Du sollst nicht merken!

Zu den perfidesten Bestandteilen der schwarzen Pädagogik gehört es, Kindern und Erwachsenen ihre Gefühle auszureden. Sie sollen ihre Gefühle nicht mehr fühlen. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass Gefühle, die nicht mehr gefühlt werden, nicht mehr existieren. Dass sie einfach weg sind.

 

Das ist so, wie wenn man den Müll in den Keller bringt. Der ist dann auch einfach weg (Ironie).

Tatsache ist, dass nichts einfach verschwindet oder sich in nichts auflöst, wenn wir es aus unserem Bewusstsein verbannen. Es ist nicht weg – es ist woanders. Wenn es verbannt wird, ist es weiterhin wirksam, nur können wir es halt nicht mehr bemerken.

Um beim Bild mit dem Müll im Keller zu bleiben:

Der fermentiert und stinkt da vor sich hin, aber wir bemerken es (lange Zeit) nicht.

 

In dem Maße wie wir unsere Gefühle nicht mehr fühlen, verwandeln wir unser Leben in eine triste und öde Scheinexistenz. Dann wird unser Leben grau, eintönig, nichtssagend und leer. Der Sinn des Lebens kommt uns abhanden. Je weniger wir noch unsere eigenen Gefühle fühlen können, desto mehr sind wir auf Ersatz- und Kunstgefühle angewiesen und eben auf „Erlebnisse“, um uns überhaupt noch irgendwie lebendig fühlen zu können.

 

Jedes Kind und jeder Erwachsene bekommt von seinem sozialen Umfeld den Auftrag, bestimmte Gefühle nicht mehr zu fühlen. Um welche Gefühle es sich handelt und in welcher Ausprägung dieses Fühlverbot gilt, ist von Fall zu Fall verschieden. Aber dass Deutschland eine Kultur hätte, in der Gefühle einen herausragenden Stellenwert hätten, habe ich noch nie gehört. Platt und überspitzt ausgedrückt: Wir sind Preußen und wir fühlen was, wenn das befohlen wurde. Um das ganz simpel an Geschlechterstereotypen aufzuzeigen:

Männern wird häufiger als Frauen verboten zu trauern – die Trauer zu fühlen, zu zeigen, zu leben.

Frauen wird häufiger als Männern verboten wütend zu sein – ihre Wut zu fühlen, zu zeigen, zu leben.

 

In einem ganz besonderen Ausmaß scheint dieses Fühlverbot auf Autisten angewandt zu werden. Sie werden als Kinder und als Erwachsene dressiert, in dieser doch eher gefühllosen sozialen Umwelt ihren Platz zu finden und sich dort zu behaupten. Sie sollen vergessen, wer sie sind und sich ihre Gefühle abtrainieren. Dazu werden Mechanismen angewandt, die wahlweise „Erziehung“ oder „Therapie“ genannt werden. Meine Meinung ist: Man kann’s nennen, wie man will – Folter bleibt Folter, auch wenn sie adrett, höflich, wissenschaftlich fundiert und gut geschminkt daher kommt.

 

Ich will es an ein paar Beispielen demonstrieren:

 

 

1

Vor vielen Jahren ging ich zu meinem Ohrenarzt, weil ich jedes Jahr geräuschempfindlicher wurde. Ich dachte, dass das irgendeine Erkrankung sein könnte. Der Arzt untersuchte mich und konnte keine körperliche Erkrankung feststellen. Dann machte er dieses typische Gesicht, das Ärzte immer machen, wenn sie lateinische Vokabeln von sich geben und sagte.

„Hyperakusis“.

 

Er empfahl mir ein Buch, das ich mir kaufte. Irgendeine dünne Broschüre aus einem Verlag, der sich auf Medizinisches für Selbstheiler spezialisiert hat. Da gibt’s alles zum Abnehmen, über Schüssler-Salze, Rückengymnastik etc. Und eben auch Hyperakusis.

 

Hyperakusis, so lehrte mich dieses Machwerk, sei eine Überempfindlichkeit gegen Geräusche. Das könnte nur bekämpft werden, indem man sich schrittweise an die Geräusche gewöhne und sich bewusst immer größeren Dosen unangenehmen Lärms aussetzte.

 

Mit anderen Worten: Ich sollte abstumpfen. Ich sollte nicht mehr fühlen.

Oder wie die Harlekine in mir dann immer sagen:

„Friss mehr Scheiße! Irgendwann gewöhnst du dich daran.“

 

Natürlich habe ich dieses Buch weggeschmissen.

Dann bin ich zum Hörgeräteakustiker gegangen und habe mich schlau machen lassen, mit welchen Techniken man sich gegen Schall schützen kann.

 

 

2

Oberflächlicher sozialer Kontakt mit Menschen verschleißt meine Energien in einem geradezu ungeheuren Ausmaß. Bin ich zehn Minuten auf einer Feier (Hochzeit, Geburtstag etc.) oder einem Event bin (Weihnachtsmarkt, Kirmes), dann ist mir nur noch nach davonlaufen.

 

Einschub

Sozialer Kontakt, der nicht oberflächlich ist, ist etwas, was ich sehr schätze und sehr gerne aufsuche. Das ist sozialer Kontakt ohne Smalltalk, ohne Reden um des Redens willen, ohne Maskenzwang. Echte Begegnung zwischen Menschen erlebe ich als sehr bereichernd.

Einschub Ende

 

Verschiedene Menschen, die mir „helfen“ wollten, haben mir sehr ernst gemeinte und sehr differenzierte Tipps gegeben, wie ich es schaffen könnte, bei diesen Ereignissen länger anwesend zu sein, indem ich nichts mehr fühle. Das war dann so eine Art „soziales Abhärtungstraining“. Diese NTs meinten das völlig ernst. Offenbar ist das ihre bevorzugte Art, in der Welt zu sein – sozial abgehärtet. Wenn ich kaum noch was fühle, dann kann ich mich natürlich in jeden Rummel und in jedes Event stürzen. Dann habe ich einen Panzer ums Herz und Hornhaut auf der Seele. Und mit meinen Sinnen kriege ich sowieso kaum noch was mit. Aber allen Ernstes – wer will denn so leben?!

 

„Was uns nicht umbringt macht uns härter“, sagen die NTs dann manchmal und lachen auf diese typische Weise, in der sie immer lachen, wenn es in Wirklichkeit gar nichts zu lachen gibt.

Ich bitte um Verständnis: „Hart“ zu werden ist nun absolut nicht mein Lebensziel. Ich bin weder aus Holz noch aus Stein. Ich habe keinerlei Anwandlung, mich in ein Wesen aus Holz oder aus Stein zu verwandeln.

 

Und ich habe auch nicht den Eindruck, dass es der Welt, in der ich lebe, an „harten“ Menschen fehlt. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Welt eine bessere wäre, wenn wir alle nur ein wenig „härter“ wären.

 

 

3

Ich hatte in meinem Leben schon zwei Dutzend Chefs. Und eine ganze Anzahl von ihnen störte sich immer wieder an meiner ausgeprägten Schüchternheit. Sie meinten, sowas wäre mit beruflichem Erfolg nicht vereinbar. (Wie man an meinem Beispiel sieht, geht das aber. Man kann schüchtern und beruflich erfolgreich sein).

Ja, und dann machten sie es sich ungefragt und ungebeten zur Aufgabe, mir diese Schüchternheit abzutrainieren. Dazu brachten sie mich regelmäßig in die haarsträubendsten Situationen – die Hölle für Schüchterne. Ich wurde zu Betriebsfeiern abkommandiert und musste dort Kontakte knüpfen. Ich musste mich von jetzt auf gleich mit Gruppen auseinandersetzen, die ich noch nie gesehen hatte. Ich wurde zu Führungsbesprechungen befohlen, wo ich unvorbereitet irgendwelche Sachen energisch und selbstbewusst vertreten sollte. Meine Chefs warfen mich gerne den Psychopathen und den Haien vor – je extravertierter und grausamer die waren, desto besser sollte das für mich sein. Das Ergebnis war dann nicht, dass ich weniger schüchtern war oder selbstbewusster wurde, sondern dass ich noch stärker traumatisiert und noch weniger ich selber war.

 

Heute mache ich mir in vergleichbaren Situationen zunutze, dass ich den Chef wesentlich schneller durschauen kann als er mich. Und wenn er mich in Situationen bringen will, die meinem Naturell völlig zuwiderlaufen, um aus mir einen besseren Menschen zu machen …

 

… ja, eigentlich ist es ganz einfach:

Noch bevor er damit richtig begonnen hat, habe ich schon eine Fülle an Situationen inszeniert, in denen er mit dem konfrontiert wird, was ihm besonders unangenehm ist. Das nimmt ihm die Luft zum Atmen und die Energie, an mir herumzuerziehen.

Das garniere ich dann meistens mit meinem unschuldigsten und freundlichsten Lächeln.

 

Falls ich mich der Erziehung durch die wohlmeinenden NTs in meiner Umgebung entziehen kann, entziehe ich mich dem. Dafür nehme ich auch einige Anstrengung und Unannehmlichkeit auf mich.

Falls ich mich diesem Erziehungsdruck aber nicht entziehen kann, gilt:

Erziehe mich – und ich erziehe zurück.

Und glaube mir: Ich sitze am längeren Hebel (Sprachbild). Menschen sind mein Spezialinteresse, nicht deins.

Normalerweise hört das mit dem Erziehen dann im beiderseitigen Einvernehmen sehr schnell auf.

Aber bis dahin war es ein sehr langer Weg.

Jahrzehntelang habe ich sehr darunter gelitten, dass NTs mir helfen wollten, indem sie mich zu einer nicht fühlenden und gut funktionierenden Maschine dressierten.

Offenbar ist das ihre Art in der Welt zu sein.

Offenbar kann man anders in der NT-Welt nicht bestehen.

 

 

 

Fazit

Warum um alles in der Welt, sollen Autisten lernen, das zu ertragen, was ihnen unerträglich ist? Wozu sollen sie lernen, so zu leben, dass es ihrem Naturell völlig zuwiderläuft? Was für eine Welt soll das sein, in der sowas gut ist?

Was soll gut daran sein, wenn ich mich in eine gut funktionierende und nicht fühlende Maschine verwandeln muss, um „Teilhabe“ an der „Gesellschaft“ haben zu können?

So eine „Gesellschaft“ ist offenbar gut für Maschinen, die nicht (oder nur wenig) fühlen.

 

Danke – kein Interesse.

Ich will nicht eine Maschine werden müssen, nur damit ich mit euch leben kann.

Wenn ihr eine maschinenhafte Existenz anstrebt und damit zufrieden seid, dass ihr so wenig fühlt und so wenig wahrnehmt, dann ist das eure Sache und euer gutes Recht.

Aber was habe ich damit zu tun?

 

Und nochmal:

Ob du eine Folter nun „Erziehung“ oder „Therapie“ nennst, ist völlig egal. Es bleibt Folter.

Und es ist auch völlig egal, was Wissenschaftler oder die öffentliche Meinung dazu sagen.

Folter ist Folter.

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Kommentare: 1
  • #1

    Hanspeter Fischer (Samstag, 17 April 2021)

    Der Mensch an sich ist feige und schämt sich für sein Gefühl, dass es nur keiner zeige weil die Moral es so will.
    Sang schon Hildegard Knef.