· 

Ein langer Weg 06 - Arbeitslos

Als ich am Anfang meines Berufslebens stand, habe ich viele Male hintereinander meinen Job verloren. In ungefähr der Hälfte der Fälle war der Grund, dass das Unternehmen, in dem ich arbeitete, im Zuge der Globalisierung vom Markt verschwand. In der anderen Hälfte der Fälle war ich meinen Vorgesetzten und Kollegen schlicht zu merkwürdig oder zu eigen. (Dass ich Autist bin, erfuhr ich erst 20 Jahre später. Vorher war noch nicht mal der Verdacht da).

 

An meiner fachlichen Qualifikation gab es nie was auszusetzen. Die wurde immer in den höchsten Tönen gelobt. Und mir wurden schon in jungen Jahren Aufgaben anvertraut, die normalerweise deutlich erfahrenere Kollegen erledigten.

 

Aber ich war merkwürdig.

Ich hatte keine Ahnung, was die Leute an mir auszusetzen hatten. Ich konnte keinen Unterschied zwischen ihrem Verhalten und meinem feststellen. Aber wenn jemand zum Chef zitiert wurde, weil die Kollegen und die anderen Vorgesetzten sich wieder mal beschwert hatten, dann war ich das. Dabei hatte ich nichts gemacht.

Und auch die Chefs konnten mir in ihrer Hilflosigkeit oft nicht sagen, was denn eigentlich los war.

 

„Sie müssen einfach lernen, geschmeidiger zu werden, Herr Stiller.“

„Herr Stiller, sie ecken viel zu oft an.“

„Herr Stiller, freundliche Worte kosten nichts.“

„Herr Stiller, nur über Sie bekomme ich solche Rückmeldung.“

Und so weiter.

Ich hatte keine Ahnung, worum’s ging. Die Güte meiner Arbeit stand immer außer Frage, und um meine Arbeit zu tun war ich hier angetreten. Was wollten die Leute also von mir?

Ich hatte keine Ahnung.

 

·         Ich hatte niemanden beleidigt.

·         Ich hatte niemanden geschlagen.

·         Ich hatte nicht auf den Teppich uriniert, um mein Revier zu markieren.

·         Ich hatte mich mit niemandem gestritten.

·         Ich hatte niemandem was weggenommen.

·         Ich hatte nicht versäumt, irgendwem die Tür aufzuhalten oder ihn zu grüßen.

·         Ich war nicht unhöflich gewesen.

·         Ich hatte mich an alle Unternehmensregeln gehalten.

·         Ich hatte nicht gegen das Gesetz verstoßen.

 

„Herr Stiller, Sie sind oft so merkwürdig.“

„Herr Stiller, die Abteilung RC hat sich über Sie beschwert.“

„Herr Stiller, man erzählt sich über Sie, dass Sie „eigen“ sind. Wissen Sie, was ich meine?“

„Herr Stiller, man redet über Sie.“

Und so weiter

 

Und so kam es dann eben, dass ich immer wieder mal auf der Suche nach einem neuen Job war.

 

Arbeitslos.

 

Das war eine neue Erfahrung für mich.

Das war eine bedrückende Erfahrung für mich. Denn ich hatte keine Ahnung, warum ich da ständig meine Jobs verlor. Mein Selbstbewusstsein war eh nie besonders stark ausgeprägt gewesen und jetzt war ich vollends verunsichert: Wenn ich einen neuen Job bekam – wie lange würde ich mich da halten können, bis wieder diese Gespräche mit dem Vorgesetzten anfingen?

Und ich hatte absolut keine Ahnung, was die Leute am Arbeitsplatz von mir wollten. Ich hatte sie gefragt, aber sie hatten es mir nicht beantworten können. Nicht mal annähernd. Sie konnten mir nicht mal Hinweise geben. Ich hatte irgendwelche Regeln übertreten:

·         Regeln, die jeder außer mir offenbar in- und auswendig kannte.

·         Regeln, die offenbar ganz einfach zu befolgen waren, denn außer mir tat es ja jeder.

·         Regeln, die mir niemand auch nur ansatzweise erklären konnte.

·         Regeln, die nirgendwo niedergeschrieben waren.

 

Auf diese Weise entsteht mit naturgesetzlicher Notwendigkeit das, was die wissenschaftliche Psychologie „Erlernte Hilflosigkeit“ nennt. Sowas treibt erst in die Verzweiflung und dann in die Depression.

Dementsprechend fühlte ich mich.

Aus der Abwärtsspirale der erlernten Hilflosigkeit rauszukommen ist nicht einfach. Speziell wenn man auf sich selbst gestellt ist und keinerlei Hilfe von außen zu erwarten ist.

 

Arbeitslos.

Das war mal ein ganz anderer sozialer Status. Ich komme zwar aus der sozialen Unterschicht, aber Arbeitslosigkeit ist nochmal was anderes. Jedenfalls ungewollte Arbeitslosigkeit.

 

Als ich das erste Mal arbeitslos wurde, hielt dieser Zustand fast ein ganzes Jahr an. Trotz aller Bemühungen. Ich schrieb über hundert Bewerbungen, aber die Ausbeute war sehr, sehr dürftig. Ich bewarb mich überall in Deutschland. Auf 30 Bewerbungen erhielt ich 29 Absagen und eine Einladung zum Gespräch. Und nach dem Gespräch kam dann die nächste Absage – kommentarlos, förmlich. Und ich wusste wieder einmal nicht, was ich falsch gemacht hatte und wie ich mein Verhalten hätte umstellen können. Ich war Akademiker (mit einem sehr guten Diplom), aber das machte nichts. Als Akademiker kannst du genauso langzeitarbeitslos sein wie jeder andere auch.

 

Da ich keinerlei Geld aus irgendwelchen Sozialkassen bekam, lebte ich von meinen Ersparnissen, und die nahmen rapide ab.

Ich erlebte schwere Existenzängste.

Sozialer Abstieg ist das eine.

Wirtschaftlich ruiniert sein ist das andere.

Damals gab es noch kein Hartz IV, sondern etwas, was sich „Sozialhilfe“ nannte. Ich machte mich schlau, wie man sowas beantragen konnte.

Und ich begann, mich auf dem Globus umzugucken. Wenn ich in Deutschland keinen Job bekam – die Welt war bedeutend größer als Deutschland. Ich hatte überhaupt keine Scheu auszuwandern. Das hatten Millionen Deutsche vor mir auch schon gemacht.

Irgendwas geht immer.

 

Einmal suchte ich das örtliche Arbeitsamt auf, um mich arbeitslos zu melden. Ich lernte sehr schnell, dass die Hauptaufgabe der dort Beschäftigten war, Arbeitslose wie mich zu demütigen und zu demotivieren. Da ich später in zwei anderen Bundesländern ebenfalls arbeitslos wurde und dort mit dem Arbeitsamt zu tun hatte, hatte ich die Gelegenheit zu lernen, dass das offenbar in allen Arbeitsämtern Deutschlands so ist:

Zum Arbeitsamt (heute „Agentur für Arbeit“) gehst du nicht, um Unterstützung zu bekommen, sondern um deine Hoffnungslosigkeit zu nähren („Solche wie Sie haben wir hier ständig, Herr Stiller, ich glaube nicht, dass Sie da was finden werden“) und sich beleidigen und demütigen zu lassen.

Selbstverständlich ging ich da nicht mehr hin, wenn ich meinen notwendigen Papierkram erledigt hatte.

 

Ich bin ein ziemlich zäher Bursche. Aufgeben kommt in meinem Leben nicht vor. Wenn ich bemerke, dass der Weg, den ich eingeschlagen habe, der falsche ist, dann suche ich mir einen neuen und gehe den. Ich werde vielleicht Schlachten verlieren, aber nicht den Krieg. Ganz oft weiß ich nicht mehr weiter. Aber einfach rumsitzen und aufgeben?! – Völlig ausgeschlossen. Irgendwas geht immer.

 

Ich fand einen Job und verlor ihn wieder.

Ich fand einen Job und verlor ihn wieder.

Ich fand einen Job … und konnte mich über ein Jahr halten.

Das war mal was völlig neues. Da keimte Hoffnung in mir auf.

Dann verlor ich den Job wieder.

Dann fand ich einen Job und verlor ihn wieder.

Dann fand ich einen Job … und konnte mich über ein Jahr halten.

 

Dann fing dieses intensive, jahrelange Mobbing an.

Ich hatte aus der Vergangenheit gelernt und war in meinem Sozialverhalten besser geworden. Den Leuten gelang es nicht mehr, mich einfach so aus dem Unternehmen zu schmeißen. Also versuchten sie es mit Mobbing. Das war zwar äußerst unangenehm für mich, aber es war deutlich besser als arbeitslos. Da ich mit den Jahren selbstbewusster geworden war, gab ich nicht mehr so schnell klein bei wie früher. Ich wusste das Recht und den Betriebsrat auf meiner Seite und hielt stand. Ich erinnere mich an den zentralen Dialog mit meiner Chefin. Sie war Bereichsleiterin (das ist hierarchisch eine Stufe unterm Vorstand):

Chefin: „Wir haben es uns überlegt, Herr Stiller – wir trennen uns von Ihnen.“

Stiller: „Wer „wir“?“

Chefin: „Ich will das.“

Stiller: „Und wer sonst noch?“

Chefin: „Der Vorstand will das.“

Sie meinte nicht den Gesamtvorstand, sondern ihren Vorgesetzten, den Personalvorstand.

Stiller: „Was sind die Gründe?“

Chefin: „Er will, dass Sie gehen. Sie sind für das Unternehmen nicht mehr tragbar.“

Stiller: „Und wer noch?“

Chefin: „Ja, reicht Ihnen das nicht?!“

Stiller: „Meine Kunden mögen mich. Die fordern mich dauernd an.“

Chefin: „Aber hier entscheidet der Vorstand.“

Stiller: „Wenn Sie sich meinen Arbeitsvertrag anschauen, dann werden Sie feststellen, dass ich einen Vertrag mit dem Unternehmen habe. Nicht mit Ihnen und auch nicht mit dem Vorstand.“

 

Vier Jahre ununterbrochenes Mobbing von Chefs habe ich überlebt. Dann wechselte ich die Abteilung und das Mobbing hörte schlagartig auf.

Dann kamen die Massenentlassungen.

Die kamen in Wellen. Alle zwei bis drei Jahre wurden fünf bis fünfzehn Prozent der Belegschaft aus dem Unternehmen gedrängt.

Sowas zu erleben war zwar äußerst unangenehm, aber wesentlich besser als arbeitslos zu sein.

 

Nach meiner Zählung habe ich bis jetzt fünf Massenentlassungen überstanden.

Ich bin seit 21 Jahren beim selben Unternehmen und bin jetzt bei meinem 16. Chef (in diesem Unternehmen) angekommen. Mal sehen, wie lange der sich hält.

(Da ich es leid bin, mich immer wieder einem neuen Chef vorstellen zu müssen, habe ich vor einigen Jahren einen Powerpointvortrag über mich entwickelt. Immer, wenn ich einen neuen Chef bekomme und der mich zum ersten Gespräch einlädt, aktualisiere ich flugs die Daten in diesem Vortrag und zeige meinem Chef den Vortrag auf meinem Laptop. Das spart viel Zeit, Arbeit und Energie).

 

13 Jahre lang habe ich buchstäblich jeden Tag um meinen Job kämpfen müssen. Jeden. Beschissenen. Tag. (Und in den Nächten habe ich oft permanent darüber nachgedacht, wie ich die Entlassung vermeiden oder einen neuen Job finden könnte). Erst nach 13 Jahren waren Vertrag, Unternehmen und Arbeitsumfeld so, dass einigermaßen gewährleistet war, dass ich jetzt einen festen und sicheren Arbeitsplatz hatte.

 

Jahrzehntelang habe ich mehrmals pro Woche einen Alptraum gehabt, dass ich meinen Job verliere. Irgendwann ging das runter auf einmal pro Woche. Mittlerweile träume ich nur noch einmal in zwei Monaten intensiv davon, wie ich meinen Arbeitsplatz verliere. Aber vermutlich wird mich das begleiten, bis ich sterbe. So wie ich heute noch manchmal davon träume, die Schule nicht zu schaffen, so werde ich wohl auch noch als Rentner davon träumen, mal wieder arbeitslos zu werden.

 

Arbeitslos zu sein – ungewollt – ist nach meiner Erfahrung einfach nur scheiße. Ich kann dem absolut nichts abgewinnen. Immer wieder kam ich mit anderen Arbeitslosen ins Gespräch, die mich von den Vorzügen der Arbeitslosigkeit überzeugen wollten. Aber das erinnerte mich dann immer sehr stark an meinen Zivildienst. Da hatte ich in einem Obdachlosenwohnheim gearbeitet. Und zahlreiche Berber (so nennen sich viele Obdachlose selber) wollten mich davon überzeugen, dass sie viel freier waren als die armen anderen Menschen, die durch Besitz, Wohnung, Familie, Arbeit etc. so belastet seien:

„Schau sie dir doch an, Stiller – wie sie durch die Einkaufszonen hasten – immer im Stress, immer gehetzt …“

 

Ich weiß, dass schrecklich viele AS ganz große Schwierigkeiten haben, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich dort zu behaupten. Immer wieder denke ich daran, was für ein langer Weg das für mich war bis zum sicheren Arbeitsplatz.Und wieviel Glück ich dabei hatte.

 

Wer auch immer da draußen ist und das liest und ungewollt arbeitslos ist:

Ich wünsche euch alles Glück und allen Erfolg dieser Welt!

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Elmar Eggerer (Montag, 16 September 2019 14:26)

    Das kenne ich sehr gut - mit Ausnahme des happy ending. Ich bin promovierter Geisteswissenschaftier. Was auch immer ich bisher publiziert habe, wurde gut aufgenommen, manches gilt als bahnbrechend. Und trotzdem bin ich in meinen bisher 53 Lebensjahren nicht über ca. 15 unbezahlte Praktika, einen mies bezahlten Lehrauftrag und eine befristete Assistenzprofessur im Ausland nicht hinausgekommen. Ach ja, und ungefähr 10 Anstellungen, die alle innerhalb der sechsmonatigen Probezeit endeten. Irgendwann war ich auf Hartz IV und mußte mir im Jobcenter Sachen anhören wie "Euch faulen Akademikern werde ich das Arbeiten schon beibringen - Sie fangen morgen im Schlachthof an, Schweinehälften schleppen." Oder, nachdem ich mit 51 endlich meine AS-Diagnose hatte, "Autismus ist nur eine Erfindung von geldgeilen Ärzten für Arbeitsscheue". Als ich ich über solche Kommentare beschwerte, wurde mir wegen "fehlender Kooperationsbereitschaft" Hartz IV um 25% gekürzt... man setzte mich auf tägliche Meldepflicht beim Jobcenter, nur weil ich kurzfristig eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch mit Probearbeiten in Österreich bekommen hatte und das Jobcenter schon zu war und ich mich nicht aus dem "Tagespendellbereich" abmelden konnte... Mittlerweile lebe ich als freischaffender Musiker und Fotograf in Österreich; aber ohne die Einkünfte meiner Frau könnte ich nicht überleben. Und was in der Rente einmal passiert, möchte ich mir noch gar nicht ausmalen, mit meinen insgesam 27 Renteneinzahlungsmonaten...

  • #2

    Stiller (Mittwoch, 18 September 2019 21:48)

    Was du hier schreibst, tut mir sehr leid.
    Nach allem, was ich sehen kann, bist du absolut kein Einzelfall. Und ich habe keine Lösung.
    Soviele AS leisten brillante Arbeit, und niemanden scheint es zu interessieren. Sie bekommen keine Chance.

    "Und was in der Rente einmal passiert, möchte ich mir noch gar nicht ausmalen, mit meinen insgesam 27 Renteneinzahlungsmonaten... "
    Ja (Seufzer), ich weiß. Du wirst bislang zwei, maximal drei Entgeltpunkte gesammelt haben und kannst bei deinem Alter mittlerweile machen was du willst - aus der Gesetzlichen Rente wirst du niemals (egal bei welchem Zukunfstszenario) ein auskömmliches Einkommen haben ...
    Ich weiß.
    Und ich habe keine Lösung.