*** Seit geraumer Zeit versuche ich zu verstehen, was die Menschen meinen, wenn sie von der „Komfortzone“ reden, die wir verlassen sollen. Was ist diese „Komfortzone“? Vielleicht bin ich dem jetzt ein Stück näher gekommen. Das, was ich gefunden habe, nenne ich aber nicht „Komfortzone“, sondern „Leiden an der Wirklichkeit“. Dieses Leiden will ich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven beleuchten – das hier ist die erste. ***
Ich nehme an, dass ich ein gutes Stück ängstlicher bin als die durchschnittliche Bevölkerung. Schwere Sorgen und schreckliche Ängste durchziehen mein Leben, seit ich denken kann. Das mag zu einem guten Teil darauf zurückzuführen sein, dass meine Kindheit so fürchterlich traumatisierend war.
Auf der anderen Seite ist mir aufgefallen, dass ich bislang bei jedem AS, mit dem ich Kontakt hatte, den Eindruck hatte, dass Ängste sein Leben weit mehr bestimmen als das bei den NTs üblich ist. Entweder sind wir AS mit einem Übermaß an Angst ausgestattet oder die lebensfeindliche NT-Umwelt, der wir seit unserer frühesten Kindheit permanent ausgesetzt sind, löst diese Ängste aus. Ich weiß es nicht.
Ich habe derart permanent derart starke Ängste, dass ich schon vor Jahrzehnten überlegt habe, wie ich es anstellen könnte, das Angst haben zum Beruf zu machen. Wie könnte ich dadurch Geld verdienen, dass ich Angst habe? Damit könnte ich dann wirklich reich werden. Mit Angst haben kenne ich mich besser aus als die allermeisten.
Bislang habe ich keinen Weg gefunden, mit meinen Ängste zu Geld zu verdienen. Aber ich habe festgestellt, dass ich mit meinen Ängsten deutlich anders umgehe als die meisten NTs, die mich umgeben. Ich erlebe sie häufig im Modus der Realitätsverweigerung. Sie leiden an der Wirklichkeit und versuchen, sich eine Komfortzone zu schaffen und die Ängste nicht zu erleben.
Worum geht’s?
Wenn mich sehr schwere Ängste plagen, dann sind sie meistens sehr, sehr diffus: Ich habe fürchterliche Angst und weiß nicht, warum. Wenn ich dann nach innen schaue, um mit den Teilen von mir in Kontakt zu kommen, die sich da buchstäblich zu Tode ängstigen, stoße ich vor allem auf Nebel. Das ist alles fast immer sehr, sehr vage. Ich habe Todesangst und weiß nicht, warum. Es ist dann meine Aufgabe, dem konzentriert und ausdauernd nachzugehen, um die ursächlichen Auslöser dieser Ängste zu finden.
Wenn ich einen Auslöser für eine wirklich schwere Angst identifiziert habe, dann nehme ich ihn in den Fokus der Aufmerksamkeit. Liegt der Auslöser in der Vergangenheit, dann wird er therapeutisch bearbeitet. Liegt er in der heutigen Realität, dann wird erganz genau untersucht:
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Worin genau besteht denn jetzt das Gefährdungspotenzial?
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Wie wahrscheinlich ist es, dass die Ereignisse, vor denen ich mich so fürchte, eintreten werden?
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Was wird dann genau passieren, wenn das eintritt?
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Was sind die genauen Ursache-Wirkungsketten, die dazu führen, dass das Ereignis eintritt?
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Und so weiter, und weiter?
Ich will wissen. Ich will vorbereitet sein. Ich will Abwehrszenarien entwickeln.
Die allermeisten NTs, die ich kenne, reagieren in vergleichbarer Situation so:
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Sie halten sich die Augen zu, lenken sich ab und denken an was anderes.
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Und das war’s auch schon.
Also nochmal, weil das so wichtig ist:
Beinahe alle NTs, die ich kenne, reagieren auf wirklich schwere Ängste so:
a) Liegt der Auslöser in der Vergangenheit, dann wird er weggeschoben, wegargumentiert oder durch Positives Denken (oder dergleichen) wieder in die Dunkelheit verbannt.
b) Liegt der Auslöser in der Gegenwart, dann halten sie sich die Augen zu oder konzen-trieren sich auf etwas anderes, was zwar auch Angst auslöst, aber viel, viel harmloser ist.
Ich will an zwei Beispielen erläutern, wie ich das erlebt habe.
Beispiel 1
In der achten Klasse war meine Versetzung gefährdet. Meine leiblichen Eltern reagierten immer mit einer Extraportion Folter, wenn ich schlechte Noten nach Hause brachte. In der Schule sitzen zu bleiben hätte das alles noch getoppt. Das hätte mein Leben tatsächlich ernstlich in Gefahr gebracht. Den Lehrern, die mich umgaben, war das nicht zu vermitteln. Die Signale, die ich ihnen gab, ignorierten sie geflissentlich. Dass da ein Kind in ihrer Klasse saß, das bei jeder Rückgabe von Klassenarbeiten Todesangst hatte, interessierte sie nicht. Sie wollten es nicht wahrnehmen, also nahmen sie es auch nicht wahr. Das ist nach meiner Erfahrung auch heute noch so. Kinder können in der Schule regelrecht verrecken. Wenn sie’s nur leise genug tun, stört das niemanden.
Um mir einen Überblick über die Lage zu verschaffen, nahm ich das Klassenbuch zur Hand. Dort waren alle Noten aller schriftlichen Arbeiten aller Schüler eingetragen. Ich hatte einen großen Zettel vorbereitet auf den übertrug ich akribisch die Durchschnittsnoten aller Fächer aller Schüler. Das tat ich in anonymisierter Form. Mich interessierte nicht, wer welche Noten geschrieben hatte, sondern welche Noten überhaupt geschrieben worden waren.
Ich erhoffte mir davon Aufschlüsse darüber, bei wie vielen meiner Klassenkameraden die Versetzung ähnlich gefährdet war wie bei mir. Ich ging davon aus, dass meine Aussichten, irgendwelche „Gnadennoten“ im Zeugnis zu kriegen um so größer waren, je mehr Schüler auf der Kippe standen.
Ich stand da also in irgendeiner Pause am Lehrerpult und übertrug eifrig Noten auf meinen Zettel. Noten, keine Namen. Ich schrieb zügig und konzentriert. Ich tat nichts Verbotenes. Jeder durfte in dieses Klassenbuch schauen. Da stand auch nichts geheimes drin.
Einigen meiner Mitschüler fiel mein Tun auf. Sie wollten wissen, was ich da machte. Ich sagte es ihnen:
„Ich schreibe mir die Notenspiegel von Deutsch, Englisch, Latein und Mathe auf.“
Die Traube der Mitschüler, die mich umringten, wurde größer. Und als sie begriffen, was ich da machte, löste das beinahe ein Erdbeben an Empörung und Entrüstung aus.
Nochmal:
Ich habe damals nur Zahlen aufgeschrieben, die jedermann zugänglich waren.
Nie zuvor und nie danach habe ich meine Klassenkameraden so aufgebracht erlebt. Ich verstand überhaupt nicht, worum es ging. Sie konnten es mir auch nicht erklären. Ich habe lange darüber nachgedacht und kam zu dem Schluss, dass sie an der Wirklichkeit litten und nicht wollten, dass irgendwer diese Wirklichkeit auch noch dokumentierte. Sie wollten sich die Augen zuhalten und sich auf diese Weise besser fühlen.
Beispiel 2
Ich arbeitete damals in einem Großkonzern. Es wurde gerade mal wieder umstrukturiert, und es standen mal wieder Massenentlassungen an. Tausende sollten auf die Straße gesetzt werden – dementsprechend war die Stimmung bei uns im Konzern. Die Arbeitnehmervertretung hatte einen „Interessensausgleich“ mit der Konzernführung vereinbart und es war ein elaboriertes Punktesystem entwickelt worden. Jeder Arbeitnehmer konnte Punkte bekommen, und je mehr man hatte, desto unwahrscheinlicher war, dass man entlassen wurde. Entlassen wurde zuerst die mit den wenigsten Punkten.
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Es gab Punkte für die Dauer der Betriebszugehörigkeit.
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Es gab Punkte für das erreichte Lebensalter.
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Es gab Punkte für minderjährige Kinder, die man zu versorgen hatte.
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Und so weiter.
Ich war damals ganz neu in eine sehr große Abteilung gekommen. Und bei der ersten Abteilungsbesprechung stellte sich jeder meiner Kollegen kurz vor. Ich schrieb eifrig mit. Irgendwann fiel das einem der Kollegen auf.
„Was schreiben Sie denn da die ganze Zeit mit?“ wollte er wissen.
„Ich schreibe mir die Daten mit, die für die Punkte relevant sind.“
Die allgemeine Empörung, die ausbrach, war exakt dieselbe wie damals in der Schule. Die Wellen gingen wirklich hoch. Was mir einfiele, das sei unverschämt, also wie jemand überhaupt auf die Idee kommen könne …
Und so weiter.
Es war ein Erdbeben der Entrüstung und der Empörung.
Genau wie damals war ich völlig überrascht. Ich hatte nichts Verbotenes gemacht. Ich hatte nur Daten mitgeschrieben, die jedermann zugänglich waren. Und es waren Daten von äußerster Relevanz gewesen.
Das war für mich das Logischste überhaupt beim Eintritt in die Abteilung gewesen:
Mach‘ dir ein Bild davon, als wievielter du an der Reihe bist, wenn es in dieser Abteilung mit den Entlassungen losgeht. – Denn nur dann kannst du dich vorbereiten und Gegenmaßnahmen einleiten.
Noch heute, fast zwei Jahrzehnte später sprechen mich Kollegen auf diese Situation an und wie unmöglich ich mich damals benommen hätte.
Ich stellte dann später fest, dass keiner meiner über 20 Kollegen vergleichbare Überlegungen angestellt hatte. Nicht ein einziger.
Sie alle hatten sich die Augen fest zugehalten und inständig gehofft, dass es sie nicht erwischen würde. Ich kann mich in diese Art, mit schwerer Angst umzugehen überhaupt nicht einfühlen. Wenn ich den Auslöser der Angst in der Gegenwart kenne, dann nehme ich ihn in den Fokus der Aufmerksamkeit. Und dann analysiere ich solange, bis ich ein klares Bild von der Lage habe. Und wenn ich ein klares Bild von der Lage habe, beginne ich, Abwehrszenarien zu entwickeln. Diese Szenarien werden dann von mir in die Tat umgesetzt. Dabei fühle ich jede Menge Angst, klar. Aber das ist es wert.
(Würde ich anders auf Angst reagieren, deren Auslöser in der Gegenwart liegt, dann wäre ich heute schon tot. Mit Sicherheit).
Bei den NTs, die mich umgeben, habe ich immer wieder den Eindruck, dass sie ziemlich an der Wirklichkeit leiden und nicht mit ihr konfrontiert werden wollen. Das gilt vor allem, wenn sie die Wirklichkeit als extrem unangenehm erleben.
Einschub
„Extrem“ unangenehm wird die Wirklichkeit dann, wenn sie Gefühle auslöst, die uns sehr unangenehm sind und die sich nicht so einfach ignorieren oder beiseite schieben lassen.
Einschub Ende
Bloß nicht darüber nachdenken, bloß nicht dran rühren. Da kommt man nur ganz mies drauf von und ändern kann man ja eh nichts. Das Motto könnte sein:
Verabschiede dich aus der Realität und zieh‘ dich in eine Scheinwelt zurück, die dich wirksam vor der Realität schützt.
Dahinter steckt häufig eine Grundüberzeugung aus der Kinderzeit: Gefühle können töten. (In Wirklichkeit können Gefühle einen Erwachsenen nicht töten. Sie können nur sehr, sehr unangenehm werden. Aber das wissen die Kinder in uns nicht. Die sind weiterhin felsenfest davon überzeugt, dass Gefühle töten können).
Wer sich auf diese Weise der Wirklichkeit verweigert, der schneidet sich vom Leben ab. Der verwandelt sein Leben in eine Scheinexistenz, in der er alles nur noch sehr gedämpft wahrnimmt und erlebt. Nach allem, was ich sehen kann, führt diese Art, sich vom Leben abzuschneiden zu dem, was die NTs gerne „Komfortzone“ nennen. Dann entsteht dieses dumpfe Gefühl, nichts mehr zu erleben. Dann versuchen die Menschen gerne, sich Erlebnisse zu kaufen – Erlebniswald, Erlebniswerkstatt, Erlebniseinkauf, Erlebnisurlaub, Erlebnisirgendwas. Ich habe dazu schon mal einen Blogtext geschrieben.
Das Leben ist aber nicht käuflich. Und auch Erlebnisse kann man sich nicht kaufen. Nichts ist wirklicher als die Wirklichkeit. Und wer sich von der Wirklichkeit abschneidet, und sich ein Ersatzleben kaufen will, der betrügt sich selber.
Zur Wirklichkeit gehören auch unsere sehr intensiven, äußerst unangenehmen Gefühle. (Intensive Angst zum Beispiel). Wer sich von seinen intensiven, negativen Gefühlen abschneidet und sie nicht mehr fühlen will, der verliert den Kontakt zur Realität und erlebt deutlich weniger. Er mag sich dann komfortabler fühlen, keine Frage. Aber er fühlt sich gleichzeitig auch deutlich unlebendiger. Wer die Fähigkeit aufgibt, es sich richtig schlecht gehen zu lassen und sehr intensive negative Gefühle auch wirklich zu erleben, der verliert gleichzeitig die Fähigkeit, sich richtig lebendig zu fühlen. Das eine geht nicht ohne das andere.
Meine Erfahrung ist:
Es kann dir nur so gut gehen, wie du es dir schlecht gehen lassen kannst. Je intensiver du dich schlecht fühlen kannst, desto intensiver kannst du dich auch richtig gut fühlen. Nochmal: Das eine geht nicht ohne das andere.
So ein Leben ist alles andere als komfortabel.
Aber es kann ziemlich lebendig sein.
Wenn du jedoch leben willst, ohne intensiv zu leiden – vergiss es.
P.S:
Wenn du darauf aus bist, lebendiger zu werden und deine unangenehmen Gefühle nicht mehr wegzuschieben, sondern in aller Intensität zu fühlen, dann ist eines ganz, ganz wichtig:
Lerne, echte Gefühle und Kunstgefühle zu unterscheiden.
Nochmal, weil das so wichtig ist:
Lerne, echte Gefühle und Kunstgefühle zu unterscheiden.
Wenn die schlechten Gefühle, die du da erlebst, Kunstgefühle sind, dann kannst du sie in aller Intensität fühlen und erleben, bis du schwarz wirst, ohne dass sich irgendwas zum Besseren wendet. Dann wirst du weiterhin völlig sinnlos leiden, ohne auch nur ein bisschen lebendiger zu werden.
Nur das Erleben und Fühlen echter Gefühle hilft weiter.
Lerne, echte Gefühle und Kunstgefühle zu unterscheiden.
Bring‘ die Kunstgefühle dahin zurück, wo sie herkommen.
Und fühle die echten Gefühle.
Das ist zwar nicht komfortabel.
Aber sehr lebendig.
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