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Nützt doch nichts

Ein AS; der mir viel bedeutet, berichtete mir neulich von einer Situation in seiner Gruppentherapie, die mir recht vertraut vorkam:

Ein besonders neurotypischer Psychotherapeut macht Vorschläge und gibt Anweisungen, die alle auf dasselbe hinauslaufen:

Wir kommen einander näher. Wir überwinden die Distanz, die zwischen uns ist.

 

Der Psychotherapeut ordnet an:

  • Wir schauen einander in die Augen
  • Wir berühren einander
  • Wir stellen uns in einem Kreis auf und der, der so ungern mit anderen in Kontakt ist, wird in die Mitte gestellt und von den anderen berührt und behütet
  • Und so weiter

Und wenn jemand das nicht will, oder sich – so wie ich – konsequent weigert, da mitzumachen, dann ist das ein ganz klares Zeichen, dass dieser Mensch voller unerlöster Kindheitserinnerungen ist, völlig unglücklich ist und ganz viele Abwehrmechanismen entwickelt hat.

 

So ein Mensch muss dringend erlöst werden. Und Erlösung funktioniert ausschließlich über Nähe. Und um Nähe zu erzwingen, ist so ziemlich jedes Mittel recht. Selbst wenn es Zwang ist. „Sanfter“ Zwang selbstverständlich. (Ironie).

Vor allem, wenn es Zwang ist.

 

Meine Kleinen haben ein Wort für solche Psychotherapeuten:

„Bonsai-Psychologen“.

 

Menschen sind von Geburt an sehr unterschiedlich. Und gerade unser Nähe-Distanz-Verhalten hat nach allem, was ich sehen kann, sehr viel mit unserem Genom zu tun. Es gibt Menschen, denen tut Nähe zu anderen Menschen sehr gut – die ziehen Kraft und Zufriedenheit daraus, anderen harmonisch nahe zu sein. Und es gibt Menschen, denen tut es sehr gut, eine ziemliche Distanz zu anderen Menschen zu haben. Die ziehen Kraft und Zufriedenheit aus dem Alleinsein und aus sich selbst. In welchem Maße wir zu Nähe oder Distanz neigen, ist weitgehend angeboren.

 

Aber genauso wie ich in meiner Arbeit darauf achte, einen nähe-gepolten Menschen nicht zu jemandem erziehen zu wollen, der aus dem Alleinsein Kraft zieht, so will ich nicht, dass jemand in meiner Persönlichkeit herumfuhrwerkt, um mich zu heilen. 

 

Ich dachte nach.

Ich fragte diesen AS:

„Wissen die da, dass du Autist bist?“

Und der AS antwortete spontan:

„Das nützt doch auch nichts.“

 

Und in dem Moment, wo er das sagte, rauschten buchstäblich hunderte Erinnerungsfetzen in mir vorbei, in denen ich genau das erlebt hatte:

NTs zu sagen, dass man AS ist, nützt nichts – sie ändern ihr Verhalten nicht. Jedenfalls nicht nachhaltig. Vermutlich können sie es gar nicht.

 

1

Da war diese Frau im Autismuszentrum, das es in meiner Heimatstadt gibt. Sie war Diplom-Psychologin.

Als ich das Autismuszentrum betrat, kam sie freudestrahlend auf mich zu, streckte mir ihre rechte Hand entgegen, sagte ihren Namen und schaute mir dabei fest in die Augen.

Es kam zu einem kurzen und kühlen Dialog:

Stiller: „Arbeiten sie hier?“

Frau (strahlend): „Ja.“

Stiller: „Dann gucken Sie bitte woanders hin, wenn Sie mit mir reden. Das tut mir weh.“

(Nochmal und in Zeitlupe: Das passierte in einem „Autismuszentrum“).

 

2

Da war dieser Professor, der eine bundesweit anerkannte Koryphäe für das Asperger-Syndrom ist. Der lud mich ein, einen Vortrag zu halten bei einer Tagung, auf der es darum gehen sollte, die Stellung der AS am Arbeitsmarkt zu verbessern. Am Abend vor dieser Tagung lud er mich in ein Restaurant ein – zusammen mit all den NTs, die auf dieser Tagung sprechen sollten. Ich fragte ihn, wozu das gut sein sollte. Und er antwortete:

„Damit wir mal die Gelegenheit haben, uns alle kennenzulernen – abseits der Tagung.“

Ich sagte ihm:

„Interessant. Und wenn ich laktoseintolerant wäre, dann würden Sie mich also in eine Milchbar einladen, oder?“

Darauf wusste er nichts zu sagen. Ganz offenbar verstand er nicht, worum es mir ging.

Im Restaurant hatte er dann immer wieder Impulse, mich in ein Gespräch zu verwickeln, weil ich da die ganze Zeit so schweigend und allein rumsaß. Als ich Papier hervorholte und anfing, mathematische Gleichungen zu lösen, hörte er allmählich auf damit.

 

3

Da waren diese Menschen in der Uni in Österreich, die sich allesamt erfolgreich zum „Autismus-Begleiter“ hatten ausbilden lassen. In mehrmonatiger intensiver Arbeit waren sie damit vertraut gemacht worden, was AS ist und was AS nicht ist, was AS gut tut und was nicht … und so weiter. Sie hatten jetzt ein Diplom oder sowas. Auf jeden Fall waren sie allesamt staatlich zertifizierte AS-Versteher.

Ich stand unten im Hörsaal und sollte einen Vortrag halten. Ich war mal wieder das, was meine Kleinen den „Autist vom Dienst“ nennen. Die NTs saßen also da und füllten die Ränge und schauten mich erwartungsvoll an. Sie alle wussten, dass ich Autist bin. Ich drehte das Mikrofon unruhig in den Händen und das erste, was ich diesen Menschen sagte, war:

„Gucken Sie bitte woanders hin. Ich bin Autist. Es tut mir weh, wenn Sie mir in die Augen schauen.“

 

4

Da sind all die neurotypischen Autismus-Versteher, die es sich nicht nehmen lassen, mich über’s Telefon zu kontaktieren, obwohl sie wissen, dass ich AS bin und sie meine E-Mail-Adresse haben.

 

5

Und so weiter

 

 

Ich nehme an, dass jeder AS vergleichbares kennt.

 

Und an alle NTs, die das hier lesen:

Eine Analogie

 

Dass Rauchen schadet, ist wissenschaftlich bewiesen. Je stärker ein Mensch raucht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er früh und qualvoll stirbt.

Und dennoch:

Beinahe jeder Raucher, mit dem ich ins Gespräch über seinen Tabakkonsum komme, schildert mir, dass er einen kennt, der ganz viel geraucht hat und dabei kerngesund uralt geworden ist.

 

Ja, sowas gibt‘s.

Dennoch ist Rauchen tödlich.

 

Wenn ihr, liebe NTs, mir jetzt also schildert, dass ihr einen NT kennt, der sein Verhalten konsequent und dauerhaft umgestellt hat, um einem AS nicht unnötige Schmerzen zuzufügen mit seinem Verhalten, dann ist das für mich sehr ergreifend (Ironie).

Falls ihr selber dieser eine Mensch seid, dann beglückwünsche ich euch. Ihr dürft in den nächsten Trophäenladen gehen und euch dort einen silbernen Orden gravieren lassen: „Garantiert aspergerfreundlich“. Den dürft ihr die ganze Zeit tragen. (Ironie)

 

Genauso wie ich nicht abstreite, dass es Raucher gibt, die kerngesund uralt werden, genausowenig streite ich ab, dass es NTs gibt, die ihr Verhalten konsequent und dauerhaft umstellen können, wenn ihnen jemand sagt, dass er AS ist.

 

Aber das sagt beinahe nichts aus.

Im allgemeinen scheint als Naturgesetz zu gelten:

 

Sage einem NT, dass du AS bist, und bei ihm gibt es an konsequenter und nachhaltiger Verhaltensänderung …

 

… nichts.

 

 

 

Liebe NTs, da es euch nicht an gutem Willen mangelt, ist die Vermutung naheliegend, dass ihr es einfach nicht könnt.

 

Damit müssen wir wohl alle leben.

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