In meiner Welt unter scheide ich „wirksame“ Psychotherapie von „unwirksamer“. Wirksam ist in meiner Welt eine Psychotherapie dann, wenn sie an den Ursachen von Problemen ansetzt. Unwirksam ist sie dann, wenn sie sich lediglich damit beschäftigt, an Symptomen zu arbeiten.
In den letzten Jahren haben sich immer wieder Menschen an mich gewandt, die eine wirksame Therapie gerade begonnen hatten oder überlegten, eine zu beginnen. Und obwohl diese Menschen sich nicht kannten, kam es zu fast gleichlautenden Dialogen. Das klang dann ungefähr so:
Mensch: „Wie lange brauche ich denn, bis ich fertig bin mit der Therapie?“
Stiller: „Wie – ‚fertig‘?“
Mensch: „Ja, wie lange brauche ich, bis ich mich befreit habe und das, was in meiner Kindheit war, aufgearbeitet habe?“
Stiller: „Wenn du gut voran kommst, dann kannst du in zehn Jahren auf der anderen Seite des Tunnels sein.“
Mensch (entsetzt): „Was?! So lange?! Und wenn ich mir richtig Mühe gebe?“
Stiller: „Ja, dann kannst du schon in fünfzehn Jahren soweit sein.“
Mensch (eher fassungslos): „Ja … aber … aber wenn ich jetzt alle meine Energie darein setze und mich wirklich voll drauf konzentriere?“
Stiller: „Dann, denke ich, wirst du in zwanzig Jahren auf der anderen Seite sein.“
Mensch: „…“
Ich kann das ja verstehen. Als ich mit meiner Psychotherapie begann, wollte ich auch möglichst rasch „fertig“ sein. Dabei dachte ich an einen Zeitraum von sechs Wochen bis „maximal anderthalb Jahren“. Und diese „anderthalb Jahre“ fand ich damals schon sehr großzügig bemessen.
Nachdem ich anderthalb Jahre Psychotherapie gemacht hatte, hatte ich den Eindruck, ich könne allmählich mal richtig beginnen. Wenn wirksame Psychotherapie uns eins lehrt, dann ist es Demut. Demut vor dem Ausmaß der eigenen Schädigung. Demut vor der Zeit, die es braucht, um zu heilen.
(Ich erlebe es so, dass beinahe jeder Mensch, dem ich begegne, begabter für Psychotherapie ist als ich. Ich habe 12 Jahre gebraucht, um an meiner Geburt anzukommen).
Vor meiner Psychotherapie habe ich auch immer „fertig“ sein wollen. Ob jetzt mit oder ohne Psychotherapie - ich wollte durch sein mit all dem Leid. Ich wollte all das, was in meiner Kindheit war, aufgearbeitet haben. Ich wollte das alles hinter mir lassen können. Ich wollte mich endlich nicht mehr ständig damit beschäftigen müssen. Ich wollte mit meinem richtigen Leben beginnen können,ohne dauernd von meiner Vergangenheit eingeholt und behindert zu werden. Das bedeutete für mich „fertig sein“. – Kindheit aufgearbeitet und abgehakt.
Heute sehe ich die Dinge in einem ganz anderen Licht. Da, wo ich jetzt bin – ja, wie formuliere ich das jetzt …?
Ich sag’s mal so: Denen, die dort sind, wo ich bin, denen brauche ich das nicht zu beschreiben. Und denen, die nicht dort sind, denen kann ich das nicht beschreiben. Ich hab’s versucht – es geht nicht.
Aber für all die, die irgendwann mal „fertig“ sein wollen habe ich eine Frage:
Wann ist ein Bach fertig mit dem Fließen?
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