*** Geschrieben für alle, die mal ihre Komfortzone verlassen wollen. ***
Wenn ich mir anschaue und anhöre, was andere aus ihrem Leben zu berichten haben, scheint es mir, dass mein Leben vergleichsweise ungewöhnlich ist. Vergangenes Leben, gegenwärtiges Leben, Ziele und Wünsche für die Zukunft – in den seltensten Fällen habe ich den Eindruck, mit anderen Menschen irgendwas substanziell gemeinsam zu haben.
Auch im Internet bin ich noch nie auf die Seite eines Menschen gestoßen, der aus seinem Leben berichtet, die irgendwie mein nachhaltiges Interesse geweckt hätte. Dasselbe gilt für Bücher: Was die anderen von ihrem Leben schreiben, ist nicht das, was für mein Leben relevant ist. Mein Leben scheint ziemlich anders zu sein. Und manchmal bin ich erstaunt, dass es überhaupt Menschen gibt, die sich für das interessieren, was ich zu schreiben habe.
Und auch die Herausforderungen, vor denen ich stehe, scheinen mir deutlich anders zu sein als die, denen sich andere Menschen gegenüber sehen. In den letzten und Wochen und Monaten höre ich von NTs sehr oft, dass sie vor der Herausforderung stehen, ihre Komfortzone verlassen zu müssen. Das scheint im Moment sehr en vogue zu sein: „Komfortzone verlassen“ hier, „Komfortzone verlassen“ da.
Letztens sah ich in einem Tagungshotel ein großformatiges Plakat:
„Da, wo die Komfortzone endet, da beginnt das Leben!“
Hochinteressant.
Scheint ja sehr komfortabel zu sein, das Leben des durchschnittlichen NTs. Und lebensfern. Ich kann da nicht so mitreden – ich bin Asperger-Autist, und da ist es in meinem Leben naturgemäß nicht so üppig mit „Komfortzone“.
Aber ja, die Leute haben schon so ihre Probleme. Jedenfalls, wenn ich ihren Berichten Glauben schenken darf. Ihr Leben ist voller Herausforderungen, die gemeistert werden müssen. Doch dazu müssen sie meistens erst mal ihre Komfortzone verlassen.
Und wie gesagt – da kann ich nicht so mitreden. Um meine Komfortzone verlassen zu können, müsste ich erst mal eine haben.
Übrigens - wie steht’s eigentlich mit Ihnen?
Hand auf’s Herz – wann haben Sie denn zum letzten Mal Ihre Komfortzone verlassen?
Ich will Sie mit diesem Text einladen, das mal für einen Moment zu tun.
Ich will die Herausforderung, vor der ich stehe, mit einer Analogie veranschaulichen.
Stellen Sie sich vor, Sie leben alleine in irgendeiner ruhigen Wohnung. Sie leben dort schon seit einigen Jahren und fühlen sich ziemlich wohl. Die Nachbarn lassen Sie in Ruhe, die Umgebung ist ansprechend, es kommt kein unangemeldeter Besuch vorbei, es ist ziemlich still, selbst wenn die Nachbarn ausgelassen feiern …
Eines Abends, als sie müde und hungrig von der Arbeit heimkommen, stellen Sie fest, dass Sie bereits zu Hause sind. Da sitzt jemand in Ihrem Wohnzimmer, der genauso aussieht wie Sie. Schweigend liest er in einem Buch. Er schaut nicht auf.
Sie kennen diesen Menschen nicht. Aber er sieht genauso aus wie Sie. Mit einem Blick erfassen Sie, dass zwar noch Ihre Möbel in der Wohnung stehen, dass jetzt aber einiges an Mobiliar dazu gekommen ist. Und obwohl Ihnen diese Möbel unbekannt sind, stehen sie offenbar schon seit langer Zeit da. Der, der da neu in Ihrer Wohnung ist, der wohnt anscheinend auch hier und das schon ziemlich lange. Und der hat natürlich seine eigenen Möbel.
Es kommt ein kurzer Dialog zustande:
„Was machen Sie hier?“
„Ich wohne hier.“
„Seit wann?“
„Immer schon. Wir sind gemeinsam eingezogen.“
„Davon habe ich nichts mitbekommen.“
„Das ist mir bewusst.“
…
Der Andere spricht mit derselben Stimme wie Sie. Er spricht auf dieselbe Art und Weise wie Sie. Er denkt genauso wie Sie. Seine Art, sich beim Sprechen zu bewegen und die Stirn in Falten zu legen ist genauso wie bei Ihnen. Und so weiter. Schon nach wenigen Worten ist Ihnen klar: Sie sprechen mit sich selber. Und dennoch sprechen Sie mit einem völlig Fremden. Wie ich schon sagte: Sie kommen eines Abends nach Hause und stellen fest, dass Sie bereits daheim sind.
Entnervt gehen Sie in die Küche, um sich erst mal was zu essen zu machen und die Lage zu überdenken. Sie öffnen den Kühlschrank und stellen fest, dass Ihre Sachen sich am gewohnten Platz befinden. Gleichzeitig sind da aber auch die Lebensmittel des Anderen. Lauter Zeug, das Sie nicht essen. Nicht, dass es giftig oder nicht gut wäre. Im Gegenteil: Es ist sogar sehr gut. Es ist nur was ganz anderes als das, was Sie sonst essen.
Und so weiter.
Irgendwelche französischen Filmregisseure aus dem letzten Jahrhundert hätten aus diesem Plot sicher ein beeindruckendes Kinoereignis gemacht. Das Publikum hätte sich das mit einem gruselig-wohligen Schauer angeschaut. Die Feuilleton-Presse hätte sich überschlagen, und im Lexikon der Filmkritik hätte es positive Eintragungen gegeben. Schlussendlich wäre der eine oder andere Filmpreis fällig gewesen – da bin ich sicher.
Aber für mich ist das nicht irgendein Film. Das ist – im übertragenen Sinne – die Situation, mit der ich mich seit einiger Zeit konfrontiert sehe. Ich gebe gerne zu, dass das selbst für mich nicht alltäglich ist. Dennoch ist es absolut logisch und absolut folgerichtig.
Also:
Es geht nicht um irgendeine Wohnung, sondern um mein Leben – wo ist da der Zusammenhang?
Wohnung = mein Körper, mein Bewusstsein
Möbel etc. = Erinnerungen, Gefühle
Der Andere = der Andere
Mein Körper und meine Bilderwelt sind randvoll mit Erinnerungen an meine frühe Kindheit. Das war schon immer so. All das, was ich da fühle und sehe, habe ich erlebt, als ich ein ganz kleines Kind war. Dennoch gibt es seit einiger Zeit sehr viele Erinnerungen aus dieser Zeit, die völlig neu für mich sind. Ich kann buchstäblich nichts davon in meinen inneren Datenbänken finden. Es sind die Erinnerungen eines Anderen.
Diese Erinnerungen sind bizarr, grausam, abstoßend, zutiefst verstörend und erschreckend. Und ich weiß, dass sich das alles genau so zugetragen hat. Aber das ist nicht mir passiert. Das sind die Erinnerungen eines anderen.
Mein Körper ist randvoll mit Folterspuren, die ich nicht kenne. Beinahe kein Teil des Körpers ist ausgelassen. Meine Kleinen sprechen mittlerweile von der „Beulenpest“, weil ständig irgendein anderer Körperteil reklamiert, schwerst geschlagen oder misshandelt worden zu sein. (Es ist also eher die „Hämatom-Pest“). Aber das ist nicht mir passiert. Das passierte dem Anderen.
Meine Bilderwelt ist plötzlich angefüllt mit Bruchstücken von Szenen, die sich allmählich zu einem einzigen Ereignis verdichten. Dieses Ereignis war höchst traumatisch. Aber nicht für mich. Ich erinnere buchstäblich nichts davon. Gar nichts. Das ist alles dem Anderen passiert.
So geht das in meinem Leben schon seit Monaten – Tag und Nacht. Die bruchstückhaften Szenen verdichten sich zu einem einzigen Bild - wie bei Dalli-Klick.
Ich bin sehr sicher zu wissen, was hier passiert, und warum es passiert. Aber das ändert nichts an meinen Gefühlen und an meinem Erleben – ich komme eines Abends müde und hungrig nach Hause und bin bereits daheim.
Wenn ich mir anschaue und anhöre, was andere aus ihrem Leben zu berichten haben, scheint es mir, dass mein Leben vergleichsweise ungewöhnlich ist.
Vielleicht haben Sie beim Lesen dieses Textes Ihre Komfortzone tatsächlich verlassen. Vielleicht haben sie sich mit der Vorstellung anfreunden können, nach Hause zu kommen und bereits daheim zu sein. Wenn das so ist, dann hätte ich vielleicht noch eine Steigerung für Sie:
Die Erinnerungen an das Ereignis, die sich hier allmählich verdichten, weisen sehr eindeutig und unmissverständlich auf ein bestimmtes Ende hin: Der Andere erinnert sich sehr genau und sehr deutlich daran, wie er als Kleinkind in einer wahren Orgie aus Folter und sexueller Gewalt grausam ermordet worden ist. Aber das ist dem Anderen passiert, nicht mir. Am Ende dieses Ereignisses war er tot. Tod durch Ersticken.
Und nochmal: Ich bin randvoll mit diesen Erinnerungen des Anderen. Tag und Nacht.
Was würden Sie an meiner Stelle tun?
Vielleicht sollte ich allmählich ernsthaft erwägen, meine Komfortzone zu verlassen.
Nach allem, was ich gehört habe, beginnt dort, wo die Komfortzone endet, das Leben.
P.S:
Selbstverständlich lasse ich mich auf diesem Weg von einer erfahrenen und kompetenten Psychotherapeutin begleiten. Falls Sie in ähnlicher Situation sein sollten, gehen Sie bitte niemals alleine da rein. Und lassen Sie sich auch nicht von wohlmeinenden Laien begleiten. Begegnungen mit Anderen, wie ich sie hier beschreibe, können extrem gefährlich sein.
Wenn Sie alleine oder schlecht begleitet in so eine Begegnung gehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass diesmal nicht der andere stirbt, sondern Sie.
Und das wäre dann besonders wenig komfortabel, finden Sie nicht?
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LilithTehanu (Donnerstag, 09 Mai 2019 17:34)
wow... *virtuelle umarmung rüberschick*
an diesem Punkt war ich vor einigen Jahren. Meine Andere konnte nicht mehr in diesem Zuhause da sitzen und mir mitteilen sie hätte schon immer auch da gewohnt. Sie lag bewusstlos und verwundet da. Und liegt nun in der Obhut einer meiner spirituellen Geist-Führerinnen, bis ich bereit bin sie zu integrieren. Wenn ich genug Komfortzone gebaut habe damit sie sicher einziehen kann vielleicht.
Mir fehlen die Worte, Ihnen adäquat zu sagen, wieviel Kraft und Sanftheit ich Ihnen wünsche.
Stiller (Donnerstag, 09 Mai 2019 20:08)
Danke für die Rückmeldung und die guten Wünsche.
Ich komme gut voran, und zur Zeit bilden der Andere und ich ein sehr gutes Team.
Wie das so meine Art ist, gehe ich mit rücksichtsloser Härte und Entschlossenheit gegen den Feind vor - den Verursacher dieses Traumas und dieser Erinnerungen. Sie waren mehrere, und offenbar wurde ich für sexuellen Missbrauch und für Folter vermietet.
Die Folter integriere ich, indem ich sie erlebe. Zur Zeit verlasse ich die therapeutische Praxis immer auf Krücken.
Wie ich den Rest integriere, darüber schweige ich mich hier aus.
Der andere und ich haben beschlossen zu fusionieren - im Lauf der Zeit. Angestrebt ist also, dass wir wieder eins werden.
Dass du deine Andere in Obhut gegeben hast, kann ich gut verstehen. Und ich bin vergleichsweise sicher, dass ich weiß, was du damit meinst und wie du das gemacht hast.
Sanftheit hat in meinem Leben zur Zeit keinerlei Bedeutung. Wenn ich in diese Situationen hineingehe, dann befinde ich mich im Kriegsmodus. Ich gehe rein in die Situationen, in denen sie mich gefoltert und missbraucht haben. Ich erlebe das wieder - live und in Farbe. Wieder und immer wieder. Und jedes Mal erobere ich ein Stück von mir und von meiner Menschenwürde zurück. Es ist mit großem Abstand das brutalste und härteste, was ich je gemacht habe. Und jedes Mal wird es noch härter und noch brutaler. Todesangst und Schmerz, die totale Zerstörung von allem, was ich als Mensch bin, die Auslöschung bis zur totalen Vernichtung ... das hat die Ausdehnungen eines Gebirges. Aber ich gehe da rein und lasse nicht locker. Bis ich alles wiedererlebt und alle wiedergefunden habe. Ich lasse niemanden zurück.
Ich habe keine Ahnung, was mit anderen Menschen ist, aber ich wurde in Mordor geboren und bin dort aufgewachsen. (Ich bin kein Ork. Ich bin ein Mensch).
LilithTehanu (Sonntag, 23 Juni 2019 14:47)
Worte fehlen gerade. Ich fühle mit dir. kenne vieles davon selbst. danke für deine offenheit und den besuch. die sanftheit ist für die Kleinen gedacht, die du aus mordor herausholst.
Stiller (Sonntag, 23 Juni 2019 16:14)
die sanftheit ist für die Kleinen gedacht, die du aus mordor herausholst.
Verstanden und akzeptiert.
Herzlichen Dank dafür. Da ist sie angebracht. Das kommt an.
danke für (...) den besuch
Ich verstehe nicht. Für welchen Besuch dankst du mir?
LilithTehanu (Sonntag, 23 Juni 2019 20:18)
hm das hätt ich nicht so schreiben sollen, sorry... ich glaube ausgeführt übersetzt meinte ich eine mischung aus, "ich habe deine präsenz in meinen auftauchenden bildern wahrgenommen, auch wenn wir uns in physischer realität nicht kennen, danke dafür" und "danke dass du auf dieser erde zu besuch bist und sie mit deinen texten bereicherst damit u.a. auch ich sie lesen darf". (manchmal habe ich mühe, alle gedanken und bilder in sprache zu ordnen dann kommen manchmal solche unausgefeilten formulierungen heraus)
Stiller (Sonntag, 23 Juni 2019 20:55)
Das ist schon ok.
Ich habe den Eindruck, dass ich verstehe.
Danke für deine Erklärungen.