Als Kind und Jugendlicher habe ich gerne Fußball gespielt. Aber das tat ich auf meine Weise: Ich schoss einen Ball gegen eine Mauer oder gegen einen Gitterzaun. Ab der siebten Klasse war ich bekannt dafür: Ich war der Junge, der spätestens um 07:00 auf dem Sportplatz neben der Schule stand und den Ball gegen den Zaun schoss. Das machte einen ziemlichen Lärm, und ich hörte durchaus, wie sich die Bediensteten der Schule sich über mich unterhielten, wenn sie am Sportplatz vorbeikamen. Aber das war mir egal: Ich wollte Fußball spielen. Und das hieß für mich: Den Ball aus einiger Entfernung mit Wucht gegen den Zaun schießen, dem abprallenden Ball hinterherlaufen, ihn unter Kontrolle bringen und erneut gegen den Zaun schießen – stundenlang, ohne jede Pause.
Ich war nicht unbedingt das, was man ein Bewegungstalent nennt. Und besonders sportlich war ich auch nie. Aber ich war schon immer zäh und ausdauernd. Und mit den Jahren merkte ich, dass der Ball immer öfter dahin flog, wo ich ihn hinhaben wollte. Das machte großen Spaß, und ich begann immer öfter auf die leeren Tore zu schießen, die da auf dem Platz rumstanden. Und allmählich lernte ich auch, wie man den Ball treten musste, dass er über den ganzen Platz flog. Ich war bei beinahe jedem Wetter da draußen – ob es regnete oder schneite, war mir meistens egal – solange ich gegen diesen Ball treten konnte. Wenn die Sonne noch nicht aufgegangen war, spielte ich eben im spärlichen Licht der Straßenlaternen. Und wenn der Wind so stark war, dass er den Ball davontrug, schoss ich eben aus kürzerer Distanz und härter gegen den Zaun.
Mit den Jahren wurde ich besser.
„Da ist er ja wieder“, hörte ich Erwachsene sagen, die am Sportplatz vorbei zur Schule gingen.
„Ja, der hat wohl kein Zuhause.“
Nein, in der Tat, ein Zuhause im eigentlichen Sinn hatte ich nicht. Aber ich hatte diesen Ball und den leeren Sportplatz. Mehr brauchte ich nicht.
Und ich schoss den Ball gegen den Zaun, dass es nur so schepperte.
Und dann waren da noch die anderen.
Der Sportplatz gehörte zu einer Anlage von insgesamt drei Sportplätzen. Die Schule war eine gigantische gesichtslose Lernfabrik, ein Albtraum aus Beton mit tausenden von Schülern. Bei solchen Massen brauchte man schon ein wenig Raum für Leibesübungen. Und dass ich immer in aller Frühe gegen den Ball trat, hing auch ganz stark damit zusammen, dass ich dann völlig alleine war. Denn sobald es auf acht Uhr zuging, kamen die anderen. Die anderen Kinder und Jugendlichen. Sie waren viele. Sie waren auch fußballbegeistert. Beinahe alle waren mit dem Ball besser als ich. Aber was am schlimmsten war – für sie war Fußballspielen etwas ganz anderes als für mich. Für sie war das was Soziales, eine Möglichkeit, mit anderen im Kontakt zu sein.
Es waren immer dieselben Jugendlichen, die als erste kamen. Manche von ihnen hatten selber einen Ball dabei, manche nicht. Und bald hatte es sich so eingespielt, dass wir uns dann Bälle quer über den Platz zuspielten. Das gefiel mir. Dann hatte ich zwar keinen Zaun mehr, sondern ein bewegliches Ziel, aber der Ball kam wie von selbst zurück. Dann kamen noch mehr Jugendliche und der Platz füllte sich. Und unweigerlich kam es – jedes Mal kam es: Irgendwer sagte dann diesen schrecklichen Satz:
„Wollen wir ein Spiel machen?“
Dann wurden Mannschaften gebildet und es wurde gegeneinander gespielt.
Dabei wollte ich doch bloß gegen den Ball treten.
Aber die anderen waren sich alle völlig einig:
Fußballspielen war, wenn zwei Mannschaften gegeneinander antraten.
Das war derart selbstverständlich für sie, dass es niemals thematisiert wurde.
Sie waren nicht gekommen, um gegen den Ball zu treten, sondern um im sozialen Austausch zu sein.
Die anderen waren viele und ich war nur einer, deshalb fügte ich mich. Ich konnte dem Spiel Mannschaft gegen Mannschaft kaum was abgewinnen, außer ich durfte Eckstöße oder Freistöße ausführen. Da durfte ich dann wieder in aller Ruhe gegen den Ball treten. Da ich Asthmatiker war, landete ich früher oder später sowieso im Tor und konnte dann in aller Ruhe meine Abstöße ausführen. Das war für mich ein akzeptabler Kompromiss.
Aber ich habe es als Kind und Jugendlicher nie auch nur im Ansatz begriffen:
Was war für die anderen so toll, Mannschaften zu bilden und gegeneinander zu spielen? Alleine gegen den Ball zu treten war doch viel schöner! Warum konnte nicht einfach jeder für sich auf diesem großen Platz sein und gegen den Ball treten?!
Und im Grunde meines Herzens verstehe ich es heute noch nicht. Gegen einen Ball zu treten und nach und nach immer besser zu werden, ist für mich deutlich erfüllender als gegen irgendwen zu spielen.
Heute ist der einzige Leistungssport, den ich betreibe, Schach.
Ich bin nicht besonders begabt, das gebe ich gerne zu. Und besonders gut bin ich auch nicht. Aber ich mache das gerne – Figuren über’s Brett schieben und dabei immer besser werden. Ich brauche dafür keinen Gegner. Ich brauche dafür meine Schachprogramme auf dem Handy. Und ich brauche in Ruhe gelassen werden.
Eine Zeitlang habe ich im Internet Partien gegen andere gespielt. Aber das habe ich dann recht schnell wieder sein gelassen. Seit Jahren habe ich nicht mehr gegen einen Menschen gespielt. Ich habe meine Trainingsprogramme und das eine Programm, gegen das ich immer spiele, und das reicht mir fast immer völlig aus.
Ich nehme an, dass das was Autistisches ist: Ich habe kein Interesse daran, mich mit anderen zu messen. Siegen bedeutet mir beinahe nie was. Wenn ich gegen einen anderen gewinne, mache ich ihn dadurch zum Verlierer – was sollte daran reizvoll sein? Und das kameradschaftliche Zusammensein, das es auch beim Schach gibt, interessiert mich nicht die Bohne.Von sozialem Austausch habe ich nichts. Gar nichts.
Ich will in dem, was ich tue, besser werden. Das ist etwas, was mich erfüllt, das ist etwas, wofür ich mich begeistern kann.
Manchmal spreche ich mit anderen Schachspielern und die wollen dann wissen, wie gut ich bin. (Das kann man beim Schach messen). Ich weiß es nicht. Manchmal versuchen Sie mich zu provozieren:
„Ich wette, ich bin besser als du.“
Dann zucke ich mit den Achseln und sage:
„Ja, gut möglich.“
Das ist mir alles reichlich egal.
Aber wer mich von irgendwo vertreiben will, der braucht nur mit diesem einen Satz zu kommen:
„Wollen wir ein Spiel machen?“
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Neo-Silver (Montag, 30 September 2019 10:21)
Hallo Stiller,
ebenso wie du spiele ich sehr gern allein und schieße einfach auf ein Ziel.
Noch Heute gehe ich auf den Fußballplatz und schieße auf ein leeres Tor oder versuche gewagt den Ball in einen Basketballkorb zu schießen.
Auch eine Wasserflasche nehme ich mit, welche mir als entferntes Ziel dienen kann.
Du schreibst:
"Wenn ich gegen einen anderen gewinne, mache ich ihn dadurch zum Verlierer – was sollte daran reizvoll sein?"
Auch wenn das rein faktisch stimmt, ist dies doch sehr von der subjektiven Empfindung abhängig.
Dein Satz suggeriert mir, dass du Wettbewerbe nicht leiden kannst, weil für dich der gesellschaftlich oder soziale Status des Verlierers und Gewinners ein Problem ist.
Das ist dann aber eher dein Problem, als dass es ein Problem von Wettbewerben ist und dies solltest du dann auch nicht darauf projezieren.
Wenn der Fokus der Parteien auf Vierlierer und Gewinner liegt und dies das einzige Ziel des Wettbewerbes ist, kann ich dir zustimmen.
Aber im Endeffekt ist dies stark von der individuellen Bewertung und Wertigkeit, welche man dem zuteilt, abhängig.
Natürlich ist dies meist eine Idealvorstellung und gerade in unserer Gesellschaft geht es um Besser und Schlechter, um Gewinner und Verlierer und um das allgemeine Profilieren.
Das hatte für mich nie eine Bedeutung in Wettbewerben.
Wettbewerbe sind eine gute Plattform um seine Fähigkeiten auf eine andere Weise zu verbessern.
Stiller (Freitag, 04 Oktober 2019 20:29)
Hallo Neo-Silver,
vielen Dank für deine Anregungen.
Wettbwerbe im Sport sind fast immer sogenannte Nullsummenspiele: Der Gewinn des einen entspricht dem Verlust des anderen. Dass zwei Gegner gemeinsam gewinnen oder gemeinsam besser werden ist im allgemeinen nicht vorgesehen. Das entspricht nach allem, was ich sehen kann, der allgemeinen Wahrnehmung von Wettkämpfen.
Da gibt es auch nicht allzuviel zu projizieren. Ich arbeite schon seit geraumer Zeit an einem Blogtext, in dem ich die weit verbreitete Kämpferei und Siegerei in den Fokus nehmen will:
Gipfel werden "bezwungen" oder "erstürmt", Krankheiten werden "besiegt", der Natur werden ihre Geheimnisse "entrissen", "Ernteschlachten" werden "geschlagen", Positionen werden "erobert" und "behauptet" ... und so weiter.
Im Schach neige ich dazu, denen, die mich besiegen, zu ihren hervorragenden Zügen zu gratulieren.
Daraus, dass ich so oft besiegt werde, lerne ich tatsächlich einiges.