Ich habe den Eindruck, dass das auch sowas Autistisches ist:
Ich entscheide sehr schnell und sehr sicher – und wenn es nötig ist, entscheide ich mit einer kristallinen Härte, die andere erschauern und erschrecken lässt. Dazu habe ich schon oft Rückmeldung bekommen: „Herr Stiller, Sie sind manchmal so hart. – Da erschrecke ich fast vor Ihnen.“ Ich habe kaum Furcht vor wirklich schwerwiegenden und unangenehmen Entscheidungen. Und in aller Regel fälle ich sie sehr, sehr schnell. In meinem Beruf ist es unerlässlich, dass ich das kann.
Und wenn ich entschieden habe, dann habe ich entschieden. Entscheidungen von mir sind unumstößlich und von ewiger Dauer, es sei denn
a) Ich bekomme relevante Informationen, die ich so vorher noch nicht hatte.
b) Die Rahmenbedingungen unter denen ich entschieden habe, verändern sich entscheidend.
Zu a)
Ich bekomme relevante Informationen, die ich vorher nicht hatte
Beinahe alle meine Entscheidungen treffe ich(eher) rational: Ich sichte die Datenlage, höre mir alle Argumente an, prüfe meine Optionen und führe auf dieser Basis eine Entscheidung herbei.
Stelle ich nach einer Entscheidung fest, dass mir wichtige Informationen fehlten, dann überdenke ich meine Entscheidung.
Was viele NTs an meiner Art zu entscheiden stört, ist aber dieses:
Sie fühlen sich nicht wohl mit meiner Entscheidung, und obwohl sie mir das sagen, ändere ich meine Entscheidung nicht.
Es stört sie also, dass es mich nicht stört, dass sie sich mit meiner Entscheidung nicht wohl fühlen. Darüber hinaus stört es sie, dass sie mich nicht damit unter Druck setzen können, dass sie mich nicht mögen, falls ich bei meiner Entscheidung bleibe.
„Ja“, sage ich ihnen dann. „Ich kann gut verstehen, dass dir meine Entscheidung nicht gefällt. Das würde mir umgekehrt vermutlich genauso gehen. Dennoch bleibe ich bei meiner Entscheidung. Wenn du willst, kann ich dir das begründen.“
Beinahe immer verzichten sie auf die Begründung. Sie wollen nicht argumentieren, sie wollen Recht haben (oder die Wirklichkeit verlassen, was meistens auf’s selbe hinausläuft). Sie wissen, dass ich nach eingehender Prüfung das Argument gewählt habe, das ich für das beste hielt (egal ob es von mir kam oder von jemand anderem). Sie wissen selber, dass sie keine besseren Argumente haben.
(Das ist auch etwas, was viele NTs an mir stört: Dass ich keinen Wert darauf lege, Recht zu haben. Wenn es ihnen wichtig ist, Recht zu haben: Bitte sehr. Von mir aus. Mich interessiert nur, welches Argument das bessere ist. Aber ob ich Recht habe oder nicht? – Wen interessiert das? Ich kommuniziere in Diskussionen nicht, um Recht zu haben, sondern um das beste Argument zu finden und ihm zum Durchbruch zu verhelfen. Und wenn ich entscheide, dann entscheide ich nicht, um Recht zu haben. Ich entscheide, um dem besten Argument zu folgen).
Manchmal, wenn die NTs mir zu sehr rumnerven, frage ich sie auch:
„Wie würdest du denn an meiner Stelle entscheiden?“
Aber auch hier habe ich es noch nie erlebt, dass sich irgendwas tragfähiges entwickelte. (Wir haben ja bereits alle verfügbaren Argumente geprüft). Meistens bleibt es bei:
„Ja, das weiß ich auch nicht. Aber so hätte ich jedenfalls nicht entschieden.“
Ja, sie wissen auch nicht. Und damit ist das Gespräch für mich meistens beendet. Sie haben keine Argumente. Sie wollen in einer schöneren Welt leben als ich sie ihnen bieten kann. Ihr Problem, nicht meines.
Bei Kindern ist das anders. Da Kinder im Zentrum meines Lebens stehen, achte ich immer sehr darauf, mit meinen Entscheidungen kein Kind zu schädigen und keine Kindergefühle zu verletzen. Kind geht vor. Manchmal lässt sich aber nicht vermeiden, dass ein Kind unter einer Entscheidung von mir leidet. Das tut mir dann immer schrecklich leid. Ich stecke dann sehr viel Zeit und Energie in die Schadensbegrenzung.
Also gilt:
Wenn ich mir treu bleiben will, muss ich zu meinen Entscheidungen stehen und sie durchziehen, unabhängig davon, ob ich dann von anderen gemocht werde oder nicht.
Zu meinen Entscheidungen zu stehen, um mir treu zu bleiben, fällt mir nicht schwer.
Zu b)
Die Rahmenbedingungen ändern sich.
Wenn ich entscheide, will ich mit dieser Entscheidung ein bestimmtes Ziel erreichen oder ihm zumindest näher kommen. Die meisten meiner Ziele sind jedoch nicht statisch. Da Leben Veränderung bedeutet, kommt es oft vor, dass ich meine Entscheidungen immer wieder nachjustieren muss, um das ursprüngliche Ziel erreichen zu können.
Manchmal höre ich mir deshalb unreflektierte Sprüche von Menschen an, die viel von ihrem Selbstwertgefühl bzw. ihrer moralischen Überlegenheit daraus ziehen, dass sie eine Entscheidung nie umstoßen.
„Wer A sagt muss auch B sagen“ höre ich mir von ihnen an.
„Du bist inkonsequent.“
„Man muss doch zu dem stehen, was man mal entschieden hat.“
„Aber gestern hast du doch noch gesagt …“
Meistens sage ich nichts dazu. Ich drehe mich (zumindest innerlich) um und gehe weg. Jemandem, der bereits alles weiß, kann ich nichts erklären. Es zu versuchen wäre Zeit- und Energieverschwendung.
Manchmal sage ich:
„Niemand kann mich daran hindern, klüger zu werden.“
Manchmal sage ich:
„Du erinnerst mich an einen Menschen, der eine lange Reise im Zug macht. An seinem Fenster ziehen Wiesen vorbei, und auf den Wiesen stehen Kühe. Dann steht er auf und geht auf’s Klo und kommt wieder. Und dann beschwert er sich, dass da keine Kühe mehr vor seinem Fenster stehen.“
Also gilt:
Wenn ich mir treu bleiben will, dann muss ich mich verändern. Dann muss ich auch entscheiden, Entscheidungen wieder umzustoßen und durch andere Entscheidungen zu ersetzen.
Meine Entscheidungen umzustoßen, um mir treu zu bleiben, fällt mir nicht schwer.
Das kann auf andere widersprüchlich oder inkonsequent wirken.
Das ist mir herzlich egal.
Es nicht wichtig, ob andere mich mögen oder nicht oder was sie von mir halten.
Es ist wichtig, ob ich mir treu bleibe oder nicht.
Das ist entscheidend.
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