*** In den nächsten Wochen habe ich Urlaub. Ich verschwinde wieder ins Hochgebirge und schneide mich von aller Telekommunikation ab. Ich habe vorgearbeitet – es werden auch während meines Urlaubs wöchentlich Texte hier erscheinen. Und da es in einem Urlaub oft auch um Sehenswürdigkeiten geht, habe ich dieses Thema gewählt, um diese Zeit einzuleiten. ***
Ich war Student, damals. Ich kam gerade mit ein paar Freunden von einer Tour durch die bayerischen Berge zurück. Wir machten in München Zwischenstation. Und ich weiß heute nicht mehr wie, aber auf einmal standen wir vor der Frauenkirche. Sophia, die so gerne rumknipste, war sofort Feuer und Flamme:
„Au ja! Stellt euch doch mal da vor der Frauenkirche auf, und dann mache ich ein Foto von euch.“
Sie machte dabei ihren Fotoapparat bereit und begann, verschiedene Perspektiven für die Fotos durchzuprobieren. Ich schaute sie an und sagte ihr:
„Ich habe eine bessere Idee: Wir stellen uns hinter die Frauenkirche, und du fotografierst dann.“
Ich kann nicht mal im Ansatz begreifen, was die Motivation der Menschen ist, die einander vor irgendwelchen „Sehenswürdigkeiten“ fotografieren. Natürlich schaue ich mir das oft an, weil ich neugierig bin, was da passiert: Menschen drapieren sich vor irgendwas – meist handelt es sich um ein Gebäude, es kann aber auch ein Naturschauspiel sein (Wasserfall, Berggipfel etc.) – dann machen sie dazu irgendwelche maskenhaften Gesichtsausdrücke und dann wird das ganze fotografiert. Das hat oft einen ritualartigen und zwanghaften Charakter.
Aber wozu tun sie das? Was ist die Motivation? Warum wird soviel Zeit, Geld und Energie in sowas investiert?
Ich habe Menschen dazu immer wieder befragt. Fast immer höre ich was über „Erinnerung“. Ganz so, als ob das Gedächtnis der Menschen so schlecht sei, dass sie in kurzen Zeiträumen vergessen könnten, dass sie gemeinsam mit Freunden an den Niagara-Fällen gestanden haben.
Erinnerung kann es also nicht sein. Aber was ist es dann? Ich weiß es nicht. Ich forsche weiter. Meine jetzige Hypothese ist, dass Menschen versuchen, einen Moment festzuhalten. Als ob das ginge! Ich habe in vergleichbarer Situation NTs mal empfohlen, zwei Ziegelsteine so zusammenzuschlagen, dass sie einen Sonnenstrahl zwischen ihnen festhalten. Den könnten sie dann nach Hause tragen und in ihr Album kleben.
Das mit der Rumknipserei bei Sehenswürdigkeiten scheint ähnlich zu sein wie die Eigenart der NTs, ihr Essen zu fotografieren (und das dann in den (a)sozialen Medien zu posten). Ganz viele tun das. Und noch nie hat mir einer von ihnen schlüssig und widerspruchsfrei erklären können, warum er das tut. Die Erklärungen, die ich bislang bekommen habe, waren bislang allesamt nicht richtig (unlogisch, widersprüchlich, nicht hinreichend). Wer hungrig ist, kann sich an diesen Fotos jedenfalls nicht sattsehen.
Ich war mit NTs schon an vielen „Sehenswürdigkeiten“. Aber immer erlebte ich uns als sehr unterschiedlich. Ich war als junger Erwachsener an den Pyramiden von Gizeh. Ich habe kein einziges Foto gemacht. Die NTs, die mich umgaben, waren vor allem „Ah!“ und „Oh!“ und „Knips!“ (selbstverständlich – jede Menge „Knips!“) und voller touristischem Geplapper. (Viel Geplapper. Lautes Geplapper! Demut und Respekt angesichts der Pyramiden?! – Wo kämen wir da hin?!) Und dann wollten sie Kamel reiten und besichtigen und Postkarten …. Die meisten Touristen, die ich erlebe, scheinen die Welt mit Disneyland zu verwechseln. …
Ich war voller Schweigen. Ich habe mich auf die Schattenseite der Cheops-Pyramide gesetzt und nur geschwiegen, stundenlang: „Wie baut man sowas? Und vor allem: Warum?“ „Was haben die Menschen gefühlt und gedacht, die mit diesem Bau beschäftigt waren?“ Dann habe ich die Pyramiden unter dieser Fragestellung auf mich wirken lassen und Hypothesen gebildet. Als ich damit fertig war, interessierte mich: „Wie kommt man da rauf, und wie sieht der Blick von oben aus?“ Und dann bin ich die Chephren-Pyramide raufgeklettert.
Ich war mit Freunden im Loire-Tal. Sie luden mich ein, einen ganzen Tag mit ihnen die Schlösser dort zu besichtigen. Ich hatte kein Interesse. Ich schaue mir keine Schlösser an. Ich sehe dann immer hungrige Bauernfamilien, denen auch noch das letzte abgepresst wird, damit solcher Luxus entstehen kann. Warum, um alles in der Welt, sollte mich dieser steingewordene Diebstahl interessieren? Das ist auf dem Hunger und dem Elend ungezählter armer Menschen gebaut worden. Das ist für mich nicht sehenswürdig. Das ist für mich bedauernswert. Vielleicht sogar verabscheuungswürdig.
Auf einem Incentive war ich in Wien eingeladen. Ich wurde mehrere Tage durch die komplette Stadt geschleift und sollte mir das alles anschauen. Die NTs, mit denen ich unterwegs war, waren restlos begeistert – „Knips!“. Knips und Geplapper. Ich war restlos gelangweilt und ermüdet. Ja, ich kenne mich ganz gut aus mit Kulturgeschichte. Ich kann Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, Rokkoko, Jugendstil etc. ziemlich sauber voneinander abgrenzen. Aber warum, um alles in der Welt, sollte ich mir das anschauen? Das ist für mich nicht sehenswürdig. Die einzigen alten Gebäude, die mich interessieren, sind Festungsanlagen und Stätten des Wissens.
Wir wurden zu Schloss Schönbrunn gekarrt - eine ganze Busladung erfolgreicher Führungskräfte. Voller Vorfreude stiegen die NTs aus und strömten in die weitläufige Anlage. Ich blieb stehen und schaute auf den Boden. Lange. Die fröhlich-aufgekratzt-kompetente Reiseleiterin sah das. Da es zu ihren Aufgaben gehörte, darauf zu achten, dass sich niemand absonderte und unwohl fühlte, kam sie zu mir.
„Was haben Sie?“ wollte sie wissen.
„Da sind Fußabdrücke im Asphalt“, sagte ich ihr. „Und zwar in zwei unregelmäßigen Mustern. Wie kommt das?“
„Was Sie immer alles sehen!“
Im Stephansdom wurden wir sehr fachkundig mit den Besonderheiten der architektonischen Ausgestaltung vertraut gemacht. Interessierte mich nicht. Ich schaute den farbigen Lichtsäulen zu, die das Sonnenlicht in einen stillen Seitenflügel zauberte. Staubteilchen tanzten völlig lautlos in diesen Lichtsäulen und ergaben dabei total interessante Muster. Ich war völlig versunken in diesen Anblick. Er war für mich sehenswürdig. Die Reiseleitung schickte jemanden, der mich holte, damit ich die anderen Sehenswürdigkeiten nicht verpasste. Denn jetzt ging es zum Altar. Auf dem Weg dahin kam ich mit der ranghöchsten Führungskraft unserer Gruppe ins Gespräch. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber auf einmal lachten wir beide herzlich. Sofort traten aus dem Schatten einer Säule zwei wirklich übelgelaunte Zivilpersonen. Wir wurden angezischt, dass dies ein Gotteshaus sei, und dass wir uns entsprechend zu benehmen hätte.
„Ihr Gott verbietet das Lachen?“ fragte ich.
Die Oberführungskraft zog mich da weg und sagte leise:
„Wahrscheinlich ist ‚ihr Gott‘ genauso schlecht gelaunt wie sie selber.“
„Ja“, antwortete ich und drehte mich nochmal nach diesen beiden Giftpilzen um, „das wird es sein.“
Die beiden Giftpilze hatten es sich tatsächlich zur Aufgabe gemacht, dafür zu sorgen, dass in diesem Haus nicht gelacht und gekichert wurde. Jetzt hatten sie grad ein etwa achtjähriges Kind am Wickel und ermahnten es streng.
Ich hatte die Faxen nun ziemlich dicke. Ich ließ die anderen ihren Altar und all die anderen sehenswürdigen Dinge im Stephansdom bewundern und verzog mich auf den Domvorplatz.
Dort fanden mich die anderen eine Viertelstunde später auf dem Pflaster hockend – total versunken in den Anblick einer Ameisenstraße.
Was für andere sehenswürdig ist, langweilt mich meist zutiefst und umgekehrt. Wenn ich auch nur ansatzweise Dinge höre, die klingen wie:
„Und dies ist eine Betschaumstatuette aus dem dreizehnten Jahrhundert, ausgeführt im panaschierten Schwurbelstil von einem unbekannten Meister …“,
dann wende ich mich innerlich ab und beschäftige mich mit was anderem. Es interessiert mich absolut nicht: Gebäude, Artefakte, Reliquien – alles nichts für mich. (Ausnahme: (1) Festungen. Die sind für mich aber nicht „sehenswürdig“, sondern ich begehe sie. Ich laufe so lange in ihnen rum, bis ich eine sehr exakte Vorstellung davon habe, wie es damals für die Angreifer und die Verteidiger war. (Notfalls komme ich zehnmal und öfter zur selben Festung zurück, um mir das anzuschauen). (2) Stätten des Wissens – Bibliotheken, Universitäten, Forschungsstätten etc.. Hier sehenswürdige ich aber auch nicht, sondern laufe so lange drin rum, bis ich den Eindruck habe, zu verstehen).
Andere erklären mich dafür regelmäßig für bekloppt, wenn sie mitbekommen, wie ich den Wolken nachschaue oder minutenlang ein einzelnes Blatt oder einen Wassertropfen betrachten kann. Oder eine Ritze zwischen zwei Steinen oder die Art, wie zwei Äste im Wald übereinander liegen. Beinahe alles auf dieser Welt ist für mich sehenswürdig. Aber nicht das, was Menschen gemacht haben. Das nun ausgerechnet nicht.
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Manuel Kanacher (Dienstag, 23 Juli 2019 10:13)
Wie schön, dass es noch mehr Menschen gibt, die so empfinden, verstehen und erleben wie man selbst. Dies zu lesen tut gut, weil man oft dafür ausgelacht und verspottet wurde. Dieser Blog ist Seelsorge, gibt mir Ermutigung und Freude. Danke.
Neo-Silver (Mittwoch, 24 Juli 2019 14:26)
Führungen sind schrecklich.
Ich benötige Niemanden der mir ungefragt Dinge erklärt und mich dazu auffordert weiter zu gehen.
Wenn es funktioniert, schaue ich mir Dinge so an, wie sie für mich wichtig sind. Das heißt auch minutenlanges starren auf ein und das selbe "Ding".
Autisten untereinander sind sehr unterschiedlich und starren sicher unterschiedliche Dinge an. Aber noch ein größerer Unterschied scheint zu den Nicht-Autisten zu bestehen.
Ich vermute das dass Interesse eines Autisten an irgendeiner Sache relativ "rein" und unbefangen ist. Wogegen das Interesse, welches Nicht-Autisten aufbringen, scheinbar oft multifaktoriell ist und sich sehr aus sozialen Komponenten zusammensetzt.
So eine Anschauung von Irgendwas ist dann eben:
- soziales Miteinander
- eine Erlebnisveranstaltung
- etwas zum späteren herumerzählen, was wieder zu neuem sozialen Miteinander führen kann
- etwas zum angeben - schließlich muss man ja beweisen, dass man vor der Sehenswürdigkeit stand und das Foto nicht aus dem Internet oder so hat
- ...
- natürlich auch teilweise Interesse am eigentlichen "Ding"
- und vermutlich noch mehr.
Wen in solch einem sozialen Umfeld interessiert denn, das man zuletzt eine sehr merkwürdig farbenfrohe aussehende Raupe auf dem Gehweg gesehen hat.
Und das es schon komisch ist, dass sie so farbenfroh war, da sie doch so auch Angreifer anlockt, es aber vermutlich wegen den intensiven Farben bei vielen Angreifern als Gefahr durch giftige Stoffe gilt.
Nun gilt es deshalb weiter darüber nachzudenken und zu forschen, was aus dieser Raupe werden wird.
Für wahr, dass muss auch Niemanden wirklich interessieren, auch wenn ich so etwas mit Inbrunst erzählen kann, weil ich eben in diesem Moment, als es mir passierte so ein hohes Interesse daran hatte und dadurch auch Freude erfahren konnte.
Es ist auch nicht mein Anliegen die Nicht-Autisten für ihre Art zu diskreditieren. Jeder ist eben so in dieser Welt wie er eben ist und wieso sollte ich, nur weil ich es anders empfinde, jemanden für seine Art herabwürdigen.
Nachfragen und Logik aufzeigen, wie du es scheinbar machst ist in Ordnung, auch wenn es sicher oft als Angriff gewertet wird.
Aber es ist schon merkwürdig.
Je länger und intensiver ich über die meisten anderen Menschen dieser Welt nachdenke, desto häufiger fällt mir auf, dass viele von ihnen einen scheinbar sehr anstrengenden Weg, in der Welt zu existieren, erwählt haben.