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Lebenszeitkosten

Durch bloßen Zufall bin ich auf diesen Begriff gestoßen. (Danke an Autismus – Facetten – Reich!)

 

Es gibt tatsächlich in der weltweiten wissenschaftlichen Forschung zum Thema Autismus diesen Ansatz, zu berechnen, was ein Autist während seines ganzen Lebens der Gesellschaft an Kosten aufbürdet. Das wird dann „Lebenszeitkosten“ genannt.

 

Ich nehme mal willkürlich eine Zahl aus der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion: „Lebenszeitkosten pro autistischer Person 3,2 Millionen Dollar (Ganz, 2007)“

 

So ist das also. Ein Autist belastet während seines Lebens die Gemeinschaft der NTs mit 3,2 Millionen Dollar. Rechnen wir das der Einfachheit halber um in Euro – einen Autisten ein Leben lang durchzufüttern kostet die Gemeinschaft also ca. 3 Millionen Euro.

Interessant, wie es Menschen gelingen kann, an anderen Menschen ein Preisschild zu befestigen und das auch noch als „wissenschaftliche Forschung“ öffentlich gefördert zu bekommen.

(Was kostet eigentlich die Würde eines Menschen? Die scheint ja wirklich wertvoll sein. Unbestätigten Angaben zufolge ist sie sogar unantastbar. Habe ich jedenfalls mal gehört).

 

Jo.

Lebenszeitkosten.

3,2 Millionen Dollar (ungefähr 3 Millionen Euro).

Steht da so.

Das habe ich mir nicht ausgedacht. Das ist aus Quellen im Internet, die ich für absolut glaubwürdig halte. Und wenn ich zu diesem Thema recherchiere, stelle ich fest:

Das ist tatsächlich ein gängiges Thema in der wissenschaftlichen Literatur. Aktuell wird auch in Deutschland zu diesem Ansatz geforscht.

 

Ich schreibe diesen Text exakt am 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.

Genau an diesem Tag stolpere ich eher zufällig über mehrere wissenschaftliche Texte, die mir tatsächlich weiß machen wollen, dass ein Autist die Gemeinschaft im Durchschnitt 3 Millionen Euro kostet.

 

Was ist dazu zu sagen?

 

 

1

Das Ziel solcher Berechnungen

 

Vergleichbare Darstellungen kenne ich aus der Frühzeit des Dritten Reiches. Damals warnte man auf Plakaten mit diesem Text:

„Täglich RM 5,50 kostet den Staat ein Erbkranker. Für RM 5,50 kann eine erbgesunde Familie 1 Tag leben!“

(Wer das nicht kennt, kann das ja mal googeln. RM steht für Reichsmark).

 

Damals wurde mit der Verbreitung von so einem Unsinn der Boden bereitet für den massenhaften Mord an Menschen, die aus irgendwelchen Gründen als behindert oder krank galten. Man nannte es damals „Euthanasie“.

Im Jahr 1933 wurde von den Nazis ein „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen.

Später wurde das dann in vielen Schritten bis hin zur „Aktion T 4“ gesteigert.

Viele 10.000 Menschen wurden in dieser Aktion ermordet. Hunderttausende wurden verstümmelt.

 

Ich bin sehr sicher, dass die Wissenschaftler, die heute zu „Lebenszeitkosten“ von Autisten forschen und veröffentlichen, solche Vergleiche sehr empört und sehr weit von sich weisen würden. Was ist denn in ihren Augen das Ziel solcher Berechnungen?

 

Ich zitiere mal aus einer mir zugänglichen Begründung für solche Forschung:

„Das Ziel ist es, anhand der gewonnen Erkenntnisse Möglichkeiten einer effizienteren Versorgung (der Autisten) aufzuzeigen.“

Ja, klar. Das ist das Ziel. Selbstverständlich. Wie nobel! Gleich morgen werde ich anfangen, das zu glauben. Es wird mir zwar sehr schwer fallen, aber ich werde mir alle Mühe geben. (Ironie)

 

Egal, wovon diese Wissenschaftler überzeugt sind: Hier wird der Boden bereitet, um die politische Debatte anstoßen zu können, ob die Gesellschaft sich in diesen Zeiten Autisten überhaupt noch leisten kann. Wie politisch naiv und geschichtsvergessen müssen Wissenschaftler eigentlich sein, um sowas nicht zu sehen?

 

Wie würden diese Wissenschaftler es eigentlich finden, wenn auf diese Weise auch über sie, ihre Familie und ihre Kinder geforscht würde?

Wenn an ihnen und an jedem in ihrer Familie ein Preisschild befestigt würde?

Würden sie das in Ordnung finden?

(Schließlich geht es ja nur darum, die Versorgung von Menschen effizienter zu gestalten, nicht wahr? (Ironie))

 

Ich nehme an, sie würden Vergleiche mit dem Dritten Reich ganz weit von sich weisen.

Das macht nichts. Man kann auch weit von sich weisen, dass die Erde rund ist. Sie bleibt trotzdem rund.

Was hier betrieben wird, ist die Vorbereitung der Beseitigung einer ganzen Bevölkerungsgruppe – egal, wie auch immer das letztlich betrieben wird. Es muss ja nicht Massenmord sein. Man kann auch versuchen, hirnanatomische Veränderungen an Autisten vorzunehmen oder an „Therapien“ forschen, die den Autisten ihren Autismus austreiben sollen (siehe mein vorletzter Blogtext „Du sollst nicht merken!“) oder irgendwas in der Art. Wer weiß – vielleicht kann man ja irgendwann gegen Autismus geimpft werden oder es gibt Gentherapie gegen Autismus oder sowas …

Irgendwas wird den „Erbgesunden“ dann schon einfallen. Denn die Autisten sind ja wahnsinnig teuer. Und krank sind sie außerdem. Eine nicht tragbare Belastung für die Gesellschaft, die sowieso schon unter genug Problemen zu ächzen hat. (Ironie)

Normal ist in ihren Augen neurotypisch, und wer nicht normal ist, bekommt hier ein gewaltiges Problem.

 

Vorbereitet wurde der Massenmord an „Erbkranken“ damals dadurch, dass man einander vorrechnete, was es denn kostet, einen „Behinderten“ bzw. „Erbkranken“ ein Leben lang durchzufüttern.

 

Nochmal: Ich schreibe diesen Text am 27. Januar. Heute vor 75 Jahren wurde Auschwitz befreit.

Wann befreien wir uns von der Diskussion darüber, ob wir es uns leisten können, Menschen in unserer Mitte leben zu lassen?

 

 

2

Die Lebenszeitkosten des Neurotypischen Syndroms

 

Ich habe das an anderer Stelle schon mal geschrieben:

Wenn die NTs denken, dass ihre Art, in der Welt zu sein, die Gemeinschaft nicht mit Kosten belastet, dann irren sie sich. Sie irren sich gewaltig.

Ich habe dazu in meinem Arbeitsumfeld ziemlich umfangreich Zählungen und Messungen gemacht. (Natürlich stehen mir nicht die zeitlichen und geldlichen Ressourcen irgendwelcher Uni-Professoren zur Verfügung, deshalb kann ich dazu nicht wissenschaftlich veröffentlichen):

 

In meinem Arbeitsumfeld gilt:

Etwas mehr als 25% ihrer gesamten beruflich verbrachten Zeit wenden NTs dafür auf, in den sozialen und emotionalen Austausch mit Kollegen zu gehen. (Sie unterhalten sich miteinander über den letzten Urlaub, sie machen Smalltalk, sie spinnen Intrigen, sie tragen Kaffeetassen auf Fluren spazieren, in der Hoffnung, Gleichgesinnte zu finden, mit denen sie sich unterhalten können, sie sitzen viel zu oft und viel zu lange unproduktiv in irgendwelchen Besprechungen herum, sie gehen zu Jubiläen und Geburtstagsfeiern im Betrieb etc.)

 

Das tun sie, weil sie - anders als die AS – permanent emotional und sozial bedürftig sind. Die NTs können nicht anders. Es ist ihre Art, in der Welt zu sein.

Das bedeutet, dass NTs sich etwas mehr als 25% ihrer vom Kunden bezahlten Arbeitszeit mit Dingen beschäftigen, für die der Kunde zwar bezahlt, von denen der Kunde aber nichts hat.

 

Anders ausgedrückt:

Das Neurotypische Syndrom verteuert jede Ware und jede Dienstleistung, an deren Erstellung oder Erbringung ausschließlich NTs arbeiten, um etwas mehr als 25%. Ich habe in diesem Zusammenhang mal von einer „Steuer auf alles“ gesprochen, die wir alle zahlen müssen, damit NTs NTs sein können.

 

Was bedeutet das hochgerechnet?

Das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland betrug 2019 3,44 Billionen Euro.

Das bedeutet also, dass wir in Deutschland allein im Jahr 2019 knapp eine Billion Euro nur dafür aufgewandt haben, dass die NTs NTs sein können.

(Eine Billion Euro sind eine Million Millionen Euro).

Das muss sich eine Gesellschaft erst mal leisten können, nicht wahr?

 

 

3

Wenn wir in Frieden miteinander leben wollen

 

Ich will jetzt nicht in eine Diskussion darüber einsteigen, wer teurer für die Gesellschaft ist – ein NT oder ein AS.

Fakt ist, dass unsere jeweilige Art, in der Welt zu sein, immer mit Kosten für Andere verbunden ist. Wenn wir in Frieden zusammenleben wollen, dann müssen wir einander achten und füreinander einstehen. Wenn wir anfangen, uns gegenseitig vorzurechnen, was wir einander kosten, dann ist ein friedliches Miteinander nicht mehr möglich.

 

Ich bin kein Idiot, und ich weiß, dass es Kosten verursacht, wenn Menschen leben. So habe ich mir, bevor ich Kinder in die Welt setzte, sehr genau angeschaut, was es kostet, ein Kind großzuziehen. Und natürlich habe ich genau kalkuliert, ob ich diese Kosten würde aufbringen können. Alles andere hätte ich für unverantwortlich gehalten.

 

Aber wenn wir über „Lebenszeitkosten“ reden, dann schauen wir nicht, ob eine einzelne Person oder eine einzelne Familie irgendwelche Kosten stemmen kann. Wir reden bei „Lebenszeitkosten“ darüber, ob eine der wohlhabendsten Gesellschaften der Welt es sich leisten kann, Menschen in ihrer Mitte leben zu lassen.

Und das ist etwas ganz anderes.

Das ist in meinen Augen eine sehr unwürdige und sehr erbärmliche Diskussion.

Wenn Wissenschaftler tatsächlich die Hilfe für Autisten effizienter gestalten wollten, könnten sie das tun, ohne „Lebenszeitkosten“ zu berechnen. Das geht. Ganz sicher.

 

 

Übrigens – es scheint Wissenschaftler zu geben, die sich elaboriert zu „Lebenszeitkosten“ äußern und gleichzeitig der Inklusion von AS in die NT-Gesellschaft das Wort reden.

 

Vermutlich beherrschen sie das, was George Orwell das „Zwiedenken“ nannte.

 

 

 

P.S.

Niemand sollte es für anständig oder für ethisch gerechtfertigt halten, einem anderen Menschen ein Preisschild anzuhängen. Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Das sollte eigentlich selbstverständlich sein.

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Kommentare: 2
  • #1

    JK (Donnerstag, 06 Februar 2020 13:15)

    ? .. auch NTs ("empties") haben lebenszeitkosten. nur andere. und die arbeiten ja auch und sorgen dafür, das der laden hier läuft.

    insofern sind autisten ein "jobwunder", die sorgen für arbeitsplätze im gesundheitsystem ... und wenn sie arbeiten, sind sie natürlich effektiver in dem was sie tun ... wenn sie richtig eingesetzt werden.

    wir alle sind systemrelevant da wir ordentlich konsumieren.

    viele arbeiten und zahlen steuern und abgaben, andere bekommen irgendwas. ... kinder, rentner, arbeitslose, kranke, beamte, soldaten. lehrer, ... der staat und die sozialsysteme verteilen 50% des verfügbaren einkommens um.... so läuft die show hier.

    und natürlich kann man überall ein preisschild dranmachen. und das ist oft gut so. money talks.

    insofern habe ich ein anderes fazit und den nazivergleich lass ich unter den tisch fallen. ethik ... naja. .. glaubt ihr immer noch, das es luft ist die ihr atmet?

  • #2

    Stiller (Donnerstag, 06 Februar 2020 15:03)

    Zu den "Lebenszeitkosten" der NTs habe ich mich in meinem Blogtext schon geäußert. Die dürften wirklich immens sein.

    Habe ich das richtig verstanden, dass die NTs arbeiten und dafür sorgen, "das der laden hier läuft"?
    Wenn ja - was lässt sich daraus ableiten?

    Habe ich das richtig verstanden, dass die AS nicht dafür sorgen, "das der laden hier läuft"?
    Wenn ja - auf welcher Datenbasis fußt diese Aussage?

    Es gibt sehr viele Autisten, die arbeiten und positiv zur Finanzierung des Sozialsystems beitragen. Ich zahle jeden Monat deutlich mehr als 2.000 Euro direkte Steuern und zahle schon seit Jahrzehnten die jeweiligen Höchstbeiträge in die Sozialkassen. Die wenigsten angestellten NTs (weniger als 5%) verdienen so viel wie ich und werden dementsprechend in dieser Höhe zur Finanzierung des Gemeinwesens herangezogen. Und mit den indirekten Steuern bin ich sowieso dabei, wie jeder andere auch.
    (Nur falls das von Interesse sein sollte: Hochschulprofessoren und andere verbeamtete Wissenschaftler, die über Autisten schreiben, die zahlen nichts in die Sozialksassen ein).

    Wenn wir in Frieden miteinander leben wollen, dann müssen wir solidarisch miteinander umgehen.
    Dann muss einer für den anderen einstehen. In erster Linie sind wir nicht AS oder NTs, sondern in erster Linie sind wir Menschen.
    Das heißt:
    Priorität hat, dass wir menschlich miteinander umgehen.
    Erst danach kommen die jeweiligen Gruppenspezifika.

    Ich habe mit zahlreichen Autisten gesprochen, bei denen ich den Eindruck habe, dass sie ganz hervorragende Fähigkeiten haben, denen aber die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten am Arbeitsmarkt einzubringen, von NTs systematisch verweigert wird. Wenn es also tatsächlich darum gehen sollte, dass die Autisten sich mehr an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen, gibt es da noch enorme Optimierungspotenziale. Viele AS, mit denen ich gesprochen habe, sind nicht behindert, sondern sie werden behindert. Die neurotypischen Menschen, mit denen sie zusammenleben, lassen sie am Arbeitsmarkt nicht Fuß fassen.

    Dann noch ein Zitat sowie meine Meinung und Fragen dazu:
    "und natürlich kann man überall ein preisschild dranmachen. und das ist oft gut so. money talks."

    Ich selber bin überzeugt davon, dass wir marktwirtschaftlich organisiert sein müssen, damit wir uns einen Sozialstaat leisten können. Aber bitte alles mit Grenzen und Augenmaß. Zuerst kommt der Mensch, dann das Geld. Deshalb habe ich zu diesem Zitat fünf Fragen:

    1) Was kostet ein zufriedenes, gelungenes und erfülltes Leben?
    2) Was kostet eine glückliche Kindheit?
    3) Was kosten gute Träume in der Nacht?
    4) Was hat der Kommentar gekostet, aus dem das Zitat ist?
    5) Was kostet es, wenn man beim Tippen Großbuchstaben benutzt?

    Und zum Schluss:
    "glaubt ihr immer noch, das es luft ist die ihr atmet?"
    Ja - das, was ich atme, ist Luft. Ich bin Asthmatiker und habe mich gründlich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Es ist Luft. Das weiß ich ganz sicher. Da brauche ich auch nichts zu glauben.