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Das Leiden an der Wirklichkeit 02 - Feuerwerk

*** Seit geraumer Zeit versuche ich zu verstehen, was die Menschen meinen, wenn sie von der „Komfortzone“ reden, die wir verlassen sollen. Was ist diese „Komfortzone“? Vielleicht bin ich dem jetzt ein Stück näher gekommen. Das, was ich gefunden habe, nenne ich aber nicht „Komfortzone“, sondern „Leiden an der Wirklichkeit“. Dieses Leiden will ich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven beleuchten – das hier ist die zweite. ***

 

 

Ich bin Vater zweier Töchter. Die eine ist neurotypisch, die andere ist Autistin. Zu den

Spezialinteressen der Autistin gehört „Japan“. Wie sie dazu gekommen ist, weiß ich nicht. Sehr oft habe ich den Eindruck, dass auf ihrem persönlichen Globus Japan die Hälfte der gesamten Landmasse einnimmt. Der Rest auf ihrem persönlichen Globus besteht aus dem übrigen Ostasien.

 

Als Vater bin ich selbstverständlich der Taxifahrer meiner Töchter. Irgendwann werden sie vermutlich Auto und Führerschein haben. Aber bis dahin werden Gespräche gerne so anfangen:

„Papaaaa …?“

(Das Wort Papa kann von Töchtern gefühlt in etwa 2.000 Variationen ausgesprochen werden. Und „Papaaaa …“ bedeutet: „Kannst du mich fahren?“

So etwas zu wissen spart sehr viel Zeit. Oft gehen bei uns daheim Dialoge so:

„Papaaaa …?“

„Wann und wohin?“)

 

Meine AS-Tochter wollte zum Japan-Tag in Düsseldorf. Bis dahin wusste ich nicht einmal, dass es sowas gibt. Meine AS-Tochter plapperte mich aufgeregt mit dutzenden Vokabeln voll, die ich nicht kannte: „Cosplay“, „Emmemmoharpidschih“, „voll legit“, „Arpidschih“ und so weiter. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Aber es war unübersehbar, dass sie da unbedingt hinwollte. – Sie ist Autistin, das war ihr Spezialinteresse, es war an einem Samstag, also warum nicht?

 

Am Ende des Japantages sollte es am Rhein ein großes japanisches Feuerwerk geben. Feuerwerk ist etwas, was sich meine Kleinen sehr gerne ansehen, und die Japaner sind unbestritten Meister in dieser Kunst. Also war auch für mich und meine Kleinen auch was dabei, und so fuhren wir am betreffenden Samstag in aller Frühe heiter und beschwingt in Richtung Düsseldorf. Auf den Festwiesen am Rhein angekommen trennten wir uns. Ich schaute mir eine Weile ganz viele Menschen an, die sich angezogen hatten wie Figuren irgendwelcher Comics, die ich nicht kannte. Die ganze Rheinuferpromenade war mit Comicfiguren bevölkert. Dann verzog ich mich mit einigen Wissenschaftszeitschriften in irgendein stilles Café und verbrachte da den Tag.

 

Als die Nacht sich über die Stadt senkte, ging ich langsam wieder runter zum Rhein. Da liefen immer noch all die Menschen rum, die aussahen wie Comicfiguren. Nur dass sie im Gegensatz zum Vormittag nicht mehr ganz so nüchtern waren. Und da liefen ganz viele andere Menschen rum, die wie gewöhnliche Menschen aussahen. Alles stand dicht gedrängt am Rheinufer – zigtausende Menschen – und wartete auf das Feuerwerk. Ruhig und gelassen nahm ich mir über eine halbe Stunde Zeit, eine Stelle zu finden, wo ich einigermaßen ungestört würde gucken können.

 

Irgendein Mann, der angezogen war wie eine Kreuzung aus Braunbär und Marsmensch trug ein großes Pappschild um den Hals. „Free Hugs“ stand da in riesigen, pinken Buchstaben drauf: „Gratisumarmungen“ – und so verhielt er sich auch. Er umarmte jeden, der ihm nicht auswich. Ich wich ihm aus. Mehrere Schlümpfe waren in irgendeinen alkoholinduzierten Streit mit irgendwelchen Superhelden geraten. Die Argumentation wurde durchaus handfest und lautstark vorgetragen. Papa Schlumpf, abgefüllt mit gefühlt 2,0 Promille, prallte torkelnd von meiner rechten Hüfte ab. Er guckte zu mir hoch, stammelte verlegen irgendeine schlumpfige Entschuldigung und stürzte sich dann wieder ins Gefecht mit den Superhelden, um seine geliebten Schlümpfe zu verteidigen. Mehrere Aliens in quietschbunten Raumanzügen mit bunten Antennen auf dem Kopf umringten mich schnatternd, aber ich verstand nicht recht. Entweder war das irgendeine außerirdische Sprache, oder meine Ohrenstöpsel funktionierten besser als gedacht. Ihren Gesten konnte ich entnehmen, dass sie mich einluden, ihr außerirdisches Bier zu kosten. Achselzuckend wandte ich mich ab: Kein Interesse, kein Bedarf. Ich wollte einen Platz finden, wo ich das Feuerwerk ungestört anschauen konnte. Weiter oben auf den Wiesen verströmte ein Marsupilami Missmut, weil ihm ein Teil seines Schwanzes abhanden gekommen war …

 

Als das Feuerwerk begann, hatte ich eine Stelle gefunden, die für mich passend war. Da ich ein vergleichsweise großer und breiter Mann bin, konnte ich über all die Menschen vor mir hinwegschauen, und hinter mir stand niemand, dem ich die Sicht nahm.

 

Aber es begann nicht nur das Feuerwerk. Es begann auch das, was ich als Leiden an der Wirklichkeit begriff. Dieses Leiden gab es in zwei Varianten.

 

Variante 1

Die Menschen standen in Gruppen von zehn bis zwanzig Leuten zusammen und erzählten sich aufgeregt das Feuerwerk. Vielleicht kennen Sie diese hektischen, atemlosen Beschreibungen von Fußballspielen aus dem Radio:

„Jetzt halbrechts Grass an der Mittellinie. Bekommt den Ball. Könnte rüberspielen zu Böll, der weiter unten an der rechten Seite lauert. Dürrematt geht steil, aber Grass beschließt, es alleine zu versuchen. Grass mit dem Ball in Richtung Strafraum. Kästner und Bukowski bieten sich in der Strafraummitte an, aber Grass zieht durch bis zur rechten Eckfahne, verfolgt von Handke und Frisch. Frischtackelt, aber Grass spielt ihn an der Eckfahne aus. Jetzt müsste Grass flanken. Grass flankt halbhoch… zu ungenau! Zu ungenau! Kästner wird am Elfmeterpunkt auch noch behindert, Pilcher kommt vor ihm an den Ball und schlägt ihn weit raus in Richtung Mittellinie, Hölderlin nimmt ihn an und spielt ihn direkt weiter …“

 

So ungefähr hörte sich das an, nur auf’s Feuerwerk bezogen:

„Boah, guck dir das an, dieser weiße Streifen! Sieht das nicht geil aus?! Das soll eine Palme sein! Ja, richtig, das ist eine Palme! Boah, das ist eine Palme, Mann ist das cool! Und jetzt diese gelben Sterne! Hast du sowas schon mal gesehen, ey?! Gelbe Sterne mit blauen Punkten in der Mitte! Wie Schmetterlinge! Richtige Schmetterlinge! Und jetzt – oh boahey, ist das cool, ist das cool, so kleine blaue Schlangendinger … hab‘ ich ja noch nie gesehen! Voll krass, ey!“

 

Da die Beobachtung von Menschen mein ältestes Spezialinteresse ist, war ich sehr fasziniert. Ich fragte mich, ob ich zu diesem Menschen runtergehen müsste, um mal Fieber zu messen. Dann fing ich an zu zählen, wie viele Menschen in solche Kommentarpulks verwickelt waren. Die erzählten sich aufgeregt gegenseitig, was sie sahen und niemand hörte dem anderen zu. Faszinierend! Für einige Minuten verlor ich darüber das Feuerwerk ein wenig aus den Augen.

 

Aber mir war sofort klar, warum sich die Menschen so aufgeregt gegenseitig erzählten, was sie da sahen:

Abwehr der Wirklichkeit.

Es ist immer dasselbe: Wenn ich das, was ich erlebe, versprachliche, dann muss ich es nicht fühlen, dann kann ich es mir mit Worten von Leib halten. Viele meiner Berufsgenossen machen das gerne so:

„Wie fühlst du dich auf einer Skala von eins bis zehn?“

Über Gefühle zu reden dient ganz oft der Abwehr von Wirklichkeit. Du kannst über deine Gefühle reden oder du kannst sie fühlen. Beides zusammen geht nur ganz selten.

Und wer es schafft, seine Gefühle zu denken – auf einer Skala von eins bis zehn – der kann ziemlich sicher sein, dass er bald überhaupt nichts mehr fühlt.

In meiner Welt gilt:

Gefühle werden gefühlt und Gedanken werden gedacht. Das Denken von Gefühlen dient der Abwehr von Gefühlen – dem Vermeiden von Wirklichkeit.

 

 

2

Was ich wesentlich häufiger sah, waren die Menschen mit den Handys. Ich zählte durch und rechnete hoch, dass ungefähr jeder fünfte, der bei diesem Feuerwerk war, sich nicht das Feuerwerk anschaute, sondern das Feuerwerk mit dem Handy filmte und die ganze Zeit wie gebannt auf den Bildschirm starrte. Das sah für mich völlig befremdlich aus:

Da hatten die Leute die Gelegenheit, ein wunderbares, geradezu meisterhaftes Feuerwerk zu sehen – und sie schauten es sich nicht an. Sie taten es einfach nicht. Sie ließen diese wundervolle Gelegenheit ungenutzt verstreichen und hielten sich die Wirklichkeit mit technischer Hilfe vom Hals. – So wahr ich hier sitze: Sie starrten die ganze Zeit auf ihren klitzekleinen Handybildschirm.

 

 

Es gibt nach meiner Beobachtung sehr viele Menschen, die an der Wirklichkeit gerade dann besonders leiden, wenn sie schön ist. Dann versuchen diese Menschen, sie sich reflexhaft vom Leib halten. Zu den beliebtesten Methoden, sich die Wirklichkeit vom Leib zu halten, wenn sie schön ist, gehören offenbar:

 

a)   Quasseln, bis der Arzt kommt. (Da wo es still ist, hat die Wirklichkeit eine Chance. Da, wo geredet oder gar gequasselt wird, eher nicht).

b)    Denken – nicht wahrnehmen, was man erlebt, sondern darüber nachdenken

c)    Streit anfangen

d)    Handy – oder irgendeinen anderen Bildschirm - zwischen sich und die Wirklichkeit schieben.

 

Kann man so machen.

 

Wer sich auf diese Weise der Wirklichkeit verweigert, der schneidet sich vom Leben ab. Den berührt irgendwann gar nichts mehr. Der verwandelt sein Leben in eine Scheinexistenz, in der er alles nur noch sehr gedämpft wahrnimmt und erlebt. Deshalb brauchen solche Menschen immer höhere Dosen von „Erlebnissen“, um überhaupt noch irgendwas zu spüren – noch sensationellere Ereignisse, noch ausgefallenere Attraktionen, noch exotischere Genüsse, noch aufregendere Abenteuer, noch, noch, noch …

 

Nach allem, was ich sehen kann, führt diese Art, sich vom Leben abzuschneiden zu dem, was die NTs gerne „Komfortzone“ nennen. Dann entsteht dieses dumpfe Gefühl, nichts mehr zu erleben. Man hat’s zwar komfortabel, aber man erlebt nichts mehr. Dann versuchen die Menschen gerne, sich Erlebnisse zu kaufen – Erlebniswald, Erlebniswerkstatt, Erlebniseinkauf, Erlebnisurlaub, Erlebnisirgendwas. Ich habe dazu schon mal einen Blogtext geschrieben.

 

Das Leben ist aber nicht käuflich. Und auch Erlebnisse kann man sich nicht kaufen. Nichts ist wirklicher als die Wirklichkeit. Und wer sich von der Wirklichkeit abschneidet, und sich ein Ersatzleben kaufen will, der betrügt sich selber. Wer die Welt vor allem über einen Bildschirm wahrnimmt, der erlebt beinahe nichts mehr.

 

Einschub für meine neurotypischen Leser, die so gerne reden

Nochmal, weil es so wichtig ist:

Du kannst entweder reden oder wahrnehmen. Beides zusammen geht nicht. Je mehr du redest, desto weniger nimmst du wahr, desto weniger erlebst du.

Einschub Ende

 

 

Als ich mit den Massen von den Rheinwiesen in Richtung Parkplätze strömte, kam ich auch an Papa Schlumpf vorbei. Er lag friedlich schlafend inmitten leerer Pizzaschachteln auf der Wiese. Hin und wieder bewegte er sich sachte.

 

Offenbar träumte er gerade etwas Schlumpfiges.

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