· 

Gefühle und Kunstgefühle

Ich bin staatlich anerkannter Autist. Große Teile der öffentlichen Meinung sprechen Autisten die Fähigkeit ab, überhaupt irgendwas fühlen zu können oder ein differenziertes Gefühlsleben zu haben. Wenn ich lese, was NTs über uns schreiben, entsteht bei mir meistens das Bild von maschinenhaften Wesen, in deren Leben Gefühle nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen und die Gefühle lieber vermeiden. Alles Quatsch. Vielleicht drücken wir unsere Gefühle anders aus als neurotypische Menschen. Aber ich bin noch nie einem Autisten begegnet, bei dem ich den Eindruck hatte, dass er ein anderes Gefühlsleben hatte als NTs. Oder anders ausgedrückt: Wenn NTs und AS sich unterscheiden, dann nicht bei dem, was sie fühlen, sondern bei dem, was davon auf welche Weise nach außen dringt. Es gibt NTs, die fühlen viel, es gibt NTs, die fühlen eher wenig, es gibt NTs, die verlassen sich lieber auf ihren Verstand, es gibt NTs, die verlassen sich lieber auf ihr Herz. Das scheint bei den AS nicht anders zu sein. Mit anderen Worten: Um ein emotionaler Analphabet zu sein, muss man kein Autist sein. Das kriegen NTs genauso hin.

 

Ich bin nicht nur staatlich anerkannter Autist, ich bin auchstaatlich anerkannter Diplom-Psychologe. Als solcher habe ich meine Neigung, mich ständig mit Gefühlen zu beschäftigen, zu meinem Beruf gemacht. Ich gelte in meinem Beruf als ausgesprochen erfolgreich. NTs kommen in den buchstäblichen hellen Scharen zu mir, um mit mir über ihre Gefühle sprechen und sie sich von mir ordnen zu lassen.

 

Was sie beinahe nie wissen und oft nicht glauben können:

 

Gefühle sind absolut logisch. Es gibt keine unlogischen Gefühle. Es gibt keinen Widerspruch zwischen Kopf und Herz, zwischen Verstand und Gefühl, zwischen Logik und Gefühl. Wichtig ist nur, beides nicht durcheinanderzuwerfen: Gefühle werden gefühlt und Gedanken werden gedacht. Wer versucht, seine Gefühle zu denken („Wie fühlst du dich jetzt auf einer Skala von 1 bis 10“), führt sich selbst in die Irre. Wer das nicht glaubt, möge sich diesen Satz mal zu Gemüte führen:

„Schatz, ich liebe dich bereits seit 6 Wochen um 58% mehr als im Durchschnitt der letzten drei Jahre – lass uns heiraten.“

 

Bei der Beschäftigung mit Gefühlen ist für mich am wichtigsten, Gefühle und Kunstgefühle sicher zu unterscheiden. Wer Kunstgefühle produziert verlässt die Realität und inszeniert wie in einem Theaterdrama eine Wirklichkeit aus seiner Kindheit. Das macht jeder Mensch so. Der eine öfter, der andere seltener. Dass wir alle das tun, macht das ganze aber nicht realer.

Also nochmal: Wenn ich Kunstgefühle produzieren, reagiere ich nicht auf die Realität, so wie sie jetzt tatsächlich da ist, sondern ich inszeniere eine unerlöste Situation, die ich aus meiner Kinderzeit kenne. Bestimmte Aspekte der aktuellen Situation haben mich an diese alte, unerlöste Kindersituation erinnert, und ich habe unbewusst angefangen, mich so zu fühlen, wie ich mich damals fühlte. (Und so gleite ich allmählich in diese alte Situation hinein).

 

Gefühle und Kunstgefühle fühlen sich gleich echt an. Wenn wir in einem Kunstgefühl sind, würden wir tausend Eide schwören, dass das ein echtes Gefühl ist. Woran erkennt man ein Kunstgefühl?

Ein Kunstgefühl zeichnet sich aus durch diese Eigenschaften

 

1.    Es ist ein Gefühl, das uns sehr vertraut ist.

2.    Es ist ein in der Kindheit erlerntes Gefühl.

3.    Es wurde von den Eltern und dem anderen sozialen Umfeld in unserer Kindheit bekräftigt und gefördert

4.    Es wird von uns heute in verschiedenen unangenehmen Situationen in immer derselben Weise erlebt.

5.    Es trägt heute nicht dazu bei, dass die unangenehme Situation in der wir gerade sind, bewältigt wird.

 

Warum produzieren wir Kunstgefühle? Warum verlassen wir so häufig auf diese Weise die Realität?

Das machen wir hauptsächlich aus diesen Gründen (die uns in diesem Moment alle nicht bewusst sind):

1.    Anderen mitteilen, was wir früher erlebt haben.

2.    Situationen, die wir als Kind als sehr belastend erlebt haben, nachspielen, in der Hoffnung, dass sie diesmal ein gutes Ende finden und wir erlöst werden.

3.    Alte Grundüberzeugungen aus unserer Kindheit nochmal bekräftigen und festigen.

(Diese Grundüberzeugungen können so aussehen: „Mir kann keiner helfen.“ „Männer sind alle Trottel.“ „Frauen ist nicht zu trauen.“ „Es ist alles vergebens.“ „Nur, wenn ich traurig bin, nimmt mich überhaupt jemand wahr.“ „Das Leben ist schwer.“ „Das glückliche Leben leben nur die anderen, nicht ich.“ Und so weiter).

 

Wie sieht das in meiner beruflichen Praxis aus?

Ich will ein Beispiel geben.

  

Zu meinen beruflichen Aufgaben gehört auch das Coaching von Führungskräften.

Immer wieder erlebe ich es in Coaching-Gesprächen, dass mir jemand schildert, dass er in der Beziehung, in der er lebt, leidet. Dabei geht es meistens um diese Dynamik.

a)    Ich lebe seit vielen Jahren in einer festen Beziehung

b)    Seit vielen Jahren erlebe ich in dieser Beziehung wieder und immer wieder dieselben unangenehme Situationen mit dem anderen.

c)    Und darunter leide ich – seit Jahren auf die immer selbe Weise.

d)    Ich kann nichts machen. Ich hab‘ schon alles versucht.

 

Hier ist ganz klar zu sehen, dass Kunstgefühle produziert werden („Ich fühle seit Jahren immer dasselbe und nichts wird besser“). Jemand nutzt die Beziehung zu seinem Partner regelmäßig dazu, um unglückliche Szenen seiner Kindheit nachzuspielen, ohne dass das einem der Beteiligten bewusst wird. Hier wird sinnlos gelitten. Kunstgefühle kann man nur auflösen, indem man in diese Kindheitssituation zurückgeht, nicht indem man sie auf die Bühne bringt.

Meine spontane Reaktion, wenn mir jemand schildert, wie er in seiner Beziehung auf die immer selbe Weise leidet, ist deshalb seit vielen Jahren immer dieselbe:

 

„Das ist dein gutes Recht.“

 

Das wirkt auf die, die das Gespräch mit mir suchen, häufig verstörend. Sie sind gekommen, um sich bei mir über ihren Partner (alternativ: ihre Kinder, Schwiegereltern, Verwandten etc.) zu beklagen und mir zu schildern, wie sehr sie darunter leiden. Sie sind gekommen, um von mir zu hören, dass ihr Leid real ist … und alles, was sie zunächst zu hören bekommen, ist:

 

„Das ist dein gutes Recht.“ 

 

Was meine ich damit?

 

Zwei Dinge

 

1

Jeder hat das Recht, sein Leben so zu gestalten, dass er unglücklich ist. Die meisten erwachsenen Menschen, die unglücklich sind, sind das nicht, weil ihr Leben so schwer ist. Sie sind deshalb unglücklich, weil sie Kunstgefühle produzieren und die Realität verlassen. Sie spielen laufend unglückliche Situationen aus ihrer Kindheit nach (ohne dass ihnen das bewusst ist). Das kann man so tun. Wenn andere dabei nicht geschädigt werden, dann ist das das gute Recht eines jeden.

Aber es nicht real. Und ich werde nicht so tun, als ob es real wäre. Damit wäre niemandem gedient.

 

Die meisten, die zu mir kommen, thematisieren mir gegenüber, dass ihr Partner so ist, wie er eben ist: Seit Jahren ist er so, und es wird und wird nicht anders. Und sie schildern mir wortreich, wie sehr sie darunter leiden.

 

Aha.

 

Die Frage, die ich dann immer stelle ist:

„Und was hast du davon?“

 

Wenn ein erwachsener Mensch jahrelang in einer Beziehung lebt, in der er sich daran stört, dass der andere so ist, wie er eben ist, dann wird dieser Mensch einen Nutzen davon haben, sonst täte er es nicht.

Was ist also der Nutzen und wie lässt er sich auf anderen Wegen konstruktiver und leidfreier erreichen?

Das ist eine wesentlich konstruktivere Fragestellung als die, was man tun kann, damit der andere sich ändert.

 

Die meisten Menschen, die das Gespräch mit mir suchen, um über ihre Beziehung zu sprechen, sind zutiefst davon überzeugt, unglücklich zu sein, weil der andere so ist, wie er eben ist. Sie wollen und können nicht sehen, dass sie unglücklich sind, weil sie alte Situationen aus ihrer Kindheit nachspielen. Sie drehen sich mit ihren Kunstgefühlen leidend im Kreis, ohne das zu merken. Da Kunstgefühle aus der Vergangenheit stammen, können sie nur aufgelöst sind, wenn man bereit ist, sich seiner Vergangenheit zu stellen.

 

 

Wer der Illusion folgt, dass er nur dann glücklich sein kann, wenn der andere sich ändert, der kann das gerne tun.

Aber das ist eine Illusion und nicht real.

Also werde ich ihn nicht dabei unterstützen.

 

Offenbar gibt es da draußen Millionen Menschen, die der Illusion folgen, dass sie nur den richtigen Partner finden müssen, um glücklich zu sein.

Sie könnten kaum falscher liegen.

Aber es ist ihr gutes Recht.

Jeder darf Illusionen nachlaufen.

 

 

 

2

Schlechte Gefühle gibt es nicht. Es gibt nur Gefühle.

Gefühle können angenehm sein, und sie können unangenehm sein. Wenn Gefühle echt sind (und keine Kunstgefühle sind), dann haben sie ihre lebenswichtige Funktion. Dann würden wir ohne sie innerlich verarmen oder sogar sterben. Das gilt ganz besonders für die Gefühle, die wir als unangenehm erleben.

 

Wenn also ein Mensch versucht, ab jetzt nur noch angenehme Gefühle zu erleben, dann ist das so, als sollte ab jetzt die ganze Zeit die Sonne scheinen. Regen, Nebel, bedeckter Himmel – alles verboten.

Vermutlich ist jedem klar, was aus einer Landschaft wird, in der nur noch die Sonne scheint – eine Wüste wird daraus. Eine trostlose, lebensfeindliche Einöde, gegen die sogar die Sahara ein Garten Eden ist.

 

Genauso verödet ein Leben, in dem es uns nur noch gut gehen soll. Für mich ist es immer wieder erstaunlich, wie häufig Menschen sich dieser grundlegenden Tatsache nicht bewusst sind. Die Ratgeberbücher, die davon handeln, wie du es schaffst, dass es dir nur noch gut geht, oder wie du bestimmte Gefühle in deinem Leben einfach abschaffst, die gehen in die tausende. Alles Quatsch. Alles Anleitung zur Selbstverwüstung.

 

Zum Leben gehören alle Gefühle unbedingt dazu (wenn es keine Kunstgefühle sind) - sowohl die Gefühle, die wir als angenehm erleben als auch die, die wir als unangenehm erleben. Schlechte Gefühle kann es also nicht geben. Wer es ablehnt, es sich richtig (und lange) schlecht gehen zu lassen, der lehnt es ab, ein Leben in der Fülle zu leben. Der macht aus seinem Leben eine Wüste. Dieser Zusammenhang ist genauso einfach wie logisch.

 

Die meisten erwachsenen Menschen, die ich kenne, die unglücklich sind, leiden an ihren Kunstgefühlen. Die leiden umsonst. Die drehen sich im Kreis. Aber wenn deine Gefühle echt sind und es dir richtig, richtig schlecht geht – was besseres kann dir kaum passieren. Dein Leben wird aufblühen.

 

Wenn mir also jemand sagt, dass er unter Gefühlen leidet, ist meine erste Reaktion meistens:

„Das ist dein gutes Recht.“

 

Jeder hat das Recht, an seinen Kunstgefühlen zu leiden und sich dabei ewig im Kreis zu drehen.

Aber genauso hat jeder hat das Recht, ein lebendiges Leben in der Fülle zu leben. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0