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Wenn die fünf Sinne mehr werden

Wie ich in diesem Blog schon mal skizziert habe, habe ich seit knapp einem Jahr ein Projekt in Arbeit, das die Kinder in mir die „Reise ans Ende der Welt“ getauft haben. Auf dieser Reise bin ich dabei, schwersten seelischen Verletzungen aus meiner frühen und frühesten Kindheit wieder zu begegnen, um zu heilen.

 

Worum es dabei im Einzelnen geht, kann ich immer noch nicht abschließend sagen. Ich wurde als Kleinkind von meinen leiblichen Eltern für sexuellen Missbrauch und für Folter vermietet. Das finde ich nach und nach wieder. Dabei werden laufend neue Einzelheiten sichtbar. Das letzte, was ich fand, ist, dass sie mich einer Wasserfolter ausgesetzt haben, und dass dabei auch eine Technik zum Einsatz kam, die heute Waterboarding genannt wird. Das wirkt aus heutiger Sicht recht improvisiert auf mich. Vermutlich wollten sie das ganze Blut von meinem Kopf abspülen und kamen dabei auf die Idee, dass man auch Wasser zur Folter einsetzen kann und dass das bedeutend weniger Spuren hinterlässt als Schläge.

 

Und ja, die Schläge … das war so massiv, dass mir heute immer wieder Teile meines Körpers abhanden kommen. Auf einmal kann ich meinen linken Arm kaum noch bewegen, auf einmal scheint meine rechte Hand nicht mehr zu mir zu gehören, und was die Beine betrifft … monatelang bin ich an Krücken aus der Therapiepraxis gehumpelt. Immer wieder finde ich Szenen, die ich nur so deuten kann, dass sie mich bewusstlos geschlagen haben.

 

Natürlich verliert mein aktuelles Leben durch diese Therapie an Leichtigkeit und Fröhlichkeit. Aber ich bin es meinen Kleinen (den Kindern in mir) schuldig. Und letztlich – was für einen Sinn soll mein Leben haben, wenn die kleinen Kinder in mir nicht vor der Folter und der Vergewaltigung gerettet werden?

Ein Trauma ist eine Vergangenheit, die nie vergeht. Die gefolterten und vergewaltigten Teile von mir erleben diese schrecklichen Ereignisse wieder und wieder und wieder und immer wieder. Jeden Tag. Sie sind darin gefangen in einer nicht endenden Zeitschleife. Ein Trauma ist eine Vergangenheit, die nie vergeht. Deshalb ist es so notwendig, dass ich als Großer da hin gehe und diesen ewigen Kreislauf anhalte.

 

Ich gehe als Großer in diese Situationen rein und erlebe sie wieder. Ich nehme den Kleinen in mir die Gefühle ab, unter denen sie seit ewig so leiden und sorge für Frieden und Heilung. Um sich in Kindheitssituationen zurückzuversetzen gibt es mentale Techniken, die ich gut beherrsche. Mittlerweile bin ich auf diese Weise in Sphären der Misshandlung angekommen, wo unvorbereitete Menschen schon durch das bloße Zuschauen schwer traumatisiert werden können. Auch aus diesem Grund gibt es hier keine detaillierte Beschreibung dessen, was ich da wiederfinde.

 

Jahrzehntelang hatte ich diese Seite meines Lebens vollständig vergessen und verdrängt. Ich wusste absolut gar nichts mehr davon. Selbst in meinen Träumen tauchte nichts davon auf. Gar nichts. Wenn ich gefragt wurde, ob ich sexuell missbraucht worden sei, konnte ich das immer voller Überzeugung verneinen. Heute liegen die Dinge anders.

 

Wenn du sowas wiederfindest, dann bleibt nur noch wenig, wie es war. Zum einen fühle ich mich oft komplett „aus der Welt gefallen“. Der Therapeutin habe ich das so beschrieben:

„Ich gehe mit Menschen auf dem gleichen Bürgersteig die Straße lang und dennoch befinden wir uns auf verschiedenen Planeten – sie und ich.“

 

Ich will ein Beispiel geben:

Ich bin zum Grillen im Garten eingeladen. Da ich den Menschen eine Freude machen will, gehe ich hin. Die ganze Zeit bin ich – wie immer in den letzten Monaten - randvoll mit körperlichen Erinnerungen an Folter und Missbrauch. Das ist sehr präsent: Die Knochen tun mir weh, die Muskeln tun mir weh, große, schwere Männer beugen sich über mich, ich bin voller Erinnerungen an Geräusche und Handlungen, die ich hier nicht beschreiben will … Es ist ein sehr, sehr intensives Leben, das ich da führe. Das ist mir aber nicht anzusehen.

Jo.

Und dann brennt die Holzkohle auf dem Grill. Die Menschen sitzen unter dem Sonnenschirm um einen Tisch herum und warten, dass aus der Holzkohle Glut wird und der Grill als Herd genutzt werden kann. Sie haben offenbar Langeweile. Um die Zeit zu überbrücken,fangen sie Gespräche an. Und so höre ich mir an, dass man Bananenschalen nicht in den Wald werfen soll. Ich bin abgestoßen und fasziniert zugleich: Wie kann man mit so einem Unsinn seine wertvolle Lebenszeit verbringen? Ich sitze dabei und beobachte. Ich stoppe die Zeit, und ich zähle mit. (So, wie ich das immer mache).

 

Ich stoppe dreizehn Minuten, die das Gespräch dauert. In den ersten drei Minuten registriere ich acht Denkfehler:

Dreimal naturalistischer Fehlschluss

Zweimal unvollständige Disjunktion

Einmal Verrücken der Torpfosten

Einmal kausaler Reduktionismus

Einmal Implikation

 

Nach diesen drei Minuten schaue ich an den Menschen vorbei auf die Wiese und höre nicht mehr zu. Die Wiese zu beobachten ist interessanter, sinnvoller und fruchtbringender. Ich habe den Eindruck, dass wir – diese Menschen und ich - unterschiedliche Planeten bewohnen: Sie beschäftigen sich mit viel Energie und Engagement mit Themen, die in meiner Welt kaum einer Erwähnung wert sind oder überhaupt nicht vorkommen. Die reine Zeitverschwendung. Die reine Lebensverschwendung. Wie kann man nur sein kostbares Leben so vergeuden? Zeit bzw. Leben scheinen mir immer kostbarer zu werden, je tiefer ich in meine Foltervergangenheit gehe. Diese kostbare und unwiederbringliche Lebenszeit mit einer nutzlosen Bananenschalendiskussion zu verschwenden … Eine echte Begegnung zwischen (fast allen) anderen Menschen und mir scheint völlig ausgeschlossen: Wir leben auf verschiedenen Planeten.

 

Die Therapeutin sagt mir, dass es Traumatisierungsopfern sehr häufig so geht, dass sie den Eindruck haben, nicht mehr zu den anderen Menschen dazuzugehören.

Dieses Gefühl habe ich, seit ich denken kann.

Jetzt aber erlebe ich es in einer deutlichen Steigerung. Es gibt da praktisch nichts mehr, was uns verbindet. Macht ihr euren Kram, aber lasst mich in Ruhe. Ich will leben.

 

Ich erinnere mich an einen Vortrag, den ich an der Universität Potsdam gehalten habe. Nach dem Vortrag wurde ich von einer politisch sehr bewussten und sehr korrekten Studentin darauf hingewiesen, dass ich in meinem Vortrag nicht „gegendert“ hätte. Da ich nicht wusste, worum es ging, ließ ich mir erklären, was „gendern“ ist. Ihr war das wichtig (einigen anderen Student*innen, die mich umringten, auch).

Ich sagte ihnen:

„Ich freue mich für Sie, dass Sie sich ihre Welt haben so einrichten können, dass das für Sie tatsächlich ein ernsthaftes Thema ist. Ich freue mich für Sie, dass das in Ihrer Welt ein Problem darstellt.“

Dann besprachen wir andere Dinge.

 

 

Ich bin aber nicht nur aus der Welt gefallen. Das Ganze hat auch eine andere Seite. Die ist sehr neu für mich. Und davon will ich heute berichten:

 

Ich gewinne offenbar Fähigkeiten dazu.

 

Seit ich denken kann habe ich Fähigkeiten, die die meisten anderen Menschen offenbar nicht haben. Viele dieser Fähigkeiten betreffen die Wahrnehmung. Ich kann in Menschen hineinschauen, ich bin Synästhet, ich kann durch Wände und auf große Entfernung spüren, wie es Menschen geht etc.

 

Aber dadurch, dass meine schweren Traumatisierungen allmählich heilen, scheinen Fähigkeiten frei zu werden, die seit beinahe ewig verschüttet waren. Als erstes fiel mir auf, das mein Geruchssinn viel feiner geworden ist. Das ist nicht immer von Vorteil, aber ich kann jetzt eindeutig Gerüche wahrnehmen, die mir früher vollständig entgangen sind. Ich nehme Gerüche auch viel differenzierter wahr als früher.

 

Auf eine weitere Fähigkeit stieß ich durch puren Zufall:

Ich bin in der Lage zu sehen, was Menschen als Kinder und Kleinkinder gesehen haben, indem ich die Muskulatur zwischen ihrem Daumen und ihrem Zeigefinger befühle – technisch gesehen scheinen das der AbductorPollicisTraversus und der Flexor PollicisBrevis zu sein.

 

Bei einer Frau, der ich vertraue, und die mir vertraut massierte ich diese Stelle der Hand, und auf einmal tauchten Bilder in mir auf. Ich schloss die Augen, massierte weiter und begann zu erzählen, was ich da sah:

„Grießbrei. … Nein, das ist Milchreis. Eine kleine Portion Milchreis. Mit irgendwas drauf … Könnte Zimt und Zucker sein. … Da hat jemand als Kind sehr gerne Milchreis gegessen.“

Da ich den Milchreis mit exakt denselben Augen sehen konnte wie das Kind damals, konnte ich ziemlich genau schätzen, wie alt das Kind gewesen sein musste. Ich sah den dazugehörigen Löffel und etwas verschwommen eine Landschaft dahinter, die an Dünen und Meer erinnerte, aber ich war mir vollkommen sicher: Das ist so gewesen. Das hat diese Frau als Kind gesehen.

 

Das war spannend. Ich habe dann natürlich weiter diesen Muskel massiert und eine Fülle von Einzelbildern gesehen, die ich nicht zuordnen konnte. Diese Bilder sausten nur so an mir vorbei – irgendwelche visuellen Erinnerungen, die aus dem Zusammenhang gerissen waren. Erst bei einer recht eigenartigen Art von Schulheften wurden die Bilder wieder zusammenhängender. Dieses Kind hatte Schulhefte in einer besonderen Farbe mit einer ganz bestimmten Linierung gemocht.

 

(Weder von der Vorliebe für Milchreis noch von der Vorliebe für diese Hefte habe ich vorher irgendwas gewusst).

 

Ich habe das dann natürlich weiter ausprobiert und festgestellt, dass diese Fähigkeit stabil ist. Ich kann auf diese Weise auch bei anderen Menschen was wahrnehmen. Ich habe durchaus Wahrnehmungsfähigkeiten, auf die ich keinen bewussten Zugriff habe. Diese Fähigkeiten sind mal da, mal nicht. Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass ich sie habe. Ich kann mich nur darauf verlassen, dass das, was ich da wahrnehme tatsächlich so ist, wenn diese Fähigkeit gerade mal da ist. Aber dieses Sehen, wenn ich die Hand eines anderen leicht massiere, das ist stabil. Das ist anscheinend immer da.

 

Gestern habe ich das erneut bei einer Frau ausprobiert, die mir vertraut und der ich vertraue. Ich massierte leicht ihre Muskulatur zwischen Daumen und Zeigefinger und sah sofort das Aquarium, vor dem sie als Sechsjährige staunend und andächtig gestanden hatte. Ich sah ganz klar das leuchtende türkisblaue Wasser, konnte aber nicht sehen, was dieses kleine Mädchen ausgerechnet an der rechten oberen Ecke des Aquariums so toll gefunden hatte. Denn da starrte es die ganze Zeit unablässig hin.

 

„Ja, ich hatte ein Aquarium als Kind“, bekam ich dann zu hören.

(Aquarien waren vorher nie Thema zwischen uns gewesen. Ich habe keine Ahnung, was diese Frau als Kind an Besitz hatte oder nicht hatte).

 

Ich massierte weiter und sah die übliche Sturzflut an Bilder, die ich nicht zuordnen konnte – eine beinahe nicht endende Kette an visuellen Erinnerungen, die zusammenhanglos an mir vorbeizogen. – Schuhe Erwachsener, eine kaputte weiße Kloschüssel (offenbar hatte das Mädchen das gesehen, als es gerade hinfiel), ein kleines Heft oder Buch … ich weiß nicht mehr, was sonst noch, aber es war viel.

 

 

Ich gestehe gerne, dass ich keine Ahnung habe, wie es kommt, dass Menschen ihre visuellen Erinnerungen aus Kindheit und Jugend ausgerechnet in diesen beiden Muskeln speichern. Aber ich verbürge mich dafür, dass sie dort zu finden sind.

 

Des weiteren kann ich euch versichern, dass ich diese visuellen Erinnerungen offenbar sehen kann, wenn ich diese Muskeln sanft massiere. Ich habe keine Ahnung, wie das kommt, aber ich nehme sehr an, dass es mit meiner Reise ans Ende der Welt zusammenhängt.

 

 

Ich mache weiter mit meiner Reise ans Ende der Welt. Ich gehe als Großer wieder und wieder in diese Situationen rein – bis ich da durch bin. Auch wenn es wirklich nicht jedermanns Sache ist, einmal pro Woche anzutreten und sich fürchterlich verdreschen, foltern und vergewaltigen zu lassen. Ich reise weiter. Selbstverständlich. Ich bin ja noch nicht am Ende der Welt angekommen. Der Weg dahin wird alles andere als lustig, ich weiß das. Aber ich bin es meinen geschundenen, gefolterten und vergewaltigten Kleinen schuldig. Also machen wir das – wir gehen da hin.

 

Ich bin gespannt, was wir da an weiteren Fähigkeiten finden werden. Zwei weitere Wahrnehmungsfähigkeiten zeichnen sich bereits sehr deutlich ab, aber ich kann bislang nicht in Worte fassen, was ich da auf welche Weise wahrnehme. Die eine Wahrnehmung nenne ich „Sehen mit den Schultern“ – was bitteschön soll das sein? Aber besser kann ich es bislang nicht beschreiben.

 

Vielleicht berichte ich in diesem Blog ein andermal wieder von meiner Reise, wenn es was zu berichten gibt. Und bis dahin sage ich:

 

An die unter euch, für die Themen wie Bananenschalen oder das gerade aktuelle Liebesaus im Celebrity-Bereich tatsächlich mehr als eine Sekunde wert sind, an die unter euch, die sich tatsächlich für politisch korrekte Sprache engagieren und sich tagelang damit beschäftigen können, anderen ihre Sicht der Dinge aufzuzwingen und alle, die sich nicht überzeugen lassen zu dämonisieren: Ich beglückwünsche euch. Wenn das tatsächlich Themen und Probleme für euch sind, dann scheint ihr ja wirklich sehr weich gelandet zu sein. Wenn ihr euch derart an Nebensächlichkeiten aufreiben könnt, dann habt ihr deutlich weniger Sorgen und Nöte als 99,99% der restlichen Weltbevölkerung.

 

Macht ihr weiter mit eurer Reise, ich mache weiter mit meiner.

 

Ich will leben.

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