Sprüche sind das Opium des Volkes

Wenn ich mir anhöre, was andere Menschen zu sagen haben oder wenn ich das Internet durchforste und studiere, was andere Menschen dort für postingwürdig halten, fühle ich mich oft sehr, sehr alleine. Sehr, sehr alleine und fremd. Das hat unterschiedliche Gründe. Heute will ich den Grund ins Auge fassen, den ich „Sprüche“ nenne.

 

Wenn ich zuhöre, was sich Menschen zu sagen haben, habe ich sehr oft den Eindruck, dass sie nicht ihre Gedanken mitteilen, sondern vorgefertigte Sprüche absondern:

„Man hat’s nicht leicht, aber leicht hat’s einen.“

„Es geht immer auf Kosten der kleinen Leute.“

„Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum.“

„Warum machst du nicht einfach … ?“

„Da musst du halt durch.“

 

Sprüche lassen sich dadurch charakterisieren, dass sie buchstäblich zu nichts zerfallen, wenn man sie hinterfragt.

Nehmen wir das Beispiel von „Es geht immer auf Kosten der kleinen Leute.“

Das wären meine Fragen:

  • Woran erkennt man, dass die Leute „klein“ sind? Ab wann sind sie „groß“?
  • Was bedeutet in diesem Zusammenhang „immer“? Gibt es keine Ausnahmen?
  • Was genau geht auf Kosten der kleinen Leute? Warum und auf welche Weise tut es das?
  • Und so weiter.

 

Das sind alles Kinderfragen, das gebe ich gerne zu. Aber ich kann mir kein Leben vorstellen, in dem die kleinen Kinder in mir nicht unentwegt fragen. Und wenn sie irgendwelche Sprüche hören, nehmen sie sie nicht einfach so hin, sondern fragen nach.

 

Nehmen wir das Beispiel von „Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum.“

  • Nach allem, was ich weiß, haben Hitler und Pol Pot das auch so gemacht. Die haben ihre Träume gelebt. War das ok so?
  • Warum soll man seinen Traum leben? Was hat man davon?
  • Woran kann man merken, dass man seinen Traum lebt und nicht etwa weiter träumt, ohne das zu erkennen?
  • Und so weiter.

Wenn ich Menschen, die diese Sprüche äußern, mit meinen Fragen konfrontiere, reagieren sie in aller Regel unwirsch. Offenbar soll jetzt nicht gedacht werden, sondern irgendwas dahergeschwurbelt werden. Das klare Denken soll ausgeschaltet und die Realität soll verlassen werden. Das ist als ob die Leute Opium rauchen würden. Wenn ich meine Fragen stelle, dann macht sich Realitätssinn breit. Das ist im Reich der Sprüche ganz offensichtlich sehr oft nicht gewünscht. Dort wollen die Leute vor der Realität geschützt sein.

 

Im Internet geht es mir genauso: Ich klicke mich gelangweilt durch die Seiten und murmele: „Sprüche, Sprüche, Sprüche.“

Aber wenn sowas bei Facebook auftaucht, haben dutzende oder gar hunderte Leute hinterlassen: „Mir gefällt das“. Dutzende oder hunderte Male wurde das geteilt. Die Leute wollen nicht real sein, sondern ihr intellektuelles Opium rauchen. Ich will hier keinem meiner Leser zu nahe treten. Ich hoffe, dass ich jetzt keine Sprüche oder Seiten zitiere, die jemandem, der das hier liest, ganz viel bedeuten. Und wenn doch – ich kann’s nicht ändern.

 

Was finde ich im Gesichtsbuch? Ich klick‘ mal rein.

„Hör auf, unglücklich, mit dir selbst zu sein. Du bist genau richtig, so wie du bist.“

Aha. „Hör auf, unglücklich zu sein.“ Sieh mal an. Gehört es zu den Dingen, die wir willentlich beeinflussen können, ob wir unglücklich sind oder nicht? Wenn ja, dann sind die, die unglücklich sind, vermutlich willensschwach oder sie wollen nicht das richtige.

 

Bislang sechsmal geteilt, mit fünf Kommentaren versehen, zwölf Leuten gefällt das.

Zertifikat: Sprüche. Denn es zerfällt zu nichts, wenn man es detailliert hinterfragt.

Das kleine Opiumpfeifchen zwischendurch.

 

Gehen wir einen Link weiter:

 

„Einfach tun, was richtig ist.

Einfach lassen, was nichts bringt.

Einfach sagen, was man denkt.

Einfach leben, was man fühlt.“

(Und so weiter, das dauert noch ein bisschen, mit dem „Einfach …“, aber das hier soll reichen, um klar zu machen, worum es mir geht).

  • Woran erkennt man, was richtig ist?
  • Was sind die Gründe, dass wir so oft die Dinge nicht lassen, die nichts bringen?
  • Einfach leben, was man fühlt – so wie Heinrich Himmler das gemacht hat oder noch verschärfter?
  • Und so weiter

Bislang 59 mal geteilt, mit einem Kommentar versehen. 61 Leuten gefällt das.

Zertifikat: Sprüche – der blanke Unsinn.

Das kleine Opiumpfeifchen zwischendurch. Die Leute wollen nicht real sein. Sie wollen in der Welt der Sprüche vor der Realität geschützt sein.

 

Gehen wir noch einen Link weiter (ich verlasse jetzt das Gesichtsbuch).

 

Da bespricht jemand, warum es manchmal so stressig ist, mit autistischen Kindern zu leben und was man als Eltern tun kann, wenn das Kind einen Overload hat. Um das zu erklären, wird die Bedürfnispyramide von Maslow zitiert.

Wörtlich:

„Der US-amerikanische Psychologe Abraham Maslow hat dazu eine eigene Erklärung. Seine Bedürfnishierarchie ist zwar umstritten, erklärt aber unser Problem sehr anschaulich.“

 

Dazu ist nichts zu fragen, nur anzumerken:

a) Diese Theorie stammt aus den Anfängen der wissenschaftlichen Psychologie – aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts. Wenn wir körperlich krank wären und der behandelnde Arzt würde uns nach den wissenschaftlichen Standards der 30er Jahre behandeln, hätten wir vermutlich was dagegen.

b) Maslows Modell hat nie funktioniert. In seinen Spätschriften hat er das auch zugegeben. Es funktioniert ebenso wenig wie der Rohrschachtest oder das Erkennen von Charaktereigenschaften an der Schädelform.

c) In der wissenschaftlichen Psychologie ist Maslows Bedürfnispyramide nicht „umstritten“, sondern schlicht und einfach obsolet – überholt, ungültig. Sie beinhaltet ein paar interessante und originelle Ideen, die aber allesamt der wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhielten und deshalb verworfen wurden.

 

Weiter lese ich auf dieser Seite:

 

„In Wirklichkeit geben die Kinder immer mehr als ihre Kraft hergibt.“

Auch hier keine Fragen, nur eine Anmerkung:

a) Das ist physikalisch unmöglich.

 

Zertifikat: Sprüche.

Das kleine Opiumpfeifchen zwischendurch.

 

 

Ich mache mich im Internet immer wieder auf die Suche nach Seiten, wo in schlichter Sprache und ganz real – also ohne jedes Opium - Dinge thematisiert werden, die mich interessieren. Bislang habe ich so eine Seite nicht gefunden. Vielleicht gibt es diese „spruchfreien“ Seiten zuhauf bei Themen, die mich nicht interessieren. In diesem Fall hätte ich eben einfach Pech gehabt.

 

Wenn Allaussagen auftauchen:

„Immer, nie, ständig, andauernd, alle, keiner, nichts als, permanent, ewig, nirgends, überall, laufend, gar nichts, niemand, jeder …“, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass jetzt die Realität verlassen wird und die Welt der Sprüche betreten wird.

 

Wenn irgendwo Fragen auftauchen, die so klingen:

 

„Warum können wir nicht einfach …?“

„Warum sagt denen (in Berlin, in Washington etc.) nicht mal jemand …?“

„Warum können wir nicht mal …?“

dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass jetzt die Realität verlassen wird und die Welt der Sprüche betreten wird.

 

Wenn irgendwo Aussagen auftauchen, die in diese Richtung gehen.

„Wenn jeder nur ein wenig …“

„Wenn wir nur alle …“

„Wenn nur niemand mehr …“

dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass jetzt die Realität verlassen wird und die Welt der Sprüche betreten wird.

 

Wenn Naturgesetze oder die Mathematik missachtet werden

„Davon bin ich tausendprozentig überzeugt …“

„Er gab ihm unendlich viel …“

„Der Tag hat 24 Stunden – wenn du die Nacht dazu nimmst, hast du 48.“

dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass jetzt die Realität verlassen wird und die Welt der Sprüche betreten wird.

 

 

In meiner Welt zählen Realität und real sein, sehr, sehr viel.

Sprüche tragen nach meiner Erfahrung nicht dazu bei, dass irgendwer realer wird oder sich der Realität nähert. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der sich von Sprüchen „ernährt“, weiterhin in seiner irrealen Traumwelt gefangen bleibt, ist nach meiner Erfahrung vergleichsweise hoch. Der Unterschied zum Opiumabhängigen ist wirklich nicht besonders groß. Nichts ist realer als die Realität. Sprüche bilden nach meiner Erfahrung beinahe nie die Realität ab. Im Gegenteil: Sie schützen vor der Realität.

 

Ein Weg, sich der Realität zu nähern, ist geduldig, schlicht und sinnvoll all die Fragen zu beantworten, die kleine Kinder stellen, wenn sie das Leben und die Welt begreifen wollen.Da, wo die Kinderfragen beantwortet werden – geduldig, schlicht und sinnvoll – da haben Sprüche keine Chance. Da macht sich Realität breit.

 

Ich will das an einem Beispiel erläutern:

Als meine Töchter in das Alter kamen, in dem normalerweise das einsetzt, was allgemein „Erziehung“ genannt wird, entschied ich mich dafür, nicht zu erziehen, sondern einfach nur da zu sein und durch Argumente zu führen. Meine Töchter lernten von klein auf: „Nicht das, was der Papa sagt, ist richtig, sondern das bessere Argument ist richtig.“ Und wenn meine Töchter das bessere Argument hatten, dann hatteneben sie Recht und nicht ich.

 

Wenn wir gemeinsam am Tisch saßen und aßen, saß häufig die eine Tochter auf dem einen Bein von mir und die andere saß auf dem anderen. Wir aßen dann von einem gemeinsam Teller, auf den jeder das häufte, was ihm gefiel. Irgendwann fingen meine Töchter mit einem Rülpskonzert an:

„Buuurp!“ machte die eine.

„Warte, jetzt ich“, meinte die andere:

„Buuuurp!“

„Total cool!“ kicherte die erste und wollte noch einen draufsetzen.

Da griff die Frau ein, mit der ich de jure verheiratet bin:

„Das macht man nicht!“ sagte sie tadelnd. Über ihrer Nasenwurzel zierte eine steile Falte ihr Gesicht.

Aus Erfahrung wussten meine Töchter, dass „Das macht man nicht!“ ein Spruch ist – etwas, was einer Überprüfung in der Realität nicht standhält.

Sie schauten mich fragend an.

„Wir haben uns in dieser Kultur darauf geeinigt, dass das als unhöflich gilt“, sagte ich ihnen als Erklärung. „Ich schlage vor, ihr lasst das jetzt, und wir machen einen Rülpswettbewerb, wenn die Mama mal nicht dabei ist.“

Das waren keine Sprüche, das war Realität. Damit konnten meine beiden Töchter prima leben.

 

Ungefähr zehn Tage später hatten wir dann die Gelegenheit, und meine Töchter veranstalteten einen minutenlangen Rülpswettbewerb. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wer gewonnen hat. Aber wenn das damals so gelaufen ist wie in vergleichbaren Fällen, dann gewannen sie beide.

 

 

Vielleicht finde ich irgendwann im Internet eine garantiert spruchfreie Zone, in der sich Menschen in schlichter Sprache mit der Realität auseinandersetzen. Irgendeinen Raum, in dem die Menschen nicht intellektuelles Opium miteinander teilen.

 

Ich gebe die Hoffnung nicht auf.

Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster.

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