· 

Alles kann heilen

***

Bitte Vorsicht, in diesem Text geht es auch um Tod und Sterben. Er kann also triggernd sein.

***

 

Beruflich hat es das letzte Quartal dieses Jahres wirklich in sich. Nach allem, was ich sehen kann, bin ich in dem riesigen Ressort, in dem ich arbeite, der einzige Ansprechpartner für seelische Nöte. Es mag andere geben in diesem Ressort, die in dieser Sache auch geeignet sind, aber ich kenne sie nicht. Ich weiß auch nicht, ob es im Gesamtkonzern überhaupt kompetente Ansprechpartner für Menschen mit seelischem Leid gibt. Wenn ich beim Management des Konzerns in dieser Sache nachfrage, bekomme ich immer zwei Sorten von Antworten.

 

1

Wir beschäftigen uns mit Dienstleistung und mit dem Geldverdienen, damit sind wir vollauf beschäftig. Wenn die Angestellten Kummer haben … wen kümmert das? Nicht unsere Baustelle. Sie sollen sich an ihr soziales Umfeld oder an Externe wenden. Wozu hat man Freunde und Familie? Wofür ist man krankenversichert?

 

2

Doch, wir haben einen Ansprechpartner für seelische Nöte aller Art: Sie.

 

 

Antwort Nummer 2 ist natürlich eine zynische Lüge. – Das Management in unserem Konzern ist hervorragend darin, ein Klima zu erzeugen, in dem schwerste Ängste, Mobbing, Burnout und seelische Krankheit gedeihen. Aber sich mit den seelischen Scherben befassen und Verantwortung dafür übernehmen? Wo kämen wir da hin? Wer schwach ist oder scheitert, der wird aussortiert. … Bei uns im Konzern fressen selbst manche Vorstände angstlösende Pillen wie andere Menschen Drops: Bloß nicht auffallen, bloß keine Zeichen von seelischer Schwäche zeigen.

 

Und wenn ich in meinen Arbeitsvertrag schaue, dann steht da was von „Trainer“ und von „Coach“. Das ist mein Job, dafür werde ich bezahlt. In all meinen Unterlagen (Arbeitsvertrag, Stellenbeschreibung etc.) steht nichts von Anlaufstelle für seelische Kümmernisse aller Art.

 

Aber ich scheine der einzige zu sein, der dafür in Frage kommt. Darüber hinaus habe ich einen gewissen Ruf im Konzern. Also kommen die Leute zu mir.

 

Und da ich nicht in einer Welt leben will, in der Menschen in Not keinen Ansprechpartner finden können, führe ich diese Gespräche – zusätzlich zu meiner Arbeit.

Im letzten Quartal des Jahres hat sich das wirklich ziemlich gehäuft. Diese Gespräche fangen fast immer auf dieselbe Weise an:

Jemand ruft mich an und fragt:

„Stiller, können wir mal reden?“

 

Jo.

Und dann reden wir mal. Oder besser: Sie reden, ich höre zu.

 

In diesem Rahmen bewegt sich dieser Text. Mir ist ein Gespräch von vorletzter Woche nachhaltig in Erinnerung geblieben, und ich dachte, ich gebe den Kernpunkt mal in diesem Blog weiter. Vielleicht geht’s ja irgendwem ähnlich. Vielleicht kann irgendwer was damit anfangen.

 

Das ganze entwickelte sich so:

In kürzester Zeit kamen nacheinander mehrere Kollegen auf mich zu und sprachen mich auf das Verhalten eines Mannes an, der bei uns im Konzern arbeitet. Sie baten mich, mal mit ihm zu reden. Nach den Schilderungen der Kollegen entwickelte dieser Mann alle Zeichen einer schweren psychischen Erkrankung, ohne das zu merken.

Die Sache war mir zu heikel. Ich brauchte mehr Information. Also kontaktierte ich den Bruder dieses Mannes, der auch bei uns arbeitet. Ich schilderte ihm, was die Kollegen mir gesagt hatten und bat ihn, mir zu erzählen, wie er seinen Bruder in der letzten Zeit erlebt hatte.

 

Dabei stellte sich dieses heraus:

 

1

Ja, es scheint sich tatsächlich um eine gravierende psychische Krankheit zu handeln. Sowas kann, wenn es nicht behandelt wird, in kurzer Zeit tödlich enden.

 

2

Sie waren daheim fünf Geschwister gewesen. Mittlerweile waren drei gestorben (alle, bevor sie 60 Jahre alt geworden waren). Einer an Suizid, zwei an Krebs.

Es blieben also nur noch zwei Geschwister übrig (beide noch keine 60 Jahre alt):

a)    Der Bruder, mit dem ich jetzt sprach.

b)    Der Mann, um den meine Kollegen sich Sorgen machten.

Der Bruder hatte sich gerade zum wiederholten Male wegen Depression krankschreiben lassen.

Der Mann steuerte rasant auf Suizid bzw. Tod durch Selbstschädigung zu.

 

Der Bruder atmete sehr heftig am Telefon, als ihm klar wurde, was er mir da gerade erzählte. Und mir wurde sehr deutlich, dass er begriff, worum es ging. Seine Todesangst war buchstäblich mit den Händen zu greifen. Er erzählte mir von seiner erweiterten Familie: Cousins und Cousinen, Großeltern, Onkel, Tanten – in dieser Familie sterben die Menschen wie die Fliegen. Alle sterben sie weit vor ihrer Zeit. Bevorzugt durch Suizid oder Krebs. 

 

Jo.

Und jetzt ging es ihm und seinem Bruder an den Kragen. Das wurde ihm sehr klar.

Und auf einmal wurde aus dem Gespräch, in dem es eigentlich um diesen Mann hatte gehen sollen, eine Krisenintervention für seinen Bruder.

 

Ich klärte ab, ob in seinen Augen irgendein genetischer Defekt oder eine körperliche Schwäche oder auch bloßer Zufall eine Erklärung für dieses vielfache Sterben sein könnte.

Aber er winkte sofort unwirsch ab:

„Unsinn, Stiller! In unserer Familie wird gestorben! Das war schon immer so!“

Er war wirklich verzweifelt. Er fürchtete um sein Leben und um das seines Bruders. Und das aus gutem Grund.

 

Es handelte sich also um ein Todesprogramm, das in seiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben wurde. In dieser Thematik halte ich mich für kompetent. Deshalb klärte ich, ob er für ein Gespräch darüber offen war. Er war offen.Also skizzierte ich ihm, wie solche Programme entstehen, wie sie in frühester Kindheit weitergegeben werden und welche Funktion sie haben. Es konnte nicht mehr als eine Skizze sein, die ich für ihn entwickelte, denn wirksame Hilfe musste er sich woanders holen. Ich arbeite bei uns im Konzern nicht als Psychotherapeut.

 

In diesem Gespräch sagte ich ihm diesen einen Satz, der für ihn ziemlich wirkmächtig zu sein schien:

„Alles kann heilen.“

 

 

 

Schnitt

 

 

Wer in meinem Blog schon häufiger gelesen hat, dem wird klar sein, dass ich als Kind ziemlich übel behandelt worden bin. Auch in mein Leben haben sie, als ich ganz klein war, ziemlich viele zerstörerische Programme gestanzt. Auch ich bin in frühester Kindheit darauf programmiert worden, weit vor meiner Zeit zu sterben. Daneben haben sie noch andere zerstörerische Programme in mich gestanzt: Ich soll beruflich und finanziell versagen bis zur Nichtsesshaftigkeit. Ich soll schwer erkranken. Ich soll vor meinem Tod ein extrem unglückliches Leben leben. Ich soll nie finden, was ich suche. Ich soll nie merken, was sie mit mir gemacht haben.

Und so weiter.

 

Ich kenne keinen Menschen, der ohne solche zerstörerischen Programme ist. Bei den wenigsten sind sie derart destruktiv wie bei mir, aber ihre schädliche Wirkung entfalten sie allemal. Diese Programme liegen in einem Bereich unserer Persönlichkeit, der uns normalerweise nicht bewusst zugänglich ist. Aber auch hier gilt: Dass du etwas nicht wahrnehmen kannst, ist nicht der Beweis, dass es nicht da ist.

Und solange wir diese Programme nicht bewusst aufspüren und stilllegen, entfalten sie ihre zerstörerische Wirksamkeit. Das tun sie Tag und Nacht.

 

Aber es gibt kein zerstörerisches Programm in uns, das so perfide, heimtückisch oder schrecklich wäre, dass es nicht aufgespürt und stillgelegt werden könnte. Man kann buchstäblich jedes zerstörerische Programm in sich aufspüren und stilllegen. Das geht.

 

Alles kann heilen.

 

Ich will das an meinem Beispiel veranschaulichen.

In meiner eigenen Psychotherapie bin ich mittlerweile an diesem Punkt:

 

Als ich ein Kleinkind war, wurde ich von meinen leiblichen Eltern für Folter und sexuellen Missbrauch vermietet. Die „Hauptszene“, mit der ich jetzt monatelang beschäftigt war, sah so aus:

Ich bin anderthalb Jahre alt. Ich liege auf einem Tisch oder einer vergleichbaren Unterlage. Drei Männer schlagen mit Holz und mit Eisen auf mich ein. Dabei werde ich mehrfach bewusstlos. Dann vergewaltigen sie mich mehrfach oral und anal. Dann schlagen sie wieder auf mich ein und machen einen Wettbewerb, wer überhaupt noch Töne aus mir herausbekommt. Auch dabei werde ich mehrfach bewusstlos.

Dann schleppen sie mich raus, werfen mich auf den Rasen und treten auf mich ein. Mindestens einer von ihnen tut das mit der festen Absicht, mich zu töten. Sie brechen mir die Knochen, sie zertrümmern meine Gelenke, überall ist Blut.

 

Dann fehlen mir ein paar Minuten. Offenbar war ich so tief bewusstlos, dass ich da tatsächlich nichts abgespeichert habe.

Auf jeden Fall wache ich in den Armen eines anderen Mannes auf, der verzweifelt versucht, mich zu reanimieren. Keine Ahnung, wo der auf einmal herkommt. Diese Reanimation dauert so ihre Zeit. Es ist ein Tanz auf einem sehr dünnen Seil (Sprachbild). Mehrfach bin ich zu mehr als neun Zehnteln tot. Ich höre auf zu atmen, mein Herz schlägt nicht oder nur noch sehr unregelmäßig, und ich erlebe all die Dinge, die man erlebt, wenn man vom Leben in das Land des Todes tritt. Dann bin ich in einem Krankenhaus. Medizinisches Fachpersonal ist um mich herum. Ich werde sehr hektisch für eine Not-OP vorbereitet.

 

Und als ich vor einigen Wochen an dieser Stelle angekommen war (das war bis dahin wirklich schmerzvoll genug gewesen!), dachte ich, dass ich das Gröbste jetzt hinter mir hätte.

 

Weit gefehlt.

Sehr weit gefehlt.

 

Wie ich in den letzten Wochen erleben musste, hat man damals Kleinkinder operiert, ohne ihnen Schmerzmittel zu geben. (Wer das nicht glaubt, der kann das gerne recherchieren – bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts war das üblich). Sie haben mich also in diesem Krankenhaus betäubt, sie haben meine Willkürmotorik stillgelegt, und dann haben sie losgelegt. Diese Schmerzen bekommst du dann als Kind nicht bewusst mit, denn du bist ja bewusstlos. Aber sie sind in deinem Körper, diese Schmerzen. Und wenn du dann aufwachst auf der Intensivstation und dein Bewusstsein allmählich wiederkommt, dann sind sie alle da, diese Schmerzen. Sie kommen wie ein Tsunami.

 

Das ist also meine aktuelle Situation in meiner Psychotherapie:

Ich werde allmählich wach auf der Intensivstation, bin festgeschnallt (kann nur meinen Kopf und meine Hände ein wenig bewegen) und orientierungslos. Ich habe da diese Schläuche im Hals, die Schlucken, Sprechen, Husten und Atmen schier unmöglich machen … und dann rollen da diese Flutwellen von Schmerzen an. Und die Zeit steht (beinahe) still.

Zwei Sekunden dauern so lange wie eine Stunde.

Es gibt keinen Anfang und kein Ende und vor allem gibt es kein Entrinnen. Die Zeit steht still.

Willkommen in der Ewigkeit.

Die Ewigkeit besteht aus Schläuchen, Maschinen, Kanülen und Blut. Und sie besteht aus Schmerzen – vor allem das. Die Seele zerfällt, sie löst sich auf. Sie löst sich auf wie sich eine Rauchfahne über einem Schornstein im winterlichen Wind auflöst.

 

Jeder, der schon mal ohne Schmerzmittel operiert worden ist und danach auf der Intensivstation wach wurde, wird wissen, wovon ich hier schreibe.

Manchmal werde ich danach gefragt, was „Trauma“ ist. Ich sage dazu:

Trauma ist Vergangenheit, die nicht vergeht. Trauma ist Vergangenheit, die jederzeit gegenwärtig ist.

 

Ich schildere das hier deshalb in dieser drastischen Ausführlichkeit, um deutlich zu machen:

Wenn es um den Tod geht, dann kann ich mitreden.

Wenn es um Schmerzen geht, dann kann ich mitreden.

Wenn es um vernichtende Erlebnisse geht, die vernichtende Programme in unsere Seele stanzen, dann kann ich mitreden.

 

Was sowas mit der Psyche eines Kleinkindes anstellt, das kann man nicht mal näherungsweise beschreiben. Deshalb versuche ich es gar nicht erst.

Ich kann jedoch versichern, dass ich mir auf meinem Weg auch all die zerstörerischen Programme anschaue, die sie durch ihre Untaten in mich gestanzt, geschlagen, getreten und getrampelt haben.

 

Und ja – all die Vergewaltigungen nicht zu vergessen. Mit einer Vergewaltigung kann man einem Menschen auch was in die Seele stanzen. Ich habe mal gelesen, dass Vergewaltigung „Mord an der Seele“ ist. Ich habe letztens gelesen, dass eine vergewaltigte Frau ihrem Peiniger ins Gesicht sagte: „Du hast mein Leben zerstört.“

 

Dem stimme ich vorbehaltlos zu.

 

Wer sowas erlebt hat, der hat zerstörerische Programme in sich, die wirklich wuchtig sind. Wenn er sich nicht mit diesen Programmen beschäftigt, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass er seines Lebens nie mehr froh wird. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er elend dahinvegetiert – immer in einer Vergangenheit, die nicht vergeht - und weit vor seiner Zeit stirbt. Dann ist das Leben wirklich zerstört.

Aus meiner Erfahrung sage ich: Das kann heilen – man kann diese Programme anschauen und stilllegen. Die Erinnerungen bleiben. Aber die Wunden können heilen. Die zerstörerischen Programme können stillgelegt werden. Die Vergangenheit kann vergehen und Platz für die Gegenwart machen.

Und das ist mir bei dieser Sache besonders wichtig:

Es geht nicht darum, dass sich die lediglich die Symptome bessern, unter denen wir leiden. Es ist zwar sehr schön, wenn wir das erreichen können, aber das ist nur der halbe Weg. Es geht tatsächlich darum, dass die Seele heilt, dass wie wirklich heilt und nicht nur darum, dass sich irgendwas bessert. Und nochmal, weil das so wichtig ist:

 

 

Meine Erfahrung ist:

Nichts, was wir erlebt und überlebt haben, ist so schlimm, dass es nicht heilen könnte.

 

Alles kann heilen.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0