Letzte Woche traf ich auf einer Tagung einen Kollegen wieder, den ich schon mindestens ein halbes Jahr nicht mehr gesehen hatte. Sein Aussehen fiel mir auf, deshalb sprach ich ihn in der Mittagspause an:
„Wie geht es dir?“
Und er antwortete:
„Alles positiv.“
Dieser Kollege ist Anfang/Mitte dreißig, lebt in einer stabilen Beziehung mit seiner Freundin und hat keine Kinder. Vor drei Jahren erfuhr ich, dass er an Leukämie erkrankt war. Nachdem die Chemotherapie halbwegs durch war, rief ich ihn im Krankenhaus an. Ich weiß, dass NTs aus so einem Anruf Kraft schöpfen können.
Er schilderte mir, wie es ihm ging. (In einer Chemotherapie geht es dir immer schlecht). Er erzählte über 45 Minuten, und ich hörte ihm zu. Wenn ich etwas nicht verstand, stellte ich ihm Fragen.
Da wir ein recht offenes Verhältnis zueinander haben, schilderte er mir, wie um ihn herum die Leute starben. Viele Patienten, die schon etwas länger da gewesen waren, als er kam, hatten mittlerweile ihre letzte Reise angetreten. Der Tod ist auf der onkologischen Station Dauergast. Und auch mit Leukämie hat man nicht die besten Aussichten, noch lange zu leben. Ich fragte ihn, wie er mit seiner Todesangst umginge.
„Oooch“, sagte er, „ich denke positiv. Ich lasse das gar nicht an mich ran. Das zieht dich nur runter. Das kann ich jetzt grade überhaupt nicht brauchen.“
Ich war entsetzt, sagte aber nichts dazu. Das war sein Leben, das war sein Sterben, und meine Rolle war jetzt die des zugewandten und zuhörenden Kollegen.
Er erzählte weiter, wie er sein ganzes Leben mit Hilfe des Positiven Denkens gestaltete, wie ihn das schon über viele Krisen und Schwierigkeiten gerettet hatte …
Ich kannte das alles.
Jahrelang hatte es zu meinen beruflichen Aufgaben gehört, bei uns im Konzern die externen Trainer auszuwählen und einzusetzen. Und es war immer wieder vorgekommen, dass mir irgendwelche hochrangigen Manager ihren Lieblingstrainer, ihren Coach, ihren Guru vorstellten und unbedingt wollten, dass der bei uns Trainings machte. Und in weit über der Hälfte dieser Fälle ging es um eins: „Positives Denken“: Diese Manager schleppten mir Menschen an, die meine Kleinen „Helden des Positiven Denkens“ nennen.
Der Markt scheint voll mit Leuten zu sein, die die Illusion verbreiten, dass man ein schöneres und erfolgreicheres Leben führt, wenn man nur positiv denkt. Dass man damit jede Schwierigkeit meistern kann.
Ich sehe tiefer und ich sehe weiter als andere und sage:
Das ist mitnichten so.
Im Positiven Denken, das mir vorgestellt wurde, geht es darum, unangenehme Gefühle, negative Erwartungen, Befürchtung und Ängste durch bestimmte mentale Techniken ins Positive zu drehen. Es geht darum, es nicht zuzulassen, dass die negativen Gefühle sich in uns ausbreiten. Es geht darum, dass negative Gefühle und Gedanken uns nicht beherrschen können. Es geht darum, seine Gefühle und Gedanken zu steuern und sich innerlich positiv auszurichten.
Ich weiß nicht, ob Positives Denken noch etwas anderes ist.
Aber so wurde es mir vorgestellt.
Diese Vorstellung wurde dann auch immer angereichert mit ergreifenden Schilderungen, wie jemand durch Positives Denken den Krebs besiegt hat, schier ausweglose Situationen gemeistert hat … und so weiter. Lauter Heldengeschichten.
Alles Quatsch.
Ich habe keinen dieser Trainer an Bord gelassen.
Da, wo ich Verantwortung trage, wird mit Gefühlen und Gedanken verantwortungsbewusst umgegangen. Und ich weiß, dass sehr viele Menschen sehr anfällig für Illusionen sind, die darauf hinauslaufen, dass man ein leidfreies oder zumindest ein leidarmes Leben leben kann, wenn man es nur richtig anstellt.
Das ist mitnichten so.
Wir Menschen sind immer und jederzeit sehr schwache und sehr zerbrechliche Wesen.
Und Leid bestimmt einen großen Teil unseres Lebens.
Alles, was darauf hinausläuft, das zu leugnen, kann nur in die Irre führen.
Es ist für mich immer wieder verblüffend, festzustellen, was die Menschen, denen ich begegne, alles nicht über Gefühle wissen.
Deshalb will ich hier eine einfache Wahrheit nochmal sehr offen und deutlich ansprechen:
Gefühle, die dir unangenehm sind, die du mittels Positiver Denkerei wieder ins Dunkle verbannst, die fühlst du nicht mehr. Das ist richtig. Aber sie sind deshalb nicht weg. Gefühle verschwinden nicht einfach dadurch, dass du dich ablenkst oder sie nicht fühlst. Nicht gefühlte Gefühle lagern sich als Spannung in unserem Körper ab und treiben dort ihr krankmachendes Unwesen.
Nochmal, weil das so wichtig ist:
Gefühle, die du nicht fühlst, sind deshalb nicht weg. Du fühlst sie nicht mehr, das ist richtig. Aber du hast sie als Körperspannung in deinen Körper verdrängt und dort wuchern sie weiter. Sie werden sich irgendwann als Körperschmerzen oder Krankheit manifestieren. Und dann kannst du von Arzt zu Arzt laufen. Das wird dann auch nicht helfen.
Meinen Töchtern habe ich in diesem Zusammenhang manchmal gesagt:
„Die dunkle Seite des Mondes ist auch dann da, wenn du sie nicht siehst.“
Positives Denken, so wie es mir vorgestellt wurde, hat bestimmt auch seine guten Seiten. Aber es ist keinesfalls geeignet, Lebenskrisen zu meistern oder mit seinen Gefühlen gut umzugehen. Im Gegenteil:
Immer wieder habe ich es in meiner Arbeit mit Menschen zu tun, die meine Hilfe suchen, weil sie sich mit Hilfe des Positiven Denkens in die Depression oder in schwere körperliche Erkrankungen vorgearbeitet haben. Frei nach der Devise: Lebe heute, zahle später.
Manche Menschen wollen leben, ohne zu leiden. Das kann man so machen. Das hat aber zwei gravierende Nachteile:
a) Du lebst nicht wirklich. Du simulierst nur ein Leben.
b) Du stirbst deutlich vor deiner Zeit.
Zu a)
Ich erlebe es in meiner Arbeit immer wieder, dass ich Gespräche mit Menschen führe, die ein so positives Leben führen, dass sie von Erfolg zu Erfolg zu Erfolg zu Erfolg zu Erfolg eilen. Wo die sind, da ist oben. Ihnen gelingt beinahe alles. Sie machen Karriere, sie haben Geld wie Heu, sie haben Frau und Kinder,sie haben Haus und Garten und Swimming Pool und ein dickes Auto.Sie fahren jedes Jahr nach St. Moritz zum Skifahren, sie duzen sich mit dem Bundestagspräsidenten und der Erzbischof von Halberstadt ist ihr persönlicher Freund.
Aber sie haben kein Leben.
Die Welt scheint ihnen zu Füßen zu liegen. Ihr ganzes Umfeld beneidet sie, die Leute jubeln ihnen zu, sie stehen als Vorbild in der Zeitung, sie werden interviewt …
Alles Quatsch.
Wenn diese Menschen zu mir kommen, dann meistens deshalb, weil sie merken, dass ihr Leben die ganze Zeit mit Volldampf an ihnen vorbeirauscht. Sie leben nicht, sondern haben sich in Erfolgsmaschinen verwandelt. Sie rennen die ganze Zeit mit aller Kraft neben sich her. So kann man sich auch beschäftigen.
Aber leben geht anders.
Wenn wir dann ins Gespräch kommen, lautet eine meiner ersten Fragen häufig:
„Wenn man deinen Erfolg von dir abzieht – was bleibt dann von dir übrig?“
Wenn diese Frage nicht verstanden wird, frage ich oft:
„Hast du den Erfolg oder hat der Erfolg dich?“
Manche Menschen müssen erst fünfzig oder sechzig Jahre alt werden, um zu begreifen, dass man ein Loch in der Seele nicht mit Dollarscheinen stopfen kann. Manche begreifen erst sehr spät, dass es für ein erfolgreiches Leben völlig unerheblich ist, wer dich alles bewundert und wer dich alles darin bestärkt, dass du ein gutes Leben lebst. Es ist auch völlig egal, ob du um dein Leben beneidet wirst oder nicht.
Manche werden noch älter, bevor sie begreifen.
Und manche sterben dann halt, ohne gelebt zu haben.
Ich kann‘s nicht ändern.
Prediger oder Guru zu sein liegt mir überhaupt nicht.
Zu b)
Wenn du die Gefühle, die dir unangenehm sind, in deinen Körper verdrängst, dann führst du Krieg gegen dich selber. Die enorme Spannung, die sich dann in deinem Körper aufbaut, führt zu vorzeitigem Verschleiß und schwerer Erkrankung. Manche Menschen sagen mir, dass sie lieber intensiv und kurz leben, als … bla, bla, blubb. Alles Geschwätz.
Du lebst nicht intensiv, wenn du deine Gefühle ins Dunkle verdrängst. In dem Maße, wie du das tust, simulierst du ein Leben. Du kannst dann dein Leben so intensiv simulieren, wie du willst – es wird dir nichts nützen, es wird trotzdem kein Leben draus.
Leben geht anders.
Aber zurück zu meinem Kollegen, der an Leukämie erkrankt ist.
Er schilderte mir am Telefon, wie er seine Todesängste nicht zuließ, indem er positiv dachte. Von den Todesängsten wusste er nur zu berichten:
„Das zieht dich nur runter in so einer Situation. Das kann ich jetzt überhaupt nicht brauchen.“
Der Kollege fuhr dann fort, mir wortreich zu berichten, wie er mittels moderner Medizin und Positivem Denken den Krebs besiegen würde.
Ich sagte nichts dazu.
Das war vor drei Jahren.
Letzte Woche traf ich den Kollegen auf einer Tagung wieder. Der Tod war ihm ins Gesicht geschrieben. Er sah so schlecht aus, dass ich während der ganzen Tagung nicht einmal miterlebte, dass ihn irgendwer auf seinen Zustand ansprach.
Ich fragte ihn beim Mittagessen des ersten Tages dieser Tagung:
„Wie geht es dir?“
Und er antwortete:
„Alles positiv.“
Er schilderte mir, wie er mittels Positivem Denken und Meditation seinen Blutdruck senkte, wie er sich „positiv umprogrammiert“ hatte, so dass er nicht mehr solche Angst vor den Spritzen hatte. Und so weiter.
Ich hörte mir das an und fragte nach, wenn ich nicht verstand. Ich bat ihn, mir seine
Meditationstechnik zu schildern, ich befragte ihn nach seinem Blutdruck … und er erzähle. Er erzählte von den Büchern, die er zum Positiven Denken las, er berichtete von seinem Bruder, der Suizid begangen hatte, er skizzierte mir Pläne, wie er seine Lebenseinstellung nach seinem Sieg über den Krebs zu Erfolgsseminaren verdichten wollte:
„Denn dann habe ich ja viel mehr Glaubwürdigkeit, als wenn ich nur davon erzähle.“
Ich hatte allmählich den Eindruck, zu verstehen:
Dieser Mann klammerte sich an einen Rettungsring, um nicht unterzugehen.
Dieser Rettungsring war jedoch aus Blei.
Das wollte er nicht wahrhaben.
Er war gerade dabei, positiv zu sterben wie so viele andere vor ihm.
Nach einer Weile trennten sich unsere Wege. Ich ging nochmal ans Buffet, um mir was zu Essen zu holen, er ging woanders hin.
Heute früh fragten einige Kleine bei mir nach, ob es nicht unethisch sei, jemanden so bewusst und so sehend in den Tod gehen zu lassen. Ich konnte das nicht klar beantworten. Aber unter meinen Kollegen ist allgemein bekannt, wie ich arbeite und mit welchen Themen man zu mir kommen kann. Wenn dieser Mann keinen Gebrauch davon macht, dann ist das sein gutes Recht. Solange er keinen anderen schädigt, darf er leben und sterben wie er will. Da habe ich mich nicht einzumischen.
Aber ich beschloss, hier in diesem Blog mal zu skizzieren, wie ich die Dinge sehe.
Vielleicht ist das ja von Belang für irgendjemanden da draußen, der tatsächlich glaubt, sich mit Hilfe von Positivem Denken um sein Leben herummogeln zu können.
Nach meiner Erfahrung gilt:
1. Leben und Positives Denken sind Gegensätze. Das ist wie Öl und Wasser – wo das eine ist, kann das andere nicht sein.
2. Wer positiv denkt, der simuliert ein Leben in der Hoffnung, sich dauerhaft davor drücken zu können, sein Leben zu leben.
3. Ob du erfolgreich lebst ist vollkommen unabhängig davon, wie viele Menschen dein Leben liken. Es ist vollkommen belanglos,was andere Menschen über dich und dein Leben sagen und wie viele dich bewundern oder beneiden.
Leben geht anders.
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