Eine Universität in Österreich. Sie bieten dort einen „Lehrgang ‚Autismus‘“ an. Man kann sich da in vier Semestern ausbilden lassen zu einem Menschen, der Autisten im Alltag begleiten kann. Ich bin eingeladen, anlässlich einer Tagung dort einen Vortrag über das Neurotypische Syndrom zu halten. Beim Sichten der Internetseiten zu diesem Lehrgang habe ich ein sehr, sehr schlechtes Gefühl. Aber was soll’s – vielleicht erreiche ich den einen oder anderen Neurotypischen mit dem, was ich sage. Vielleicht kann ich den einen oder anderen Autisten ermutigen.
Dann stehe ich im Hörsaal. Vor mir mein Publikum, in der Hand ein Mikrofon. Jetzt kann mir nichts mehr passieren – auf meine Eloquenz kann ich mich jederzeit verlassen, meine Sprache schützt mich wie eine undurchdringliche Blase. Ich stelle mich als Autisten vor, der von Beruf „NT-Versteher“ und „NT-Flüsterer“ ist, und der Vortrag nimmt Fahrt auf.
Nach dem Vortrag ist Pause. Die Zuhörer strömen nach draußen, um sich einen Imbiss zu holen. Ich bleibe im Hörsaal und beantworte Fragen und gehe auf Anmerkungen ein.
Als ich dann nach einer halben Stunde aus dem Hörsaal komme, spricht mich in der Aula eine neurotypische Frau an:
„Danke für die Erleuchtung!“
Ich verstehe sie nicht ganz.
„Was für eine Erleuchtung?“ will ich wissen.
„Na, was Sie gesagt haben. Ich kann jetzt mit meinen Schützlingen wesentlich besser umgehen.“
„Wenn Sie jetzt „erleuchtet“ sind, dann haben Sie sich selber erleuchtet.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich habe bloß Dinge gesagt und dargelegt. Sie haben sie aufgenommen und für sich verarbeitet. Das war die Hauptarbeit. Sie haben sich selbst erleuchtet. Ich habe bloß geredet.“
Die Frau denkt kurz nach.
„Sie sind ja wirklich ein NT-Flüsterer“, sagt sie sehr leise und geht weg.
NTs sind manchmal seltsame Menschen.
Dann gehe ich auch was essen. Zwei autistische Kinder stellen mir ihren Therapiehund vor. Ich begleite sie nach draußen auf die Wiese, wo sie mir zeigen, was sie ihm beigebracht haben.
Eine Autistin kommt auf mich zu. Ob sie mich mal sprechen könne. Sie habe an diesem Lehrgang zum Autismus-Begleiter teilgenommen und wäre darüber depressiv geworden.
Wir verziehen uns in einen abgelegenen Teil der Universität und setzen uns über Eck an einen Tisch. Sie stellt sich kurz vor:
Sie ist Tiermedizinerin, Mutter mehrerer Kinder (alle autistisch, alle hochbegabt (auch die Mutter)), kann aus gesundheitlichen Gründen ihren Beruf nicht mehr ausüben und ist auf der Suche nach beruflichen Alternativen.
Sie ruft die Inhalte des Lehrgangs auf ihrem Handy auf und scrollt durch die Inhalte. Jedes Lehrgangsmodul fasst sie mir kurz zusammen. Mein Gesicht verfinstert sich immer mehr. Während meines Vortrages hatte ich den Zuhörern gesagt:
„Ich habe den Eindruck, dass sich hier politisch korrekte Neurotypische zusammenfinden, die sich gegenseitig ihre Vorurteile über Autisten erzählen und sich diese Vorurteile solange gegenseitig bestätigen, bis die Illusion von Realität entsteht – und auf diese Realität reagieren Sie dann.“
Das, was die Autistin mir jetzt vermittelt, übertrifft meine schlimmsten Erwartungen bei weitem – in diesem Lehrgang lernen die NTs offenbar (wieder einmal), wie sie den Autisten helfen können. Die NTs und ihre ewige Helferei! Sie können offenbar nicht anders.
In mir entsteht das Bild politisch korrekter neurotypischer Wohlfühl-Gewalt, wie ich sie so oft erlebt habe, wenn NTs den Autisten „was Gutes“ tun wollen. In ihrem wohlmeinenden Terror gegen alles, was autistisch ist, kennen manche NTs ja keine Grenzen. Da werden selbst kleine Kinder gefoltert, was dann den Anstrich „Therapie“ bekommt. In früheren Zeiten nannte man sowas Exorzismus. Heute spricht man politisch korrekt von „Therapie“. Alles wird geduldet, alles ist korrekt, wenn es nur dem Ziel dient, den Autisten ihren Autismus auszutreiben.
Und auch bei beinahe allen anderen Lehrgangsmodulen entwickle ich dieses Bild: Hauptsache, die Neurotypischen fühlen sich wohl. Nur darum geht es. Der Rest ist Nebensache. Wenn sie sich wohl fühlen, dann muss alles richtig sein. Was die Autisten fühlen und wollen, das interessiert einfach nicht. Sie werden überhört, übergangen, verbal an den Rand gedrängt, ausgegrenzt. Die Neurotypischen brauchen nicht mit den Autisten zu reden, es reicht völlig aus, wenn sie sich untereinander über Autismus unterhalten. Denn die NTs wissen Bescheid über Autismus. Sie wissen auch ganz genau, was den Autisten hilft und gut tut. Und das geben sie ihnen dann. Völlig liebevoll, versteht sich. Egal, wie es den Autisten dabei geht – und wenn’s sie umbringt. Alles zum Besten der Autisten – sonnenklar. Das, was gut ist für die Neurotypischen, das muss auch gut sein für die Autisten. Denn in jedem Autisten steckt ja ein Neurotypischer, der raus will, nicht wahr? Und dieser Neurotypische muss um jeden Preis befreit werden.
So jedenfalls verstehe ich das, was die Autistin mir da erzählt.
Ich habe keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln.
Einschub
Falls Neurotypische unter meinen Lesern sind:
Ich finde es sehr gut, dass es einen Lehrgang zum Autismus-Begleiter gibt. Aber bitte bedenken Sie folgendes: Wenn Sie sich in diesem Lehrgang wohl fühlen und das Gefühl entwickeln, willkommen zu sein, dann läuft da etwas falsch. Es sollte in diesem Lehrgang nicht darum gehen, dass Sie sich wohl fühlen, sondern darum, dass Sie unsere Welt verstehen. Und dabei können Sie sich einfach nicht wohl oder willkommen fühlen. Völlig ausgeschlossen. Wenn Sie in unsere Welt eintauchen, dann fühlen Sie sich fremd und schlecht. Akzeptieren Sie das bitte. Das machen wir umgekehrt auch so – jeden Tag.
Einschub Ende
Ich kenne diese Form der neurotypischen Wohlfühl-Gewalt und meide sie, wo ich nur kann. Das sind dieselben Neurotypischen, die Blumen abschneiden, sie in eine Vase stellen und ihnen dann dabei zuschauen, wie sie langsam sterben und sich dabei so richtig wohl fühlen. Um diese NTs herum kann alles verrecken und zugrunde gehen, wenn sie sich nur wohl fühlen dabei. Sie lieben Blumen und deshalb bringen sie sie um. Schönen Dank auch! Von solchen NTs will ich keine Hilfe annehmen müssen. Begleiten sollen sie mich bitte auch nicht. Ich will nicht riskieren, dass sie dabei anfangen, mich zu lieben.
Die Autistin ist fertig mit ihrem Vortrag. Sie schaut mich fragend an.
Ich sage ihr:
„Ich wäre auch depressiv geworden, wenn ich diesen Lehrgang mitgemacht hätte.“
Die Autistin leitet über zu einem anderen Thema. Sie erzählt mir von ihrer sehr komplexen Beziehung zu ihrem Mann und will wissen, wie ich die Dinge sehe. Ich schaue mir die Bilder an, die in mir entstehen und sage ihr, wie ich die Dinge sehe.
Das ist etwas, was ich an Gesprächen mit Autisten sehr schätze: Wir kommen ohne alle Umschweife auf den Punkt und unterhalten uns sehr offen und ehrlich über das, was uns wirklich berührt. Da gibt es kein emotional-soziales Geschwurbel, da wird nicht um den heißen Brei geredet – wir kommen klar und direkt auf den Punkt. Autisten, die oberflächlich daherreden, kenne ich nicht.
Ich erlebe die Autistin als sehr offen und sehr ehrlich, und irgendwann sagt sie mir das auch:
„Außer dir würde ich das niemandem erzählen.“
Da sie hochbegabt ist, habe ich keinerlei Schwierigkeiten, ihr die Algorithmen darzulegen, mit denen ich arbeite und auf logische Zusammenhänge hinzuweisen, die solche Beziehungen mit naturgesetzlicher Notwendigkeit bestimmen. Sie beeindruckt mich durch die Geschwindigkeit und die Gründlichkeit, mit der sie das aufnimmt und für sich verarbeitet.
Irgendwann habe ich Hunger und breche das Gespräch ab. Getrennt gehen wir zum Essensstand.
Als ich fertig gegessen habe, unterhalte ich mich noch ein wenig mit einem autistischen Kind, das meine Nähe sucht, und dann ist wieder diese autistische Tiermedizinerin da. Sie fragt, ob wir unser Gespräch fortsetzen können. Ich sehe an meinen Bildern sofort, dass diese Sache für sie noch nicht rund ist und stimme zu. Wir ziehen uns wieder in unsere abgelegene Ecke zurück und nehmen das Gespräch wieder auf.
Diesmal will sie von mir wissen, wie ich meine Beziehung führe. Ich antworte ihr genauso offen und ehrlich, wie ich das bei ihr erlebt habe. Sie hört mir aufmerksam zu und stellt die eine oder andere Frage. Dann spricht sie mich unvermittelt auf mein Atemverhalten an. Und schon nach den ersten Sätzen denke ich:
„Ach du Scheiße! Die beobachtet mindestens genauso gut wie ich. Und zieht die richtigen Schlüsse!“
Sie hat mich erlebt, wie ich mit den zwei autistischen Kindern draußen auf der Wiese war und kann mir minutiös rückmelden, wie sie das erlebt hat.
„Du hast Erstickungsangst“, sagt sie mir. Sie fragt das nicht, sie weiß das.
„Ja, mein ganzes Leben schon.“
„Mindestens einmal am Tag“, fährt sie fort.
„Ja.“
Dann beginnt sie mir zu erzählen, wann diese Anfälle kommen und dass sie in früher Kindheit ihren Ursprung haben.
Ich gebe das unumwunden zu:
„Ja, das ist das, was ich gerade in meiner Psychotherapie in Arbeit habe: Ich werde gefoltert und am Ende in irgendwas erstickt. Ich war damals anderthalb bis zwei Jahre alt.“
Sie schaut mich sehr kurz direkt an. Dann guckt sie wieder woanders hin.
„Das ist es nicht“, stellt sie lapidar fest. „Das war wesentlich früher.“
Jetzt schaue ich sie sehr kurz scharf an.
„Erzähle mir mehr“, fordere ich sie auf.
Sie sammelt sich. Und ich weiß genau, was jetzt passiert, denn das kenne ich von mir. Es ist beinahe so, als würde ich mir selber bei der Arbeit zuschauen. Jetzt bin ich sehr gespannt. Sie wird mir jetzt Dinge über mich sagen, die ich zwar weiß aber trotzdem nicht weiß.
„Deine Mutter“, sagt sie. „Deine Mutter hat versucht dich zu ersticken. Aber das war viel, viel früher.“
„Ja“, denke ich. „Da war ich keine vier Wochen alt.“
In mir ist höchster Alarm. Das hier ist Top Secret! Mit diesen Bildern sind meine Kleinen erst vor 14 Tagen zu mir gekommen. Was meine leibliche Mutter getan hat, das wissen außer mir und meinen Kleinen bislang nur vier Menschen. Und ich kenne bislang nur die ganz groben Umrisse. Ich kenne kein einziges Detail. Und all das, was die Autistin hier über mich erzählt, stimmt. Ich weiß das. Aber ich habe keine Ahnung davon. Ich habe diese Erinnerungen nicht mehr. Es sind die Erinnerungen des Anderen, und die muss ich erst finden.
„Aha“, denke ich. „So fühlt es sich also an, wenn jemand in einen hineinschauen kann. So müssen sich all die Neurotypischen fühlen, wenn ich ihnen auf den Punkt genau sagen kann, wie es in ihnen aussieht.“
Meine Kleinen kichern. Denn an dieser Stelle sagen die Neurotypischen fast immer:
„Da siehst du mich völlig falsch!“
Ich wähle einen anderen Weg als diese Neurotypischen:
„Erzähle mir mehr“, sage ich der Autistin.
Sie schließt die Augen – genauso, wie ich das immer mache, wenn ich die Bilder in mir abrufe. Sie schaut sich diese Bilder an, öffnet ihre Augen wieder und guckt in ganz, ganz weite Ferne. Dann beginnt sie, mir zu erzählen, wie meine leibliche Mutter versucht hat, mich zu ersticken, als ich noch ganz klein war. Sie spart nicht mit Einzelheiten und Details. Alles, was sie da erzählt, ist völlig neu für mich.
„Du scheinst die gleiche Fähigkeit zu haben, wie ich“, sage ich ihr: „Du kannst nicht nur in Tiere hineinschauen, sondern auch in Menschen.“
„Das geht nur bei dir.“
„Von wegen!“
„Aber außer bei dir habe ich mich das noch nie bei jemandem getraut!“
„Vielleicht solltest du das ausbauen. Du hast diese Fähigkeit. Ich verdiene mittlerweile mein Geld damit. Aber erzähle mir mehr.“
Sie erzählt mir weiterhin von dieser Situation. Es ist so, als wäre sie dabei gewesen. Ich weiß, wie sie das macht, ich weiß, was vorgeht. Und ich weiß, dass ich mich absolut auf das verlassen kann, was sie da sagt. Sie erzählt. Ich höre zu.
„Und da kommt dein Asthma her“, sagt sie schließlich. „Nicht aus dieser Folterszene. Die war schlimm. Aber das mit deiner Mutter war viel, viel schlimmer."
Meine Augen sind voller Tränen.
„Darf ich dich anfassen?“ frage ich sie.
Sie nickt.
Ich lege ihr meine Hand auf den Oberarm:
„Ich danke dir!“
Sie schaut mich an. Sie versteht. In diesem Moment sind wir beinahe eins.
„Du bist voller Todesangst“, konstatiert sie.
Ich nicke nachdrücklich: „Randvoll!“
Sie macht eine Bewegung mit dem ganzen Körper, die ich sofort verstehe.
„Ich bin jetzt auch voller Todesangst“, sagt sie bestürzt und mitfühlend. Ich weiß das. - Es ist so viel Todesangst in mir, dass es für zehn Erwachsene reichen würde. Sie ist mir so nahe, dass diese Angst zu ihr übergeflossen ist.
Dann ist das Taxi da, das mich zum Flughafen bringen wird. Gemeinsam gehen wir ein Stück zum Parkplatz.
„Diese Foltersituation“, sagt sie und schaut mich von der Seite an. „Das waren mehrere.“
Sie meint: Mehrere Täter. Ich erwidere ihren Blick:
„Richtig.“
„Das waren zwei“, fährt sie etwas zögernd fort. Ich bleibe kurz stehen und schaue sie an.
„Nein. Also manchmal waren es zwei. Aber meistens sehe ich noch mehr.“
Ihr Gesicht leuchtet auf. Jetzt hat sie es:
„Einer hält dich fest und zwei schlagen auf dich ein.“
Ich nicke. Ich weiß, wie sie das gemacht hat.
„Das ist exakt die Situation, die ich zur Zeit in der Therapie in Arbeit habe.“
Wir verabschieden uns. Es gibt nichts mehr zu sagen, und so schweigen wir. Sie sieht. Sie weiß. Und ich weiß genau, wie sie das macht. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich einem Menschen begegnet, der diese Fähigkeit auch hat. Und sie kämpft genauso mit dem Tod wie ich.
Autisten können manchmal sehr außergewöhnliche Menschen sein.
Auf der Fahrt zum Flughafen fühle ich mich dieser Situation mit meiner leiblichen Mutter sehr nahe. Zugleich ist diese Autistin in meinem Herzen. Ich bin ziemlich durch den Wind. Im Flughafengebäude schlafe ich vor Erschöpfung ein und wache erst kurz vor dem Boarding wieder auf.
Seit sechs Monaten habe ich ein Projekt in Arbeit, das meine Kleinen die „Reise ans Ende der Welt“ getauft haben. Diesem Ende der Welt bin ich an diesem Tag deutlich näher gekommen. Ich habe schon so viele Dinge gesehen und erlebt in meinem Leben, von deren Existenz die allermeisten Menschen nicht mal eine Ahnung haben. Aber das hier scheint alles zu toppen.
Manchmal erzählen mir neurotypische Menschen, wie schwer sie es im Leben haben und welche Ängste sie ausstehen müssen. Ich höre mir das jedes Mal sehr aufmerksam an. Aber immer wieder denke ich nach so einem Gespräch:
„Wenn du auch nur ein Prozent von dem erleben würdest, was mein Leben ausmacht, dann würdest du noch in der selben Sekunde zu einem Eisberg gefrieren und den Rest deines Lebens nicht mehr auftauen.“
Andere wachen auf aus ihren Alpträumen. Ich nicht. Ich muss da rein und da durch. (Also nicht: „Augen zu und durch!“, sondern „Augen auf und rein!“). Ich bin auf der Reise ans Ende der Welt. Und auf dieser Reise scheine ich den ungewöhnlichsten Menschen zu begegnen, die man sich nur denken kann. Ich bin jedes Mal aufs Neue überrascht und zutiefst dankbar.
Für meine Kleinen ist sie „Die Frau, die sieht.“
Ich habe keine Ahnung, was sie mir noch berichten wird.
Wir sind bereit.
Wir warten.
Kommentar schreiben