Das Neurotypische Syndrom 15 - Ich weiß du magst das nicht

Vor einiger Zeit schrieb mir eine autistische Frau, dass ihr Mann sie in einer Alltagssituation auf eine bestimmten Art und Weise umarmt hatte. Dazu hatte er ihr gesagt:

„Ich weiß, du magst das nicht, aber mir war jetzt danach.“

 

In bin innerlich zusammengezuckt, als ich das gelesen habe. Wie oft habe ich diesen Satz von den Neurotypischen schon gehört!

„Ich weiß, du magst das nicht.“

Und dann folgt immer ein körperlicher Übergriff. Die NTs, die oft so stolz sind auf ihr Einfühlungsvermögen und ihre Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen (zwei Fähigkeiten, die wir AS ja angeblich nicht haben) sind mir gegenüber übergriffig bis zum Anschlag. Und ich bin ein großer und kräftiger Mann.

 

Einschub

Für alle die, die jetzt in sich den intensiven Impuls spüren, zum Ratschläger zu werden:

„Warum machst du nicht einfach …?“

„Also ich mache da immer …“

Vergesst es. Ich rede nicht mit Menschen, die Recht haben.

Einschub Ende

 

In meinem Beruf ist es erforderlich, permanent in intensivem sozialem Kontakt zu Kunden, Kollegen und Vorgesetzten zu sein. Und für viele NTs gehört zu diesem intensiven sozialen Kontakt der Körperkontakt unbedingt dazu. Wenn sie zur Begrüßung und zum Abschied den andern nicht umarmen können, dann fehlt ihnen was wichtiges. Dann werfen sie ihren neurotypischen Abwertungsautomaten an und machen in Sekundenbruchteilen aus meinem schlichten:

„Nein, ich will dich nicht umarmen.“ sofort ein

  • Der mag mich nicht
  • Der hält sich für was besseres
  • Der hat was gegen mich
  • Der ist heute nicht gut drauf
  • Und so weiter

 

In meinen Seminaren erkläre ich NTs immer wieder die persönlichkeitsbedingten Unterschiede im Näheverhalten zwischen Menschen. Und vom Kopf her verstehen sie das ja auch. Aber ihre Bedürfnisse … Seufzer! … die NTs und ihre unstillbaren Bedürfnisse nach sozialem und emotionalem Nachschub!

 

Das Neurotypische Syndrom ist dadurch charakterisiert, dass der, der unter ihm leidet, soziale und emotionale Zuwendung nur schwer annehmen und speichern kann. Der durchschnittliche NT ist ständig emotional und sozial bedürftig. Deshalb brauchen NTs ständig sozialen und emotionalen Nachschub. Und mehr als die Hälfte von ihnen besorgen sich diesen Nachschub regelmäßig auf körperlichem Wege:

  • Ein Küsschen auf die Wange hier
  • Eine leichte Berührung des Gesprächspartners mit der Hand da
  • Eine Umarmung
  • Ein freundliches Schulterklopfen, bei dem die Hand dort liegen bleibt
  • So dicht neben dem anderen stehen, dass man ihn laufend berührt
  • Berührung
  • Berührung
  • Berührung

 

Das erlebe ich meistens als extrem übergriffig. Mir ist das wirklich sehr, sehr unangenehm. Aber was sie damit in mir auslösen, ist den NTs buchstäblich völlig egal. Es interessiert sie einfach nicht. Ihre Bedürfnisse haben in diesen Situationen Vorrang vor allem anderen. Mit einem schlichten: „Ich weiß ja, du magst das nicht, aber  …“ wird der körperliche Übergriff eingeleitet und ohne jedes Zögern umgesetzt.

Und nein, der durchschnittliche NT ist nicht empathisch, wenn er sozial und emotional bedürftig ist. Er ist nicht in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen, wenn er sozial und emotional bedürftig ist. Und nochmal: Der durchschnittliche NT ist sozial und emotional ständig bedürftig.

 

Oft genug sind für mich NTs impulsgesteuerte Übergriffsmaschinen. Sie können ihr Verhalten nur sehr begrenzt steuern. Wenn sie emotional und sozial bedürftig sind, dann müssen sie einfach. Sie können nicht anders. Sie sind wie Maschinen, die auch nicht anders können. Und sie sind sozial und emotional fast immer bedürftig. Das löst natürlich in mir höchste Alarmbereitschaft aus, sobald ein NT in meine Nähe kommt.

 

Körperliche Berührung auch gegen den erklärten Willen des anderen ist für sie dann so eine Art emotionaler Mundraub: Überlebensnotwendig und daher ethisch völlig gerechtfertigt. Da rührt sich kein bisschen Mitgefühl oder schlechtes Gewissen bei ihnen. Das finden sie kein bisschen unmoralisch.

 

Umarmungen über Umarmungen! Der reine Horror! Ein NT, den ich wirklich sehr schätze, ließ sich in so einer Situation sogar dazu hinreißen, mir einen „Strafkuss“ zu geben. Sie kennen wirklich kein Maß und keine Grenze, wenn sie emotional und sozial bedürftig sind.

 

 

Für die Neurotypischen unter meinen Lesern:

 

Fähigkeit zur Empathie

Nein, ihr seid nicht besonders empathisch. Jedenfalls nicht empathischer als ein durchschnittlicher Asperger-Autist.

 

Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen

Nein, ihr seid nicht besonders gut in der Lage, euch in jemand anderen hineinzuversetzen. Was euch allenfalls gelingt: Rauskriegen, was ihr in vergleichbarer Situation fühlen und brauchen würdet. Mit anderen Worten: Ihr seid manchmal ganz gut in der Lage, euch in euch selbst hineinzuversetzen. Aber euch in jemanden hineinversetzen, der anders ist als ihr? – Vergesst es. Den meisten von euch gelingt das zeitlebens allenfalls in Ansätzen.

 

Fähigkeit zur Kontaktaufnahme

Nein, ihr seid nicht besonders gut in der Lage, Kontakt mit anderen aufzunehmen. Körperliche Übergriffigkeit ist keine Kontaktaufnahme, sondern ein Angriff. (Falls ihr das nicht glaubt: Ich hau euch ja auch nicht zur Begrüßung eins in die Fresse, weil mir danach ist: „Ich weiß du magst das nicht, aber ich musste jetzt einfach mal jemanden schlagen.“)

 

Fähigkeit, sich moralisch bzw. ethisch korrekt zu verhalten

Nein, das ist nicht eure Stärke. Jedenfalls dann nicht, wenn ihr emotional und sozial bedürftig seid. (Und nochmal zur Erinnerungen: Ihr seid beinahe ständig emotional und sozial bedürftig). Eure Neigung zu amoralischem und übergriffigem Verhalten fällt euch im Alltag bloß deshalb nicht auf, weil ihr in der Regel unter euresgleichen seid.

Analogie.

Ich habe von Leuten gehört, die unheimlich stolz waren auf ihre Kenntnisse von Pilzen. Die aßen laufend Pilze und wurden tatsächlich nie krank davon. Das lag aber nur daran, dass in ihrer Umgebung einfach keine giftigen Pilze wuchsen.

 

 

Wenn die Asperger-Autisten den Spieß umdrehen würden

 

Hört mal, ihr NTs, das könnten wir auch – uns einfach so verhalten, wie uns ist, ohne jede Rücksicht auf euch. Wenn ihr uns zur Rede stellen würdet, dann würden wir einfach sagen: „Ich weiß, du magst das nicht, aber mir war jetzt einfach danach.

 

Was würdest du als NT erleben, wenn ich den Spieß umdrehen würde?

 

  • Ich breche ein Gespräch mitten im Satz ab, drehe mich um und gehe weg, wenn du mir Stuss erzählt. (Und als NT erzählst du mir viel Stuss! Du kannst nicht anders – Small-Talk, nicht endende Wiederholungen, belangloser Sozialkram etc.).
  • Ich komme in einen Raum, in dem du bist und begrüße dich nicht. (Ich bin ja nicht wegen dir in den Raum gekommen, sondern weil ich irgendwas zu erledigen habe).
  • Wenn du mir zu nahe kommst und ich dir nicht durch Rückzug ausweichen kann, dann mache ich mich nicht mehr steif, sondern schiebe dich wortlos aber energisch weg.
  • Wenn ich in einem Raum sitze und du das Radio anmachst, stehe ich wortlos auf, gehe hin und mache es wieder aus.
  • Im Wiederholungsfall stehe ich wortlos auf, gehe hin und schmeiße es aus dem Fenster.
  • Ich beende Telefonate mitten im Satz, indem ich auf die rote Taste drücke.
  • Wenn mich dein Parfüm stört, schicke ich dich raus oder zerr‘ dich zum Dekontaminieren unter die Dusche.
  • Ich nehme nur dann Kontakt mit dir auf, wenn ein Problem zu lösen ist. Sobald das Problem gelöst ist, wird der Kontakt unmittelbar danach wieder abgebrochen.
  • Ich gehe in keiner Weise auf deinen Small-Talk ein.
  • Ich gebe dir nicht die Hand. Wenn du mir die Hand hinstreckst, ignoriere ich das.
  • Ich schaue nicht mal in deine Richtung, wenn du sprichst, geschweige denn in deine Augen. 
  • Wenn du anfängst, mir was zu erzählen, was mich nicht interessiert, hörst du von mir schon nach den ersten Worten: „Interessiert mich nicht. Sei still.“
  • Wenn du mir eine Frage stellst, um mit mir ins Gespräch zu kommen und nach meiner Antwort deinen sozialen und emotionalen Mist bei mir abzuladen, breche ich das Gespräch sofort ab.
  • Ich beginne und beende Mails an dich ohne jede Grußformel.
  • Wenn du im Gespräch mit mir das Thema wechselst, dann rufe ich dich zur Ordnung: „Bleib beim Thema.“
  • Wenn du im Gespräch mit mir ausschweifend wirst (und das wirst du oft), dann rufe ich dich zur Ordnung: „Komm zum Punkt.“
  • Ich kleide mich, wie’s mir passt, auch wenn du großen Wert darauf legst, dass ich dem sozialen Anlass entsprechend angezogen bin. (Den Toten stört es vermutlich nicht, dass ich in Jeans und T-Shirt zur Beerdigung gekommen bin).
  • Ich gratuliere dir nicht zum Geburtstag oder zu sonst einem Datum.
  • Wenn du mich unabgesprochen berühren willst, dann hau ich dich, bis du wieder auf Distanz gehst.
  • Wenn du mich von hinten ansprichst, dreh‘ ich mich um und scheuer dir eine. Du weißt ganz genau, dass ich mich zu Tode erschrecke, wenn du das tust. Das ist maßlose akustische Übergriffigkeit! Das hast du verdient!
  • Wenn du zu laut redest, wenn du mit mir sprichst – und das tust du sehr oft – dann schnauze ich dich an: „Sei leise!“
  • Wenn du mich was fragst, und mir ist nicht nach Reden, dann bekommst du keine Antwort. Weder verbal noch nonverbal. (Das würdest du sehr oft erleben).
  • Wenn du dann weiter redest, setze ich mir meinen Gehörschutz auf.
  • Wenn du ständig mit deinem Kugelschreiber Geräusche machst, dann nehme ich ihn dir wortlos weg.
  • Wenn du in meiner Gegenwart pfeifst, vor dich hin brabbelst, mit den Fingern schnippst, mit der Zunge schnalzt etc., damit es bloß nicht so still ist, dann scheiße ich dich robust zusammen, bis du das lässt.

 

 

Liebe NTs – unser Zusammenleben sollte auf wertschätzender gegenseitiger Rücksichtnahme beruhen, nicht auf „Ich mach‘ mit dir, was ich will, weil mir ist jetzt danach.“

 

Liebe Neurotypische, auch wir Asperger-Autisten haben Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte, Ängste und Vorlieben. Und wir haben einen Körper. Und dieser Körper gehört restlos uns. Habt ihr das begriffen?! Das ist unser Körper, den ihr da gegen unseren Willen berührt. Der gehört uns. Ihr habt die Macht, deshalb glaubt ihr, das zu dürfen. Dürft ihr aber nicht. Vor jeder Berührung habt ihr unsere Erlaubnis einzuholen. Und wir müssen die Möglichkeit bekommen, uns zu verweigern, ohne dass sozialer Druck auf uns ausgeübt wird. Wir müssen uns verweigern können, ohne dass uns daraus Nachteile entstehen.

 

Ich selber brauche kein Bundesteilhabegesetz. Ich brauche ein Bundesverweigerungsgesetz: Jeder hat das Recht auf seinen Körper und darf sich jeder Form von körperlichem Sozialkontakt entziehen, ohne dass ihm daraus Nachteile entstehen. („Körperlicher Sozialkontakt“ umfasst auch dieses elende Händeschütteln).

Natürlich weiß ich, dass das nie Realität werden wird. Es sind die NTs, die die Gesetze machen.

 

 

Ob ihr es glaubt oder nicht: Wir Asperger-Autisten sind nicht auf der Welt, um eure Bedürfnisse zu befriedigen.

Hört auf, uns für eure Bedürfnisse zu instrumentalisieren. Das ist unethisch, und wir haben das nicht verdient.

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Kommentare: 2
  • #1

    Enrico Pallazzo (Dienstag, 26 November 2019 21:29)

    Ich fühle mich als NT und dennoch kann ich vieles hier nachvollziehen. Auch ich kenne etwa die Situation, wo der Arbeitskollege auf unangenehme 50cm an mich heranrückt und mir im Verlauf seines Monologs noch unvermittelt seine Hand auf die Schulter legt. Dergleichen als Übergriff zu bezeichnen scheint mir selbsverständlich und es als Übergriff zu erleben würde ich auch dem Durchschnitts-NT zuschreiben.
    Allgemein gewinne ich aus deinen Wahrnehmungen hier den Eindruck, dass du viele Mechanismen der menschlichen Interaktion sehr klar wahrnimmst und benennst, die auch im Zusammenleben unter NTs problematisch sind. Ich verfüge im Gegensatz zu dir über keine einschlägige Expertise, gewinne aber zunehmend den Eindruck, dass die Menschheit aus unzähligen Schattierungen zwischen dem AS und dem Extrem-NT besteht.
    Für mich jedenfalls sind das äu´ßerst interessante Perspektiven, also vielen Dank, dass du diese Gedanken weitergibst.

  • #2

    Enrico Pallazzo (Dienstag, 26 November 2019 21:31)

    Soviel zum Thema, dass sich NTs ständig wiederholen. In dem Fall war es aber technisch bedingt, ob du es glaubst oder nicht.