Sie ist Autistin. Sie erzählte mir von einem Suizid in ihrer nächsten sozialen Umgebung, den sie als Teenager erlebt hatte. Sie hatte danach eine Woche lang geschwiegen, um darüber nachzudenken. Und alle in ihrer Umgebung waren hochnervös geworden, weil sie dachten, dass sich hier der nächste Suizid anbahnte. Dabei war es ganz anders gewesen.
„Ich musste darüber nachdenken“, sagte sie mir. „Das hat nur keiner verstanden.“
Ich hörte mir das an und begriff einige Tage später, dass ich das nicht richtig verstanden hatte. Also sprach ich ein paar Wochen später das Thema nochmal an:
„Du hast mir erzählt, dass du über diesen Suizid nachdenken musstest. Aber ich habe gemerkt, dass ich das nicht richtig abgespeichert habe. Kannst du es mir bitte noch einmal erklären?“
Diese Autistin kennt das mittlerweile von mir – dass ich immer wieder mal nachfragen muss (manchmal Monate später), weil ich begreife, dass ich nicht begriffen habe. Sie ist sehr geduldig mit meiner Begriffsstutzigkeit und erklärt dann nochmal. So war es auch diesmal. Sie schilderte mir, wie sie über den Suizid nachgedacht hatte und ich verstand. Dachte ich. Ein paar Wochen später stellte ich bei der Sichtung meiner Datenbänke in mir fest, dass ich überhaupt nichts verstanden hatte. – Was war das bloß vorgegangen in dieser Frau, damals, als sie noch ein Teenager gewesen war?! Mir war es ein wenig peinlich, aber in solchen Dingen kann ich sehr hartnäckig sein. Also nochmal:
„Du hast mir das erzählt. Aber ich habe gemerkt, dass ich das nicht richtig abgespeichert habe. Kannst du es mir bitte noch einmal erklären?“
Sie erklärte es noch einmal, und dieses Mal begriff ich es tatsächlich. Ich begriff es sofort: Ich kenne diesen Zustand. Ich habe kein Wort dafür. Aber wenn ich auf diese Weise eine Thematik bearbeite, dann bin ich das Schweigen selber. Dann ist eine Felswand im Atlas-Gebirge gesprächiger als ich.
Worum geht’s?
Es gibt immer wieder Themen und Fragestellungen von existenzieller Bedeutung, über die ich mir klar werden muss. Nach so einem Suizid wäre das für mich zum Beispiel gewesen: „Will ich überhaupt leben? Und wenn ja – warum eigentlich? Und auf welche Weise?“
Wenn Fragestellungen für mich von existenzieller Bedeutung sind, dann lasse ich mich mit diesen Fragestellungen regelrecht versinken. Ich versinke in mir selber. Dann rede ich mit niemandem darüber – auf gar keinen Fall. Käme mir nicht mal in den Sinn. Aber dann denke ich auch nicht darüber nach.
Wenn ich ein Meer wäre, dann würde ich mich mit dieser Fragestellung im Meer versinken lassen – viele tausend Meilen unter die Oberfläche. Dahin, wo kein Wort und kein Gedanke hindringen kann. Dahin, wo es vollkommen still ist. Hier ist es dunkel. Hier gibt es buchstäblich nichts. Nur die Stille, mich und diese Fragestellung. Die Fragestellung wird aller Worte entkleidet, bis sie nackt und bloß dasteht. Und dann geht’s los. Teile in mir beackern sie Tag und Nacht. Diese Teile in mir haben keine Worte. Sie wüssten mit ihnen auch nichts anzufangen. Sie haben auch keine Gedanken. Jedenfalls keine, die irgendwie verbalisierbar wären.
Es ist still da unten. Es ist dunkel. Es ist sehr ruhig. Es ist ein sehr, sehr angenehmer Zustand, dort zu sein. Zeit und alles andere verliert jede Bedeutung. Minuten können wie Stunden sein und umgekehrt – völlig belanglos. Was gestern war oder morgen sein wird – ohne jede Relevanz. Jetzt gibt es nur noch mich, die Stille und diese Fragestellung. Diese Fragestellung, die sich längst von irgendwelchen Worten gelöst hat. Und die wird jetzt bearbeitet. Von welchen Teilen von mir und auf welche Weise, das weiß ich nicht. Das ist mir auch vollkommen gleichgültig. Ich weiß nur, dass ich automatisch wieder an die Oberfläche zurücktrudeln werde, wenn die Fragestellung bearbeitet ist. Dann werde ich eine Antwort haben, und die wird für mich für alle Zeiten gültig sein. Sehr wahrscheinlich erzähle ich dann niemandem davon.
Aber bis es so weit ist – das kann dauern. Das kann wirklich dauern.
In der Zwischenzeit funktioniere ich wie auf Autopilot. Sagst du, dass ich essen kommen soll, dann komme ich essen. Steht irgendeine Aufgabe an, dann erledige ich sie – schweigend, hochkonzentriert. Nötigst du mir irgendein Gespräch auf, dann werde ich dir mechanisch irgendwas antworten und dann weg gehen. Denn ich bin unterwegs in mir. Tausende Meilen unter der Oberfläche des Meeres. Da, wo die Stille herrscht. Da, wo es dunkel ist. Da, wo weder Gedanken noch Worte hindringen.
Wenn dieser Prozess erst einmal angestoßen ist, dann kann ich ihn weder steuern noch beschleunigen. Er läuft in mir ab. Wenn es soweit ist, dann werde ich wieder auftauchen. Mit dieser Antwort im Gepäck.
Nochmal, weil ich so gerne darüber schreibe:
Da unten, tausende Meilen unter der Oberfläche des Meeres – da ist es sehr, sehr angenehm. Es ist still. Es ist dunkel. Und weder Worte noch Gedanken dringen dorthin. Ich bin sehr, sehr gerne da.
Nach allem, was ich sehen kann, ist das irgendwas Autistisches.
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