meine Kleinen und ich aber nichts wissen.

„Auf meine Bilder kann ich mich absolut verlassen“, sagte ich der Therapeutin. „Wenn die sagen, dass Sie es sind, dann sind Sie es. Meine Kleinen haben sich noch nie geirrt.“

Und so vereinbarten wir direkt die ersten zehn Termine.

 

Ich bin heute - mehr als ein Jahr später - immer noch bei dieser Therapeutin. Wir arbeiten hervorragend zusammen. Es war nicht ganz einfach für sie, sich daran zu gewöhnen, dass wir Viele sind. Aber sie machte das sehr gut. Es fiel ihr nicht ganz leicht, sich daran zu gewöhnen, mit welch apodiktischer Sicherheit wir unsere Bilder interpretieren.

 

Ein Beispiel:

 

Die Therapieliegungen sind fast immer körperlich derart fordernd für mich und seelisch derart gravierend, dass ich nach dem Termin erst mal 15 Minuten bis eine Stunde in einem stillen und geschützten (und abgedunkelten!) Raum sitzen muss, bevor ich mich soweit gesammelt habe, dass ich wieder straßenverkehrstauglich bin. Ich sitze dann alleine in einem der Praxisräume auf einem Stuhl, in Decken und Wärmzeugs gehüllt und lasse das alles nachklingen.

 

„Wir sitzen im Abklingbecken“, sagen meine Kleinen dann immer dazu.

 

Dann passierte vor drei Monaten dieses:

Als ich nach der Liegung die Therapeutin bezahlte und wir die nächsten Termine abglichen, kam es zu diesem Dialog:

Therapeutin: „Heute können Sie leider nicht hier in den Räumen bleiben.“

Stiller: „Ich weiß.“

Therapeutin (völlig überrascht, fokussiert sich): „Woher wissen Sie das?“

Stiller: „Die Art und Weise, wie Sie vorhin gegangen sind. Ihre Körperspannung lässt keinen anderen Schluss zu.“

 

Inzwischen hat sie sich anscheinend auch an meine Wahrnehmungsfähigkeiten gewöhnt. Sie hatte mir beim Erstgespräch nicht glauben wollen, dass ich in Menschen hineinschauen kann. Das war mir egal gewesen. Ich muss niemandem was beweisen. Mit den Monaten hat sie mich besser kennengelernt.

 

Aber dann war da noch die Sache mit den Visionen. Meine Bilder erzählen mir nicht nur, was ist. Wenn sie zu Visionen werden, weiß ich durch sie auch oft genug, was war, oder was sein wird.

 

Ein Beispiel:

 

Mitte November letzten Jahres saß die Therapeutin am Ende unseres Termins seufzend vor mir:

„Ich kann Ihnen leider nicht sagen, wie das mit den nächsten drei Terminen sein wird.“

Ich schaute sie abwartend an, und sie fuhr fort:

„Wir müssen bis Ende des Jahres raus, aus diesen Räumen.“ – Sie wies mit einer Geste auf die Praxisräume.

„Aus welchem Grund müssen Sie hier raus?“

„Der Vermieter hat uns gekündigt. Eigenbedarf.“ Wieder seufzte sie. „Und ich muss das echt nicht haben – all diesen Schallschutz abbauen und dann wieder neu installieren.“ Wieder deutete sie mit einer Geste auf die Räume. Sie war ziemlich unglücklich. Ihr Herz war sehr in Unruhe.

Wir schwiegen. Dann erzählte sie mir, wie wir in den nächsten drei Wochen die Termine vielleicht trotzdem realisieren können würden, obwohl der Umzug vorbereitet oder gerade durchgeführt würde.

Das Hauptproblem war der Schallschutz. Die Praxisräume sind in einem Wohngebäude, das zum Teil gewerblich genutzt wird. In der Therapie kann es ziemlich laut werden. Ohne Schallschutz ist sowas für die Mitbewohner völlig unzumutbar.

„Ich hab‘ auch Klienten, die wollen nur reden“, sagte sie mir. „Da würden wir bei abmontiertem Schallschutz hier auf zwei Stühlen zwischen all den Kisten sitzen und uns unterhalten.“

Meine Kleinen kicherten.

Sie schaute mich fragend an. Ich sagte ihr:

„Mit mir ist nicht zu reden.“

Sie schaute weiter ein wenig fragend, aber dann verstand sie:

Wenn ich eine Liegung habe, dann rede ich nicht. Niemals. Jedenfalls unterhalte ich mich mit niemandem. Es gibt eine Vorbesprechung mit der Therapeutin, bei der sitze ich. In der Vorbesprechung legen ihre erwachsenen Anteile und meine erwachsenen Anteile gemeinsam fest, was diesmal gemacht wird. Dann lege ich mich auf eine Matte und gehe in alte Situationen. Dabei ist jeder Kontakt zur Außenwelt abgebrochen. Danach setze ich mich wieder auf, und wir besprechen auf erwachsener Ebene, was war, um das zu ordnen und zu sichten. Aber beim eigentlichen therapeutisch wirksamen Teil reden wir (meine Kleinen und ich) nicht. Jedenfalls nicht nach außen. Auf gar keinen Fall. Haben wir noch nie gemacht. – Mit uns ist einfach nicht zu reden.

Die Therapeutin verstand und lächelte.

Dann erläuterte sie mir einige Details, die die Umzugsvorbereitungen der kommenden Wochen betrafen.

 

Ich schaute derweil konzentriert auf die Bilder in mir. Visionen bildeten sich. Interessant!

Ich hörte die Therapeutin reden.

Dann sagte ich ihr dieses:

„Nein.“

Sie hörte auf zu reden und schaute mich fragend an. Ich konzentrierte mich auf meine Bilder. Dann schaute ich sie an. Ich sagte ihr:

„Dieser Umzug findet nicht statt. Zu 80% Wahrscheinlichkeit zieht der Vermieter seine Aufforderung zurück. Dann kommt nochmal eine Aufforderung im März, die ist etwas ernster. Aber auch da ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie hier raus müssen, nicht ganz so hoch.“

Sie schaute mich weiterhin fragend an. Aber mittlerweile kannte sie mich ganz gut. Deshalb sagte sie nichts dazu.

Im Vorgespräch im Januar hatte ich ihr lapidar meinen Standardsatz gesagt:

„Ich habe Fähigkeiten, die andere nicht haben.“

Normalerweise sage ich auch auf Nachfrage nicht, was das für Fähigkeiten sind. Jetzt bekam sie etwas davon zu sehen. Aber es war mir wichtig, sonst hätte ich es nicht thematisiert. Normalerweise sage ich nicht, was ich in der Zukunft sehen kann. Mir war jedoch sehr daran gelegen, dass in dieser Sache Ruhe in ihr Herz einkehrte.

An ihrer Körperspannung sah ich, dass meine Worte Hoffnung bei ihren Kleinen ausgelöst hatten, dass aber die meisten Teile von ihr mir nicht glaubten. Das war mir egal. Ich muss niemandem was beweisen. Die Hoffnung in ihren Kleinen reichte mir.

 

Ich schreibe diesen Text Anfang März. Die Praxisräume der Therapeutin sind dort geblieben, wo sie waren. Von einem Umzug habe ich bislang nie wieder was gehört. Auf meine Bilder kann ich mich absolut verlassen. Manchmal verdichten sich die Bilder, und sie beginnen zu verschwimmen.Sie werden Visionen. Ich sehe dann nicht mehr was ist, sondern etwas, was war oder etwas, was sein wird. Auf meine Visionen kann ich mich nicht absolut verlassen. Bei ihnen kann ich meistens nur sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit etwas so oder so sein wird. Absolut sichere Aussagen kann ich aufgrund meiner Visionen nur selten machen. Oft kann ich nicht sagen, wann genau etwas so sein wird. Oft kann ich nicht sagen, wo das stattfinden wird. Aber meine Visionen sind trotzdem bemerkenswert sicher.

 

Visionen habe ich selten. Meine Bilder sind zu jeder Tages- und Nachtzeit in mir. Visionen habe ich manchmal alle paar Tage, manchmal aber auch wochenlang gar nicht. Ich kann nicht bewusst steuern, ob ich Visionen habe oder nicht. Ich kann nicht beeinflussen, was mir meine Visionen zeigen. Ich weiß am Beginn der Visionen nie, ob ich etwas sehe, was war oder etwas, was sein wird. Ich bin in dieser Hinsicht wie eine Kinoleinwand: Irgendwer zeigt auf dieser Kinoleinwand nach Gutdünken Filme. Als Kinoleinwand habe ich keinerlei Einfluss auf das, was da auf mir gezeigt wird. Ich erlebe mich in dieser Sache als absolut fremdgesteuert.

 

Wenn ich aber dann mal Visionen habe, dann tue ich sehr gut daran, sie ernst zu nehmen und mich auf sie zu stützen. Das zeigt mir meine Erfahrung. Manchmal kann ich meine Visionen sofort interpretieren, manchmal muss ich tagelang rätseln, was das denn jetzt wieder war.

 

Sehr merkwürdig das alles.

Aber es gehört zu meinen Bildern dazu.

 

Und für den Fall, dass das eine Frage für Sie ist:

Nein, ich habe bislang keinerlei Vision, wie Sie diesen Text jetzt aufnehmen.

Wie Sie diesen Text aufnehmen, ist aber auch unerheblich für mich. Ich nehme es, wie’s kommt.

Ich muss niemandem was beweisen.

Ich hab’s hier aufgeschrieben, weil es vielleicht irgendwen interessiert.

 

Und meine Kleinen kichern.

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