Kindesmissbrauch

Vor dem Landgericht Detmold hat der Strafprozess um die „Missbrauchsfälle von Lüdge“ begonnen. Ich nehme einiges an Medienecho dazu wahr. Ich höre manches, ich lese vieles.

 

Ich gehöre weder zu den Tätern noch zu den Opfern in diesem Fall. Und ich kann nur für mich selber sprechen – ich habe keine Ahnung, in wieweit das andere betrifft.

 

Also

 

Ich bin selber Missbrauchsopfer. Ich habe in meiner ganzen Kindheit sehr viel sexuelle Gewalt erlebt. Und beinahe jedes Mal, wenn ich davon höre oder lese wie sich Medienvertreter oder Privatpersonen über die betroffenen Kinder äußern, habe ich das Gefühl, dass ich gleich noch einmal vergewaltigt werde.

 

Was habe ich den Erwachsenen, denen ich zugehört oder deren Beiträge ich gelesen habe, zu sagen?

 

1

Ihr habt keine Ahnung. Ihr redet und schreibt über etwas, was euch so fremd ist wie die Oberfläche des Mondes.

 

2

Ihr seid voller Gewalt. Ihr ersetzt die eine Gewalt durch die andere. Das ist den missbrauchten Teilen in mir völlig egal. Eure Gewalt macht nichts gut, und sie heilt auch nichts. Ihr könnt euch noch so viel empören – in Verbindung mit eurer Ahnungslosigkeit löst eure Gewaltbereitschaft bei den geschundenen und vergewaltigten Teilen in mir nur schieres Entsetzen aus.

 

3

Es stehen mal wieder eure Bedürfnisse im Mittelpunkt. Euch ist nach Empörung – also empört ihr euch. Euch ist nach Helfenwollen. Also helft ihr, bis der Arzt kommt. Euch ist danach, vor eurer eigenen Hilflosigkeit wegzulaufen. Also schwadroniert ihr drauf los, bis ihr beinahe nichts mehr fühlt.

Und so weiter.

Die Kinder und ihre Bedürfnisse kommen bei euch wieder einmal nicht vor.

 

 

Was würde ich mir von euch wünschen?

 

1

Entwickelt Respekt vor dem, was ihr nicht versteht und lernt das respektvolle Schweigen.

 

2

Entwickelt Demut vor dem, was für euch völlig unfassbar ist.

 

3

Zeigt nicht auf andere, sondern guckt auf euch selber. Wenn ihr sexuelle Gewalt derart anziehend findet und das eine solche Gewaltbereitschaft in euch auslöst, dann werdet ihr in euch einiges finden, vor dem ihr erschrecken werdet.

 

 

 

 

Falls ich mit dem, was ich hier geschrieben habe, Opfern Unrecht getan habe oder zu nahe getreten bin, dann bitte ich vielmals um Entschuldigung. Ich habe hier ausschließlich von mir gesprochen und über mich geschrieben. Ich erhebe keinerlei Anspruch, in diesem Text für irgendjemand anderen das Wort ergriffen zu haben.

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Kommentare: 4
  • #1

    Murmur (Sonntag, 30 Juni 2019 00:02)

    Ich bin die Tochter einer Mutter, welche von ihrem Stiefvater jahrelang missbraucht wurde, während ihre Mutter "schlafend" daneben lag.
    Meine Grossmutter, welche mich über alles liebte und für deren Liebe ich zutiefst dankbar war und bin, hat sowas zugelassen.
    Sehr verwirrend, denn durch meine Liebe zu ihr, ist es mir nicht möglich, sie zu verurteilen.
    Als Kind, als kleines, wusste ich nichts davon.
    Und wusste gleichzeitig ALLES.
    Die Seele meiner Mutter war zerstört und das war zu fühlen.
    Sie starb mit 30 Jahren an einem Hirntumor.
    Der Verrat hatte sie um ihr Leben gebracht.
    15 Jahre nach ihrem Tod, ich war noch immer nicht informiert, träumte ich einen merkwürdigen Traum:
    Ich stand einfach nur da und hielt einen steinernen Penis in meinen Händen.
    So ein Ding tut weh, denke ich in meinem Traum, und will ihn meiner (verstorbenen) Mutter geben.
    Doch diese nimmt ihn nicht, sondern zeigt auf ein Loch im Boden.
    Und dort drin hockt meine (ebenfalls tote) Grossmutter. Sie weint.
    Nicht in der Lage, mir den unmöglichen Stein abzunehmen...
    Ich wachte mit einem Gefühl grosser Trauer und Verwirrung auf.

    Mein Vater erzählte mir vor wenigen Jahren erstmals, was mit meiner Mutter als junges Mädchen geschehen war.
    Und da verstand ich meinen Traum.
    Und noch mehr...
    Ich verstand meine Ängste, meine Weigerung, mich zu öffnen...
    ich verstand, weshalb ich eine Frau bin, welcher Unabhängigkeit, materielle, geistige und emotionale, wirklich über alles geht.
    Aber ich verstand auch dies:
    Wäre in unserer Familie mit Offenheit und Mitgefühl und Trauer über das Geschehene gesprochen worden. Wäre zugehört worden. Immer und immer wieder. Mit Mitgefühl und Trauer.
    Es wäre nie in meine Hände geraten.
    Dieses Ding aus Stein.
    Deshalb glaube ich - Liebe, Gemeinsamkeit, Offenheit ist das Einzige was dieses grosse Leid heilen kann.
    Sonst wird das von Generation zu Generation weitergereicht...

    Danke für deine Gedanken hier...

  • #2

    Stiller (Sonntag, 30 Juni 2019 03:18)

    Ich habe den Eindruck, ganz genau zu verstehen, wovon du hier schreibst.

    "Deshalb glaube ich - Liebe, Gemeinsamkeit, Offenheit ist das Einzige was dieses grosse Leid heilen kann."
    Ich stimme zu.
    Meine Kleinen finden in deinen Worten nichts, wovor sie zurückschrecken.
    Das ist aber auch das allererste Mal, wenn jemand sich zu dieser Thematik öffentlich äußert.

    Es gibt in dieser Sache sehr viel Gemeinsamkeit und Offenheit in den Medien.
    Und ausnahmslos alles fanden meine Kleinen bislang vernichtend. Mit solchen Menschen will ich nicht gemeinsam und offen sein.

    "Sonst wird das von Generation zu Generation weitergereicht..."
    Mein leiblicher Vater hat mich für Vergewaltigung und Folter vermietet. Er hat aktiv mitgemacht. Meine leibliche Mutter hat so getan, als würde sie nichts mitbekommen. (Ganz abgesehen davon, dass sie davor mehrfach versucht hat, mich zu ermorden).
    Beide haben mit mir inszeniert, was sie als Kinder erlebt haben, weil sie keinen anderen Weg fanden, sich auszudrücken.
    Und als sie als Kinder vergewaltigt und gefoltert wurden, waren das auch Verbrechen und Traumata, die schon seit vielen Generationen weitergegeben wurden. Viele Generationen von Verbrechern und Feiglingen. Eine nicht enden wollende Kette.

    Ich habe einen sehr alten Beschluss in mir:
    "Das endet. Hier. Jetzt. Ich bin der letzte in dieser Kette, der das erlebt."

    Ich danke dir sehr für deine Worte.
    Ich bin berührt.


  • #3

    Murmur (Sonntag, 30 Juni 2019 14:54)

    >>Ich habe einen sehr alten Beschluss in mir:
    "Das endet. Hier. Jetzt. Ich bin der letzte in dieser Kette, der das erlebt."<<

    Dieser Beschluss ist auch in mir.
    Nach der Geburt meines ersten Kindes geschworen!
    Wörtlich. : )))

    >>Es gibt in dieser Sache sehr viel Gemeinsamkeit und Offenheit in den Medien.
    Und ausnahmslos alles fanden meine Kleinen bislang vernichtend. Mit solchen Menschen will ich nicht gemeinsam und offen sein.<<
    Ich verstehe genau was du meinst. Ich könnte auch nicht.
    Dass ich zur Thematik öffentlich und jemand Unbekanntem geschrieben habe war erstmalig.
    Und ich war mir des Risikos für mich bewusst.
    Du hättest barsch darauf reagieren können, es abkanzeln oder ignorieren.
    Oder, noch schlimmer, mit oberflächlichem Mitleid.
    Alles davon hätte mich verletzt...
    Es ist - für mich - kein Thema, das ich öffentlich machen möchte.
    Und auch privat bin ich sehr vorsichtig damit.
    Solche Wunden brauchen das Gefühl von Sicherheit und Verständnis.
    Danke dir dafür.

    >>Mein leiblicher Vater hat mich für Vergewaltigung und Folter vermietet. Er hat aktiv mitgemacht. Meine leibliche Mutter hat so getan, als würde sie nichts mitbekommen. (Ganz abgesehen davon, dass sie davor mehrfach versucht hat, mich zu ermorden).<<
    Du hattest es schwer in deiner Kindheit. Sehr, sehr schwer.
    Diesem Grauen zu begegnen und es zu tragen muss dich viel Kraft kosten...
    In mir ist eine Menge Mitgefühl für dich.

    Eine Frage, bitte:
    Was ist das, wenn du von "deinen Kleinen" sprichst?
    Sie sind in deinem Innern, so viel glaube ich verstanden zu haben?
    Sie sind eine Art Instanz auf welche du dich verlassen kannst.
    Aber: Es sind viele...
    Wer sind sie?

    Oder sind sie zu privat, die Fragen?
    Dann entschuldige.







  • #4

    Stiller (Sonntag, 30 Juni 2019 18:57)

    Danke, Murmur, für deine Nachricht und für dein Mitfühlen.
    Von dir kommend ist das annehmbar für mich.

    Danke auch für deinen Mut und deine Offenheit.
    Deine Fragen will ich dir gerne beantworten, aber nicht so, dass das für alle Welt sichtbar ist.
    Wenn du das möchtest, dann schicke mir eine E-Mail, in der du deine Fragen formulierst.
    Meine Antwort kann etwas dauern, weil ich sehr viel arbeite, aber sie kommt.