Es war damals eine wilde Zeit für mich - Ende der achtziger Jahre. Ich war Mitte 20 und studierte Psychologie im Hauptstudium.Um mich zum Diplom anmelden zu können, musste ich ein Betriebspraktikum machen. Sechs Wochen musste so ein Praktikum mindestens dauern. Meine Mitstudenten machten sich schlau, welche Firmen Praktika für Psychologiestudenten anboten und bewarben sich dort. Mir sagte dieses Vorgehehen nicht zu. Ich schaute mir die Listen mit Firmen an, die bei uns Studenten kursierten, und die Firmen gefielen mir nicht.
Ich fand einen Gleichgesinnten. Wir waren beide der Ansicht, dass wir uns nicht bei den Firmen bewerben sollten, die auf irgendwelchen Listen standen, sondern uns überlegen sollten, bei welchen Firmen wir gerne arbeiten würden. Und so machte ich zum ersten Mal in meinem Leben telefonische Terminakquise.
Wir trafen uns in seiner Wohnung und stellten das Telefon zwischen uns. (Für meine lebensjüngeren Leser: Damals gab es noch keine Handys. Telefone waren klobige Apparate, die mit einem Kabel fest mit der Wand verbunden waren. Und man tippte nicht auf irgendwelche Tasten, sondern bediente die sogenannte „Wählscheibe“. Das machte dann immer ein ganz charakteristisches klickerndes Geräusch, das jeder von uns kannte).
Wir beschlossen, abwechselnd zu telefonieren.
„Ich ruf jetzt bei BMW an“, sagte meine Studienkollege. Dann rief er die Auskunft an, ließ sich die Nummer von der BMW-Zentrale in München geben und fragte sich dort durch.
Dann war ich an der Reihe:
„Ich ruf jetzt bei Siemens an.“
Unser Vorgehen war denkbar einfach:
Wir riefen in der Konzernzentrale an und verlangten, den Vorstandsvorsitzenden zu sprechen. Natürlich hat uns die Zentrale nicht mit dem Vorstandsvorsitzenden verbunden. Wir bekamen zuerst immer einen Sachbearbeiter an den Apparat.
„Ja, worum geht’s denn?“ wollte der Sachbearbeiter oder die Sachbearbeiterin dann meistens wissen. Wir antworteten dann meist:
„Ja, das würde ich gerne mit dem Vorstandsvorsitzenden selber besprechen. Können Sie mir den grad mal geben?“
„Moment, ich verbinde.“
Und so ließen wir uns von Hierarchiestufe zu Hierarchiestufe nach oben verbinden. Uns beiden gefiel das sehr, und wir kicherten sehr viel beim Telefonieren. Und wir wurden von Telefonat zu Telefonat besser.
„Ich ruf jetzt mal bei der Allianz an.“
„Ich ruf jetzt mal bei Mercedes an.“
„Ich ruf jetzt mal bei Krupp in Essen an.“
„Ich ruf jetzt mal bei Messerschmidt-Bölkow-Blohm an.“
„Ich ruf jetzt mal bei Bosch an.“
„Ich ruf jetzt mal bei Bayer an.“
Es ist erstaunlich, wie viele Weltkonzerne in Deutschland angesiedelt sind. Wir telefonierten den ganzen Nachmittag. Die Wählscheibe des Telefons drehte sich klickernd durch und dann hörten wir das Freizeichen. Und dann ging‘s los: Irgendwer nahm auf der anderen Seite den Hörer ab und sagte sein Sprüchlein auf. Und dann waren wir dran mit unserem Sprüchlein:
„Ja, guten Tag, mein Name ist Stiller. Ich hätte gerne mal den Vorstandsvorsitzenden gesprochen …“
Natürlich bekamen wir niemals einen Vorstand ans Telefon. Aber wir schafften es immer mindestens bis zu einem Abteilungsleiter. Manchmal gelang es uns sogar, bis zu einem Bereichsleiter verbunden zu werden. Und erst wenn uns die Menschen am anderen Ende der Leitung deutlich machten, dass sie uns jetzt nicht mehr höher verbinden würden, rückten wir mit unserem Anliegen raus:
„Ja, ich bin Student der Psychologie im Hauptstudium in [Name der Stadt] und bin auf der Suche nach einem Praktikumsplatz. Bieten Sie sowas an?“
Wie gesagt – auf diese Weise verbrachten wir beide einen sehr vergnüglichen Nachmittag. Mein Studienkollege bekam einen Praktikumsplatz bei Audi in Ingolstadt. Ich bekam was bei der Deutschlandzentrale eines der größten Chemiekonzerne der Welt.
Regelmäßige Leser meines Blogs wissen, dass ich in extremer Armut aufgewachsen bin. Vom Wirtschaftsleben hatte ich absolut keine Ahnung. Ich war noch nie in irgendeinem Konzern gewesen. Für mich war das immer blinkende und blitzende Paläste aus Glas und Marmor, die man sich mit einem gewissen Gefühl der Ehrfurcht von außen anschaute. Aber da durch die Tür reingehen und ein Bewerbungsgespräch führen?
Ich kaufte den ersten Anzug meines Lebens. Das beanspruchte meine finanziellen Ressourcen zwar bis zum äußersten, aber es war eine sinnvolle Investition in die Zukunft. Ich lernte, wie man eine Krawatte bindet. Dann ging ich zum Vorstellungsgespräch. Das erste in meinem Leben. Offenbar war ich überzeugend. Ich bekam den Job.
Die Abteilung, in die ich kam, hatte die Aufgabe, Bewerber psychologisch zu begutachten. Mit jedem Bewerber wurden umfangreiche Tests gemacht. Dann wurde ein anderthalbstündiges Gespräch mit ihm geführt. Die Ergebnisse wurden dem Bewerber rückgemeldet und bei Eignung des Bewerbers in einem einseitigen Gutachten zusammengefasst.
Ich nahm als stiller Zuhörer an etlichen dieser Gespräche teil, und mir wurde beigebracht, wie man solche Gutachten schrieb. Entweder arbeitete ich mit der Chefin oder mit ihrem Chef zusammen. Sie oder er führten das Gespräch, dann schrieben wir beide unabhängig voneinander das Gutachten und sie wiesen mich darauf hin, wo ich mich beim Gutachtenschreiben noch verbessern konnte.
In den Zeiten, wo keine Gespräche zu führen waren und keine Gutachten angefertigt werden mussten, wurde ich mit anderen Aufgaben betraut. Viel davon hatte mit Mathematik zu tun. (Wissenschaftliche Psychologie ist zu ungefähr 50% Mathematik. Wenn du wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen über Bewerber machen willst, dann gehört ziemlich viel Mathekram dazu).
Ich hatte mein eigenes Büro. Auf meinem Schreibtisch stapelten sich die Bewerbungsunterlagen (damals bewarb man sich ausschließlich analog). Und auch die ganzen anderen Aufgaben wurden in Papierform auf meinem Schreibtisch gestapelt. Nach zwei oder drei Wochen rief ich den Chef der Chefin an:
„Ich bin mit den Aufgaben jetzt durch. Geben Sie mir bitte neue Aufgaben.“
Auf der anderen Seite der Leitung war Stille. Dann hörte ich:
„Wie bitte?“
„Ich sagte, dass ich mit den Aufgaben jetzt durch bin. Die mathematischen Modelle stehen jetzt. Die Berechnungen sind fertig. Ich brauche neue Aufgaben.“
„Herr Stiller .. ganz ehrlich jetzt – diese Aufgaben sollten für’s gesamte Praktikum reichen: Wir haben keine Aufgaben mehr für Sie.“
„Ok. Dann will ich jetzt den Konzern kennenlernen.“
„Tun Sie das, Herr Stiller.“
Klick. Das Gespräch war beendet.
Ich kannte das schon aus anderen Zusammenhängen: Die Arbeit, für die andere Monate brauchten, die dauerte bei mir nur Wochen. In der Zeit, die die anderen damit verbrachten, über die Arbeit zu reden oder sich langatmig darüber zu beklagen, wie schwer oder unmöglich das alles war, setzte ich mich hin und machte die Arbeit. Die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass das schneller ging.
Ich setzte mich hin und machte mir eine Liste: Wen wollte ich im Konzern sprechen? Und dann griff ich zum Telefon. Ich wählte eine Nummer. Auf der anderen Seite ging jemand an den Apparat.
„Ja?“ fragte ich, „Bin ich dort mit der Rechtsabteilung verbunden? Kann ich bitte mal Ihren Chef sprechen?“
Ich vereinbarte Termine
- mit dem obersten Juristen des Konzerns
- mit dem Chef des Marketings
- mit dem Leiter der Forschungsabteilung
- und so weiter
Ich war jetzt im Inneren des Konzerns und wollte unbedingt wissen, wie so ein Konzern funktionierte. Ich bin von Natur aus ein sehr neugieriger Mensch, und egal, womit ich mich beschäftige – immer will ich wissen, was die inneren logischen Zusammenhänge sind und wie die Dinge funktionieren. Wie funktioniert eine Rechtsabteilung? Mit welchen Themenstellungen beschäftigt die sich? Was sind die Hauptaufgaben? Wie werden diese Aufgaben gemeistert?
Der Konzern war gigantisch. Das konzerninterne Telefonbuch war annähernd so dick wie das Telefonbuch einer Kleinstadt. Ich knallte mir die ganze Woche voll mit Gesprächsterminen und arbeitete sie der Reihe nach ab. Immer erschien ich gut vorbereitet mit Block und Stift bei meinen Gesprächspartnern und fragte sie intensiv aus. Mir wurde sehr bereitwillig Auskunft gegeben.
Dann aber merkte ich, dass die Dinge anders waren.
Zwei Tage nach dem ersten dieser Termine befahl mich der Chef der Chefin in sein Büro. Er kam sofort auf den Punkt.
„So geht das nicht, Herr Stiller.“
Ich war völlig überrascht.
„Was geht so nicht?“
„Sie können hier nicht einfach Leute anrufen und Termine mit ihnen vereinbaren.“
„Aber sie haben mir doch gesagt, dass ich den Konzern kennenlernen darf.“
„Aber doch nicht so, Herr Stiller!“
Und so teilte er mir mit, dass sämtliche Terminanfragen über ihn bzw. seine Sekretärin zu laufen hätten. Ich war völlig perplex. Er war perplex, dass ich das nicht wusste. (Dass ich Autist war, wusste ich damals noch nicht. Meine Diagnose bekam ich erst über 20 Jahre später). Und so verständigten wir uns darauf, dass ich die Liste meiner Gesprächspartner mit seiner Sekretärin abstimmte.
„Wen wollen Sie denn noch alles sprechen, Herr Stiller?“ wollte er von mir wissen. „Mein Telefon steht hier seit heute Morgen nicht mehr still, weil ständig Leute bei mir anrufen, die Sie angerufen haben. Sie haben richtig Unruhe in den Laden gebracht!“
Das war mir durchaus unangenehm. Aber er hatte mich gefragt, also zählte ich an den Fingern ab:
„Ja, also – ich will noch unseren Chefmathematiker sprechen, den Chef der IT, ich will unseren Versand kennenlernen, dann habe ich noch den Werkschutz auf der Liste, zwei Laborleiter …“
Es war eine lange Liste.
Mein Chef starrte mich nur ungläubig an. Aber dann fing er sich wieder. Er genehmigte all diese Gespräche und schickte mich zu seiner Sekretärin. Es war das erste Mal, dass ich jemanden auf diese Weise seinen Kopf über mich schütteln sah. In den Jahrzehnten, die folgten, sollte das ein sehr vertrauter Anblick für mich werden.
Dann ging das Praktikum zu Ende.
Ich räumte meinen Schreibtisch leer und verstaute alles, was ich erarbeitet hatte, in irgendwelchen Schränken. Ich bekam mein Zeugnis und viele warme Worte. Ich schüttelte zahlreiche Hände und das war’s dann.
Zwei Tage später klingelte bei mir daheim das Telefon.
Die Sekretärin des Chefs der Chefin war dran.
Ich dachte nur: „Nanu?! Hab‘ ich irgendwas im Büro vergessen?““
Sie kam genau wie ihr Chef gerne sofort zum Punkt.
„Herr Stiller, wir brauchen Sie hier. Wären Sie bereit für uns zu arbeiten?“
Ich verstand nicht recht.
„Äh … aber Sie wissen, dass ich noch studiere?“
„Ja, klar. Auf freiberuflicher Basis.
Ich überlegte:
„Ja, gut. Wann soll das sein?“
„Können Sie heute noch vorbeikommen? Der Chef will mit Ihnen reden.“
Wir vereinbarten einen Termin.
Es stellte sich heraus, dass sie meine Chefin feuern und durch mich ersetzen wollten.
„Sie haben uns überzeugt“, sagte der Chef der Chefin.
Ich fragte nicht nach, was er damit meinte.
Wir einigten uns in weniger als einer Minute auf einen Stundenlohn.
„Ok“, sagte der Chef.
Dann drückte er mir einen Stapel von ungefähr 200 Bewerbungen in die Hand:
„Suchen Sie Ihre Kandidaten raus. Gehen Sie damit zum Betriebsrat und setzen Sie Ihre Kandidaten durch. Der Termin mit dem Betriebsrat ist am Mittwoch um 14 Uhr.“
Damit war ich entlassen.
Mittwoch war in zwei Tagen. Ich hatte noch nie mit einem Betriebsrat zu tun gehabt. Der hatte nicht auf meiner Liste gestanden. Aber ich wusste aus meinem Studium (ich studierte Arbeits- und Sozialrecht im Nebenfach), dass der Betriebsrat der Einladung von Bewerbern im nichtleitenden Bereich zustimmen musste. Ich fühlte mich ein wenig überrumpelt und überfordert. Aber ich fühlte mich auch herausgefordert. Ich verzog mich mit den Bewerbungen in mein Büro und flippte mich durch die Unterlagen.
So wurde mir die Aufgabe übertragen, sämtliche Azubis (und zahlreiche nichtleitende Angestellte) für die Deutschlandzentrale dieses Großkonzerns auszusuchen. Ich hatte diese Aufgabe bis zum Ende meines Studiums – fast zwei Jahre – inne.
Der Chef hatte gesagt:
„Sie haben uns überzeugt.“
Was hatte ich während meines Praktikums gemacht, um ihn zu überzeugen?
Eigentlich gar nichts. Ich hatte eher gelangweilt bei den Bewerbergesprächen dabei gesessen und danach im Zweiergespräch mit meiner Chefin oder mit ihrem Chef Rückmeldung gegeben, ob der Bewerber geeignet war oder nicht. Und erst später wurde mir klar: Die waren aus allen Wolken gefallen (Sprachbild) – ich konnte bei ausnahmslos jedem Bewerber sehr differenziert und sehr sicher sagen, ob der geeignet war oder nicht. Ich irrte mich buchstäblich nie. Stärken-Schwächen-Profile eines Bewerbers differenziert benennen – für mich war das so, als würde mir eine Farbskala vorgelegt, und ich sollte die Farben benennen:
„Grün, blau, rot, türkis, orange, lila, gelb, schwarz, hellgelb …“
Das einfachste der Welt.
Erst in diesem Praktikum wurde mir klar, dass andere das nicht können. Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit dem Chef der Chefin aus den ersten Tagen meines Praktikums. Der Bewerber war gerade gegangen. Der Chef der Chefin setzte sich mit mir zur Nachbesprechung zusammen.
„Sie sind vor Langeweile in diesem Gespräch fast eingeschlafen, Herr Stiller. Da müssen Sie auf sich achten, dass man das nicht so merkt.“
„Ok.“
„Aber abgesehen davon, Herr Stiller: Was halten Sie denn von diesem Bewerber.“
Ich sagte es ihm.
Stille.
Längere Stille.
Er dachte nach.
„Wie machen Sie das, Herr Stiller?“
„Wie mache ich was?“
„Wie können Sie so sicher sein in dem, was Sie da sagen?“
Ich verstand ihn nicht:
„Wie – ‚so sicher‘?“
„Sie haben diesen Mann heute zum ersten Mal gesehen, richtig?“
Ich nickte.
Er fuhr fort:
„Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann haben Sie noch nie Bewerbungsgespräche geführt.“
„Richtig. Das ist heute mein drittes. Zwei habe ich vorgestern mit Frau[Name]geführt und jetzt das hier – das ist das dritte.“
„Sie scheinen ganz genau zu wissen, wer da vor Ihnen gesessen hat.“
„Ja.“
„Woher können Sie so genau wissen, was das für ein Mensch ist?“
Ich dachte nach.
„Ich sehe das“, sagte ich ihm.
„Was sehen Sie, Herr Stiller?“
„Bilder. Immer, wenn ich mit einem Menschen spreche, entstehen Bilder in mir. Das sind meistens dreidimensionale farbige Gebilde. Geometrische Muster. Die kann ich in jeder Richtung drehen. Und wenn ich mir diese Bilder ansehe, dann weiß ich, wer das ist.“
„Ist das jedes Mal so?“
Ich war verblüfft.
„Ja, sicher.“
„Auch jetzt, wo sie mit mir reden – entstehen dann Bilder in Ihnen?“
„Aber ja!“
Für mich war das eine Selbstverständlichkeit.
Schweigen.
Er dachte nach.
Ich dachte nach. Schlagartig wurde mir bewusst, dass er solche Bilder nicht sah. Dass vielleicht außer mir niemand solche Bilder sah – das würde allerdings einiges erklären. Diese Erkenntnis war von ziemlicher Tragweite für mich. Ich dachte intensiv nach. Er dachte intensiv nach.
Schweigen.
„Herr Stiller“, sagte er dann, „wenn Sie diese Bilder sehen und drehen – können Sie dann auch sehen, was an diesem Menschen Sie noch nicht kennen oder verstehen?“
„Ja.“
„Und wenn Sie den Menschen dann fragen oder er weiter erzählt – klärt sich dann dieses Bild in Ihnen?“
„Ja.“
„Dann verstehe ich wahrscheinlich auch, warum Sie sich so gelangweilt haben. Ab dem Zeitpunkt, wo er von seiner letzten Reise sprach, war für Sie das Bild klar und Sie haben sich nur noch gelangweilt. War das so?“
Ich nickte. So war das gewesen.
Er nickte auch. Mit kurzen belanglosen Worten machte er mir deutlich, dass das Gespräch beendet war. Ich war wieder in mein Büro entlassen.
Später im Praktikum kam es vor, dass er mir mitten im Bewerbungsgespräch das Gespräch übergab, den Raum verließ und mich das Gespräch beenden und das Gutachten schreiben ließ. Ich hatte dem keinerlei Bedeutung beigemessen. Aber als er dann sagte:
„Sie haben uns überzeugt“, wurde mir klar, was für ein Ritterschlag das damals gewesen war.
Fast zwei Jahre lang führte ich Bewerbergespräche für diesen Konzern. Ich führte die Verhandlungen mit dem Betriebsrat und die Abstimmungsgespräche mit den verschiedenen Fachabteilungen. Und ich schrieb die Gutachten. Es müssen hunderte gewesen sein. Ich achtete darauf, dass ich nie mehr als 20 Stunden in der Woche für diesen Konzern arbeitete. Denn ich studierte ja noch Psychologie. Außerdem war ich mitten im Grundstudium Wirtschaftswissenschaften und eilte dort von Klausur zu Klausur dem Vordiplom entgegen (das ich aber nie schaffte. Ich bin an der buchstäblich letzten Klausur gescheitert. – Aber das ist eine andere Geschichte). Außerdem arbeitete ich zeitgleich noch als Landschaftsgärtner –sozusagen als körperlicher Ausgleich zur Bürotätigkeit. Und ich hatte einen Job als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Lufthansa. Der war auch recht anspruchsvoll. Und ich hatte angefangen, im Vertrieb zu arbeiten. Für eine namhafte Firma verkaufte ich Versicherungen, Bausparverträge und Finanzprodukte an Privatkunden. (Ich hatte mir meinen ersten Anzug gekauft und das wollte ausgenutzt sein).
Wie gesagt – es war eine wilde Zeit, damals. Ich war Mitte zwanzig. Und seit mittlerweile über vier Jahren war ich in einer wirksamen Psychotherapie. Jeden Donnerstagabend trat ich da drei bis vier Stunden an, um mit einer wirklich intensiven Methode meine katastrophale Kindheit aufzuarbeiten. Diese Therapie war teuer. Sie warsehr teuer. Aber welche Wahl hatte ich denn? Meine leiblichen Eltern hatten so ziemlich alles getan, was in ihrer Macht gestanden hatte, um aus mir einen beruflichen und sozialen Versager zu machen. Allmählich warf diese Therapie Früchte ab (Sprachbild), und ich begann, beruflich erfolgreich zu werden. Früher hatte ich mir mein Geld immer mühsam mit schlecht bezahlter, ziemlich schmutziger und wirklich harter Fabrikarbeit verdienen müssen. (Einen Mindestlohn gab es damals noch nicht). Jetzt saß ich in gut beheizten Büros und wurde anständig bezahlt. Das fühlte sich gut an. Das fühlte sich sogar sehr gut an. Und so startete ich eben durch. (Wie das so meine Art ist). Meine damalige Freundin (die Frau, mit der ich heute de jure verheiratet bin), sprach mich damals auf mein Arbeitsverhalten an. Sie erwähnte dabei etwas von einer „40-Stunden-Woche“, die angeblich „normal“ sei. Ich kalkulierte das rasch im Kopf durch.
„Du“, sagte ich ihr dann. „Die 40-Stunden-Woche ist bei mir spätestens am Mittwochabend vorbei. Oft aber schon Mittwochmittag.“
Sie verstand mich nicht. Sie starrte mich nur ungläubig an.
War mir egal.
Fast zwei Jahre arbeitete ich als verantwortlicher Personalauswähler für diesen Konzern. Die Güte meiner Arbeit sprach sich schnell herum. Ich bekam deshalb sehr interessante Aufträge aus dem gesamten Konzern. Als mich mein Chef mal darauf ansprach, sagte ich ihm:
„Wenn irgendwo „von Stiller geprüft“ drauf steht, dann ist da auch „von Stiller geprüft“ drin.“
Ich irrte mich in diesen zwei Jahren nie. Nicht ein einziges Mal.
Einmal kam ein Abteilungsleiter wutentbrannt in mein Büro gestürmt. Er erinnerte mich an einen Kampfstier aus einer spanischen Arena. Er schnaubte regelrecht. Ich saß an meinem Schreibtisch und war völlig baff.
„Was ist?“ wollte ich von ihm wissen.
„Sie … Sie haben uns den [Name] empfohlen!“
„Hab ich das?“ Ich konnte mich nicht an den Namen erinnern.
„Ja, haben Sie! Vor vierzehn Monaten war das.“ Er nannte ein sehr exaktes Datum. Und er fügte hinzu: "Ich erinnere es noch wie heute!“
„Ok“, sagte ich ihm. „Ich erinnere mich nicht. Aber was ist jetzt mit Herrn [Name]?“
„Wir haben ihn rausschmeißen müssen. Wir hätten ihn nie genommen, wenn Sie ihn nicht empfohlen hätten! Ich war von Anfang an dagegen!“
Ich wusste immer noch nicht, worum es ging.
„Aha. Und aus welchen Gründen haben Sie ihn entlassen müssen?“
„Er hat sich nicht ins Team eingefügt. Überhaupt nicht. Totaler Einzelgänger. Querkopf. So geht das nicht! Und eins will ich Ihnen sagen:“, er wedelte aufgeregt mit seinem ausgestreckten Zeigefinger vor mir herum, „So geht das nicht. Ich werde mich über Sie beschweren! Das Sie’s nur wissen! Es kann ja wohl nicht sein, dass irgend so ein dummer Student vom Konzern beauftragt wird, hier solchen Mist abzuliefern und wir können das dann ausbaden!“
Ich schaute ihn interessiert an. Eigenartige Bilder entstanden in mir. So einen Auftritt hatte ich bislang noch nicht erlebt.
„Lassen Sie uns doch mal gucken“, schlug ihm vor.
„Was wollen Sie gucken?“
„Na, wir haben doch ein Gutachten von ihm. Da wird das ja alles drinstehen.“
Ich ging zu meinem Aktenschrank und zog den Ordner hervor. Ich suchte den Namen raus.
„Hier“, zeigte ich ihm.
Er trat neben mich.
„Was „hier“?!“ wollte er unwirsch wissen.
Ich drückte ihm den Ordner in die Hand und zeigte mit dem Finger auf den letzten Absatz meines Gutachtens. Dann las ich ihm vor:
„… wird Schwierigkeiten haben, sich ins Team einzufügen. Von einer Einstellung wird abgeraten. Auf ausdrücklichen Wunsch der Fachabteilung wird eine Einstellung dennoch vorgenommen.“
Er schaute mich entgeistert an.
„Und schauen Sie hier“, sagte ich ihm. „Wir fassen das ja immer in Schulnoten zusammen. Ich habe diesem Bewerber eine Vier gegeben. Konzernweit ist die Vereinbarung, dass wir ab einer Zwei minus nicht mehr einstellen. Sie haben das so gewollt, nicht ich.“
Er schaute etwas verdattert. Seine Körperspannung entkrampfte sich sichtlich. Seine Schultern fielen ein. Auch der ausgestreckte Zeigefinger war jetzt verschwunden. Wieder entstanden sehr interessante Bilder in mir.
„Vielleicht sollten Sie sich eine Kopie dieses Gutachtens machen, wenn Sie sich über mich beschweren wollen“, schlug ich ihm vor. „Dann haben sie gleich was Handfestes, was Sie vorweisen können. Sie wissen ja, wo hier auf dem Flur die Kopierer stehen.“
Und damit setzte ich mich wieder an meinen Schreibtisch. Ich wurde nach Stunden bezahlt und hatte unheimlich viel zu tun.
Auf meine Bilder kann ich mich immer verlassen.
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Neo-Silver (Samstag, 29 Februar 2020 19:28)
Bezugnehmend auf die Bilder, also geometrischen Formen die in dir entstehen, habe ich eine Frage.
Hast du eine Übersetzung dafür und kannst du mir ein paar Beispiele nennen?
So in etwa wie Ein rotes Dreieck bedeutet XYZ.
Mir ist bewusst, dass diese Bilder sicher so komplex wie Menschen individuell sind und du über viele Intepretationen der Bilder nicht nachdenken musst, sondern direkt die Bedeutung weißt.
Aber mich interessiert die Mechanik dahinter.
Stiller (Sonntag, 01 März 2020 01:05)
Hallo Neo-Silver,
du fragst:
"Hast du eine Übersetzung dafür und kannst du mir ein paar Beispiele nennen?"
Nein, es gibt keine einheitliche Übersetzung.
Ich habe schon oft versucht, verständlich zu machen, was bei der Interpretation der Bilder in mir abläuft. Es ist mir nie auch nur annähernd gelungen.
Du schreibst:
"Aber mich interessiert die Mechanik dahinter."
Mich auch. Aber ich habe keinen bewussten Einfluss oder Zugriff auf das, was hier passiert. Ich kann es nur nehmen, wie's kommt. Und je demütiger ich das tue, desto besser ist das nach meiner Erfahrung für alle Beteiligten.