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Der Wille zur Nacht

Verglichen mit anderen Menschen habe ich extrem lichtempfindliche Augen. Selbst in der Dämmerung oder bei leichtem Regen muss ich eine Sonnenbrille tragen, weil mir sonst die Augen weh tun. Diese Brille nehme ich mit, wohin immer ich auch gehe. – Eine Sonnenbrille der Kategorie 4: „Gletscherbrille“.

 

Solche Augen zu haben, bringt eine Menge Vorteile. Mir fällt immer wieder auf, wie andere Menschen geradezu blind durch die Nacht tapsen, während ich keinerlei Probleme habe, mich auch bei Dunkelheit zurechtzufinden. Es ist zum Beispiel sehr selten, dass ich in der Nacht im Wald meinen Schritt verlangsamen muss, weil ich den Weg nicht mehr klar sehen kann. Speziell, wenn ich den Kohlrausch-Knick hinter mir habe (so nennt man das, wenn das Auge in der Dunkelheit vom Zapfen-Sehen auf das Stäbchen-Sehen umstellt), kann’s losgehen. Dann habe ich manchmal den Eindruck, in der Nacht genauso gut sehen zu können wie bei Tageslicht.

 

Natürlich ist das eine Illusion. Der Leistungsfähigkeit meiner Augen in der Dunkelheit sind enge Grenzen gesetzt. Ich bin keine Eule und keine Katze. Wenn ich mich z.B. in Höhlen bewege oder in einer Neumondnacht in einem dichten Nadelwald unterwegs bin, dann brauche ich künstliches Licht, um meinen Weg zu finden, wie jeder andere Mensch auch.

 

Aber schon als Jugendlicher fiel mir auf, dass andere Menschen die Nacht und die Dunkelheit zu hassen schienen. Anders konnte ich es mir nicht erklären, dass sie die Dunkelheit vertrieben, wo immer sie konnten – auch wenn das gar nicht nötig war. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen.

 

Licht in der Nacht ist für mich häufig Lärm für die Augen. Es tut mir in den Augen oft weh, wenn es nachts hell ist. Aber so kenne ich die NTs: Wo sie sind, da bringen sie ihren Lärm mit. Ohne diesen Lärm können sie nicht leben.

Sie fürchten und hassen die Stille.

Und ähnlich fürchten sie die Dunkelheit.

 

Die Weihnachtszeit könnte eine sehr schöne Zeit sein. Ich liebe die dunkle Jahreszeit. Aber da, wo ich wohne wird überall Weihnachtsbeleuchtung in die Gärten und an die Hausfassaden gepflanzt. Es blinkt und glitzert beinahe überall. (Die NTs sagen mir manchmal auch, dass sie die dunkle Jahreszeit mögen. Aber das scheint gelogen zu sein. Ich habe den Eindruck, dass sie es lieben, die Dunkelheit mit Licht zu vertreiben und sich darauf freuen, das endlich mal so richtig exzessiv tun zu können).

 

Wenn ich in der Nacht spazieren gehe, muss ich meistens aufpassen, dass ich keinen NTs mit ihren Hunden begegne: Die Hunde tragen bunte Leuchten, die man auf viele Kilometer Entfernung sehen kann. Und die NTs selber leuchten ihren Weg mit modernen Taschenlampen beinahe taghell aus. Gute Taschenlampen scheinen sich nicht dadurch auszuzeichnen, dass sie respektvoll mit der Dunkelheit umgehen, sondern dadurch, dass sie vom Fernlicht eines Autos nicht mehr zu unterscheiden sind. Hunderte Meter können die Lichtkegel moderner Taschenlampen mittlerweile ausleuchten. Und da brauchen nur vier oder fünf Hundespaziergänger des Nachts im Wald zu sein, und der Wald liegt unter Flutlicht.

 

Nacht – das ist für mich Stille für die Augen.

Nacht – das scheint für die NTs ein willkommener Anlass zu sein, Lärm für die Augen zu produzieren.

Und dann ist die Nacht kaputt.

 

Was bleibt, ist irgendeine Zwischenexistenz – es ist nicht Tag aber es ist auch nicht Nacht.

 

 

 

Wenn ich in der Nacht tatsächlich zusätzliches Licht brauche und mit einer Stirnleuchte unterwegs bin, dann habe ich sie fast immer auf sanftes Rotlicht gestellt. Ich muss meinen Weg nicht taghell ausleuchten. Es reicht mir völlig aus, wenn ich sehen kann, wo ich hintrete.

 

Beinahe alle NTs, die ich kenne, scheinen keinerlei Respekt vor der Nacht zu haben. Nacht scheint für sie Lichtabwesenheit zu sein – äußerst lästig. Stille für die Augen scheinen sie nicht zu kennen.

Und wie die Städte der NTs in der Nacht aussehen, brauche ich vermutlich niemandem zu sagen. Wenn es da irgendwo dunkel ist, dann ist der Strom ausgefallen oder klimabewusste Leute sind aktiv geworden.

 

Einschub

Natürlich weiß ich, dass Städte des Nachts der Sicherheit wegen beleuchtet sein müssen. Dagegen ist aus meiner Sicht auch nichts zu sagen. Ich meine hier nur das völlig überflüssige Lichtergefunkel beleuchteter Fassaden, flackernde Leuchtreklame, Flak-Scheinwerfer vor irgendwelchen Eventtempeln und alles, was zu den Lichtdomen beiträgt, die sich kilometerhoch über nächtlichen Städten wölben.

Einschub Ende

 

Ich bin ein kauziger Exzentriker. Ich bin ein Autist, einer, der in Ruhe gelassen werden will. Ich weiß das. Mein Wort zählt nicht. Das weiß ich auch. Wenn hundert Menschen zusammenkommen, die die Stille lieben, dann reicht ein einziger, der nicht von seinem Handy lassen kann und die Stille ist kaputt. Wenn hundert Menschen zusammenkommen, die die Dunkelheit lieben, dann reicht einer, der mit der LED-Taschenlampe rumstrahlenmuss wie der Landescheinwerfer eines Airbus,und die Dunkelheit ist kaputt.

Und wenn ein einziger Mensch mit einer Taschenlampe reicht, um die Dunkelheit zu zerstören – wie ist das erst, wenn hundert Menschen zusammenkommen und nur fünf von ihnen die Dunkelheit zu schätzen wissen?

 

Ich habe mit den Jahren gelernt, in der Nacht den anderen Menschen aus dem Weg zu gehen. Sie gehen meistens zur selben Zeit auf den immer selben Routen durch Wald und Feld und feiern dort ihre Orgien des Lichts. Dann gehe ich halt woanders lang. Völlig ok. Ich lebe am äußersten Rand einer kleinen Stadt, da findet sich was.

 

Aber immer wieder habe ich den Eindruck, dass ich niemandem vermitteln kann, wie schön es ist, wenn es auch mal für die Augen still ist. Nacht ist keine Tageszeit und auch nicht die Abwesenheit von Licht, sondern eine Art zu sein.

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Kommentare: 2
  • #1

    Neo-Silver (Donnerstag, 24 Oktober 2019 14:54)

    Hallo Stiller,

    ich bin auch lichtempfindlich und habe ebenso eine Brille mit der Tönungskategorie 4, wie du.

    Es kommt bei mir sehr stark auf meine Tagesverfassung an, wie gut ich Licht ertragen kann.
    An einigen Tagen benötige ich selbst bei bewölktem Himmel meine Brille und an anderen Tagen geht es dann auch wieder einmal ohne.

    Ich habe dabei vermutlich keine so intensiven Schmerzen wie du sie suggerierst, empfinde es aber als äußerst unangenehm.
    Leider muss ich aus gesundheitlichen Gründen mehrmals im Jahr eine Funduskopie / Hintergrundspiegelung der Augen machen lassen.
    Das ist eine Tortur und dauert dadurch, dass ich dabei verkrampfe und meine Augen schließen muss, immer deutlich länger als es mir lieb ist.

    Aber eigentlich schreibe ich hier, weil ich dich etwas fragen möchte.

    Wie handhabst du Autofahrten in der Dunkelheit.
    Der hohe Kontrast durch die Dunkelheit und das grelle, helle Licht der anderen Autos und Lampen ist eine Qual für mich.

    Als Beifahrer schließe ich einfach meine Augen und setze meine Brille auf.
    Als Fahrer muss ich es ertragen.

    Bezüglich der Kritik an Licht in der Stadt, möchte ich noch einen Punkt hinzufügen.
    Mich persönlich stört es sehr, dass die Städte und Umgebungen so stark beleuchtet sind, da es dadurch fast unmöglich ist einen Sternenhimmel zu erblicken.
    Selbst Kilometer von Städten entfernt ist dies schwierig.

    Da ist sehr schade. Und bis auf die Beleuchtung zur Sicherheit ist der Rest einfach nur "Lichtverschmutzun".

  • #2

    Stiller (Freitag, 25 Oktober 2019 10:18)

    Hallo Neo-Silver
    Du fragst:
    "Wie handhabst du Autofahrten in der Dunkelheit."

    Das bereitet mir keine Mühe. Ich lege ungefähr 50.000 km im Jahr im Auto zurück. Davon ca. ein Fünftel nachts. Da ich fast immer auf Autobahnen unterwegs bin, werde ich nicht von irgendwelchen etgegenkommenden Lichtern geblendet.

    Und für die kurzen Strecken, die ich nachts in Städten oder auf Landstraßen zurücklege:
    Bislang habe ich mit der Hell-Dunkel-Adaptation keine Mühe.