Das Kinderparlament

Als ich 22 Jahre alt war, hatte ich mein Leben so gründlich an die Wand gefahren, dass ich keinen anderen Ausweg mehr sah: Ich fing eine Psychotherapie an. Und da ich wusste, dass ich nur noch sehr wenig Zeit hatte (bis ich tot sein würde) und dass buchstäblich mein Leben auf dem Spiel stand, suchte ich mir eine Therapieform aus, der ich zutraute, tatsächlich etwas zu bewirken. (Ich hatte vorher dicke Handbücher gewälzt, in denen die verschiedenen Psychotherapieformen überblicksartig vorgestellt wurden. Außerdem hatte ich viel von der üblichen Selbsthilfe-Psycho-Literatur konsumiert). Ich ließ mich bei meiner Suche von meiner Sehnsucht leiten.

 

Ich war Selbstzahler (ich kam nicht mal auf die Idee, mir irgendwas kassenbezahltes zu suchen), und da ich Student und ziemlich unvermögend war, flossen ganz erhebliche Mengen meines Nettoeinkommens in diese Therapie. Mach‘ was dran – wenn der Tod spricht, dann schweigt alles andere. Dann ist nicht mehr die Frage, wie teuer das Überleben wohl werden wird, sondern, wo und wie du an das Geld für’s Überleben kommst. Irgendwie habe ich es immer geschafft, das Geld aufzutreiben. (Aber das ist eine andere Geschichte und die soll ein anderes Mal erzählt werden).

 

Der Beginn meiner Therapie war eher verhalten und frustrierend. Egal, was ich von meiner Kindheit oder meinem aktuellen Leben berichtete – der Therapeut stellte immer dieselbe Frage:

„Und was fühlst du dabei?“

Und ich fühlte dabei immer exakt dasselbe: Nichts.

Das ist auf Dauer natürlich keine Basis für eine Zusammenarbeit in einer Psychotherapie, die auf dem Fühlen fußt. Also fing ich an zu raten, was ich denn wohl mal fühlen könnte, wenn ich gefragt wurde. Aber das war meinem Therapeuten auch nicht recht. Er wollte nicht, dass ich rumriet. Er wollte, dass ich tatsächlich was fühlte.

Tja.

Und da lag ich dann auf der Matte – und fühlte: Nichts. Und dafür gab‘ ich also mein Geld aus.

So blieb das viele Monate lang.

 

Aber ich wusste, dass das meine einzige Chance war. Also blieb ich dran.

 

Nach ungefähr einem Jahr kamen die Gefühle allmählich in Fluss. Das steigerte nicht unbedingt meine Lebenszufriedenheit. Denn das, was ich da in mir fand, gefiel mir nicht. So wollte ich mich nicht fühlen. Ich lag da also auf der Matte – und fühlte mich schlecht. Und dafür gab ich also mein Geld aus. Ich hatte gehört und gelesen (und Leute, die in dieser Sache erfahrener waren als ich, bestätigten mir das auch): Wenn du durch die schlechten Gefühle durch bist, fängt es an, dir besser zu gehen. Mir ging es aber nicht besser. Eher im Gegenteil.

 

Aber ich wusste, dass das meine einzige Chance war. Also blieb ich dran.

Immerhin rückte mir der Tod jetzt nicht mehr ganz so penetrant auf die Pelle.

Und das war ja schon mal was.

 

Ja.

Und dann kamen sie – die, die ich später „meine Kleinen“ nannte. Über viele Monate kam eins nach dem anderen. Sie wurden allmählich viele. Sie kamen aus der Dunkelheit, die mein Inneres immer noch fast vollständig ausfüllte und traten in das dämmrige Licht, in dem ich was sehen konnte. Da waren sie also. Sie brachten ihre Gefühle mit.

Sie hassten mich. Und wie sie mich hassten! Sie verabscheuten mich. Sie misstrauten mir zutiefst. Wenn sie überhaupt mit mir sprachen, warfen sie mir Verrat vor. Dialoge zwischen mir und meinem inneren Kind sahen meistens so aus:

„Wie geht es dir, mein Kind?“

„Nenn‘ mich nicht dein Kind!“

„Wie soll ich dich denn nennen?“

„Hoppelpoppel-Schreihans-Arschgesicht-vom-Hinterhof der Dritte!“

„Jetzt nicht im Ernst, oder?“

„Leck mich!“

„Wie geht es dir?“

„Sag‘ ich nicht.“

Schweigen.

„Wie geht es dir?“

„Scheiße!“

„Was brauchst du denn, damit es dir besser geht?“

„Einen Löffel mit einem ganz langen Stiel, um dich zu verkloppen!“

 

Ja, die Wunderwelt und die Wonnen des harmonischen Innenlebens. Das weiß nur der zu schätzen, der das kennt. Monatelang ging das jetzt so: Ich fühlte mich nicht nur schlecht, nein, jetzt wurde ich auch noch Tag und Nacht in meinem Inneren angepflaumt, angepöbelt, beschimpft und buchstäblich mit Scheiße beworfen. Und dafür gab ich also mein Geld aus.

 

Aber ich wusste, dass das meine einzige Chance war. Also blieb ich dran.

 

Ich weiß nicht mehr, wann es war. - Ich war zwei Jahre oder so in Therapie. Und ich hatte die Schnauze allmählich voll. Ich machte einen gaaanz langen Spaziergang und besprach mich mit meinen Kleinen. Mittlerweile waren es schon über hundert. Ich hatte aufgehört, einzelnen von ihnen Namen zu geben. Sie waren halt da und ich war da. Der Dialog ging ungefähr so:

 

Stiller: „Jetzt will ich euch mal was sagen.“

Kleine (höhnisch): „Au ja, sag‘ uns was. Wir sind ganz Ohr!“

Stiller: „So geht das nicht weiter.“

Kleine (höhnisch): „Du brichst uns das Herz! Das kannst du doch nicht machen!“

Stiller: „Meint ihr, ich hab‘ Lust, mich ständig von euch verarschen und anpöbeln zu lassen?“

Kleine (höhnisch): „Wenn dir das nicht passt, dann lass dich doch von jemand anderem verarschen und anpöbeln. Du wirst schon jemanden finden. Da sind wir ganz sicher. Wir vertrauen dir.“

Stiller: „Ihr wollt doch, dass es euch besser geht.“

Kleine: „Au ja, jetzt kommt wieder diese Tour! Gleich wirst du uns was erzählen, dass wir zusammenarbeiten müssen. Kennen wir schon. Leg mal ne neue Platte auf.“

Stiller: „Sagt mal, was habt ihr eigentlich gegen mich?“

Kleine (leise, drohend): „Willst du das wirklich wissen?“

Stiller (fest): „Ja.“

Kleine: „Dann werden wir dir das sagen: Du bist jetzt auch einer von denen geworden.“

Stiller: „Von wem bin ich was geworden?“

Kleine: „Einer von diesen Erwachsenen. Du bist jetzt auch einer von den Großen. Du kannst zum Teufel gehen.“

 

Schweigend gingen wird weiter. Ich dachte nach. Es ließ sich nicht leugnen: Ich war mittlerweile 24 Jahre alt – ich wurde allmählich ein Erwachsener. Und mit Erwachsenen hatte ich in meiner Kindheit und Jugend nur schlechte Erfahrungen gemacht. Im Zivildienst, als ich 19 Jahre alt gewesen war, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben voller Erstaunen festgestellt, dass es auch sensible Erwachsene gab.

 

„So kommen wir nicht weiter“; sagte ich meinen Kleinen.

„Oooch, wir sind ganz zufrieden. Schau nur, wie die Sonne scheint …“

„Einen Scheiß seid ihr!“

„Tatsächlich?“

„Euch geht es dreckig!“

„Mit Persil gewaschen …“

„Leute, ich werde euch jetzt mal sagen, was wir machen werden …“

„Jetzt sind wir aber gespannt!“

„Wir machen das so: Wir richten ein Kinderparlament ein.“

Meine Kleinen verstummten von einem Moment auf den anderen. Und zum ersten Mal, seit sie da waren, hörten sie in ihrer Gesamtheit aufmerksam zu. Denn die Bilder, die in uns aufstiegen waren für jeden von uns sichtbar. Und sie waren überzeugend.  

 

„Wir richten ein Kinderparlament ein“, fuhr ich fort. „Jeder von euch bekommt dort Sitz und Stimme. Und jeder, der neu dazu kommt auch. Und die, die zu klein sind, um sitzen zu können, die dürfen da liegen. Aber die bekommen auch eine Stimme. Und da dürft ihr euch hinter geschlossenen Türen beraten. Die Türen sind so dick, dass ich nichts hören kann. Ihr beratet euch so lange, bis ihr wisst, was ihr eigentlich von mir wollt. Und wenn ihr fertig beraten habt, dann macht ihr die Türen wieder auf. Ich komme rein und höre mir an, was ihr zu sagen habt.“

Meine Kleinen hatten regelrecht atemlos zugehört. Sie bestaunten die dicken Mahagonitüren des Saals, sie fuhren mit der Hand über die Teppiche.

„Und du musst dann machen, was wir sagen?“ wollten sie wissen.

„Nein. Ich muss euch zuhören. Und wenn das, was ihr von mir wollt, praktikabel ist und nicht gegen die Gesetze verstößt, dann wird das gemacht.“

„Und das musst du dann tun?“

„Das muss ich dann tun.“

 

Sie sagten kein einziges Wort mehr. Wie eine schwärmende Wolke sausten sie in den Plenarsaal und schlugen die Türen hinter sich zu:

Rumms!

Weg waren sie! Und alles in mir war still. Sehr lange. Ich brachte meinen Spaziergang zu Ende.

Kurz bevor ich zu Hause angekommen war, ging eine der Türen des Plenarsaals auf. Ein ungefähr fünfjähriger Junge kam raus und trat vor mich hin.

„Ich bin Dolmetsch“, sagte er mir. „Ich heiße so, weil ich mit allen Kindern reden kann, aber auch mit dir.“

„Ja … und?“ fragte ich.

„Comics“, sagte Dolmetsch.

„Was?“

„Wir wollen Comics.“

„Was für Comics?“

Er nannte mir einige recht bekannte Comics. Ich kalkulierte die Zahlen.

„Dafür ist kein Geld da“, sagte ich ihm.

„Dann schaff welches ran.“

Rumms! verschwand er wieder im Plenarsaal. Die Türen waren wieder zu. Es war wieder ganz still in mir.

 

Ich wusste, dass das jetzt ein ganz entscheidender Moment war. Ich wusste, dass ich jetzt liefern musste. Und schon ganz kurze Zeit später stand ich im örtlichen Supermarkt und hatte ein paar Comics in meinem Einkaufswagen. Dafür war wirklich absolut kein Geld da. Das wusste ich, und meine Kleinen wussten das. Ich würde mich also um einen weiteren Job bemühen müssen.

 

Als kleiner Junge hatte ich immer Comics haben wollen. Comics gingen mir beinahe über alles. Ich hatte nie welche bekommen. Mir war schon klar, was meine Kleinen da machten und warum. Ich schob den Wagen zur Kasse und hatte die Stimmen meiner leiblichen Eltern im Ohr, die sich zum Thema Comics äußerten. Ich schüttelte das ab: Jetzt galten meine Kleinen. Das Kinderparlament hatte gesprochen. Die Kassiererin nannte mir den Preis. Der war für meine Verhältnisse astronomisch. Gefühlt konnte man dafür eine Eigentumswohnung kaufen. Aber jetzt galten meine Kleinen.

 

Dafür gab ich also mein Geld aus.

Und ich wusste, dass es absolut notwendig war.

 

 

Das war der Anfang von etwas, was ich heute als absolut einzigartig und wunderbar erlebe. In den folgenden Jahren wurde ich noch hunderte Male vor das Kinderparlament zitiert. Speziell, wenn meine Kleinen mit der Art, wie ich unser Leben gestaltete, nicht einverstanden waren, bekam ich was zu hören. Dann zogen sie sich zur Beratung zurück und danach durfte ich antreten.

 

Unser Leben ist ein anderes geworden in all den Jahren. Das Kinderparlament gibt es noch als ständige Einrichtung, aber es hat 2007 zum letzten Mal getagt. Wir – meine Kleinen und ich – sind so gut und so permanent im Gespräch, dass sich Sitzungen hinter verschlossenen Türen erübrigen.

 

Für die, die es interessiert zitiere ich hier noch den Vertrag, den ich einige Jahre nach diesem Spaziergang mit meinen Kleinen machte. Ich habe ihn heute beim Renovieren wiedergefunden. Für die anderen: Hier ist die Geschichte zu Ende.

 

 

 

Vertrag

 

Der kleine Stiller steht immer im Mittelpunkt. Kein Lebewesen und kein Ding ist wichtiger als der kleine Stiller. Das gilt an jedem Ort und zu jeder Zeit. Das Leben des großen Stillers hat den Zweck, die Bedürfnisse des kleinen Stillers zu befriedigen.

 

Der große Stiller steht zu jeder Zeit und an jedem Ort bedingungslos auf der Seite des kleinen Stillers. Dabei gibt der große Stiller dem kleinen Stiller ohne Prüfung der Sachlage in jeder Situation Recht. Er nimmt dabei gegenüber dem kleinen Stiller alle Fürsorgepflichten wahr, die eine Mutter und ein Vater gegenüber ihrem leiblichen Kind haben. Weiterhin übernimmt der große Stiller bei Auseinandersetzungen die Funktion des Anwalts des kleinen Stillers, den er vorbehaltlos und unter Einsatz aller Energie und Erfahrung verteidigt.

 

Der kleine Stiller hat das Recht, zu jeder Zeit und an jedem Ort vom großen Stiller gehört zu werden und die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu verlangen. Der große Stiller verpflichtet sich, dabei die Perspektive des kleinen Stillers einzunehmen und alle Kräfte einzusetzen, um die Bedürfnisse des kleinen Stillers zu befriedigen.

 

Mangelnde Zeit, Kraft, Erfahrung und Mut sind kein hinreichender Grund, die Bedürfnisse des kleinen Stillers nicht zu befriedigen.

 

Verstöße gegen diesen Vertrag können vom kleinen Stiller jederzeit vor das Kinderparlament gebracht werden. Der große Stiller hat die Pflicht, dort zu erscheinen. Er hat das Recht, seine Version zu Gehör zu bringen. Über die Konsequenzen aus Verstößen gegen diesen Vertrag soll im Konsens entschieden werden. Im Streitfall entscheidet der erwachsene Stiller nach rationaler Prüfung aller verfügbaren Fakten.

 

Dem kleinen Stiller entstehen aus diesem Vertrag keine Verpflichtungen.

 

Nebenabreden bestehen nicht.

 

Veränderungen dieses Vertrages bedürfen der Schriftform.

 

Sollte sich herausstellen, dass Teile des Vertrages so formuliert sind, dass sie nicht die optimale Befriedigung der Bedürfnisse des kleinen Stillers durch den großen Stiller gewährleisten, werden sie durch Vertragspassagen ersetzt, die dem Ziel besser entsprechen. Die Gültigkeit des übrigen Vertrages wird davon nicht berührt.

 

 

 

__________________________________                             ________________________

 

Ort, Datum, Unterschrift                                                           zur Kenntnis

(großer Stiller)                                                                          (kleiner Stiller)

 

 

 

 


Und für die, die es interessiert:

Wenn ich diesen Vertrag heute lese, dann fühle ich dabei was.

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Kommentare: 5
  • #1

    Kikkulade (Sonntag, 31 März 2019)

    Vielen Dank für Deine Ausführung über Dein Inneres, von mir und meinen Kleinen. Schon wieder habe ich die gesamte Tastatur voll geweint. Das ist in Ordnung.

  • #2

    Stiller (Sonntag, 31 März 2019 20:44)

    Bitte sehr, Kikkulade,
    es ist auch für mich völlig in Ordnung, wenn du darüber weinst.

    Kannst du mir bitte schildern, durch welche Gefühle oder Gedanken deine Tränen ausgelöst wurden?
    Der Weg dorthin, wo ich heute bin, war natürlich ziemlich tränenreich.
    Aber bei der Abfassung dieses Textes haben meine Kleinen ziemlich viel gekichert.

  • #3

    June (Dienstag, 02 April 2019 16:55)

    Kleine (leise, drohend): „Willst du das wirklich wissen?“

    Stiller (fest): „Ja.“

    Kleine: „Dann werden wir dir das sagen: Du bist jetzt auch einer von denen geworden.“

    Stiller: „Von wem bin ich was geworden?“

    Kleine: „Einer von diesen Erwachsenen. Du bist jetzt auch einer von den Großen. Du kannst zum Teufel gehen.“
    ...da hab ich angefangen zu weinen und die Tränen laufen während ich die versuche den Bildschirm scharf zu sehen und tippe.
    Danke für deine Forschungsdokumentation hier.

  • #4

    Stiller (Dienstag, 02 April 2019 17:12)

    Ich bin berührt.
    Danke für die Rückmeldung.

  • #5

    Hanspeter Fischer (Mittwoch, 17 März 2021 19:24)

    Ihr Spätgeborene ihr seit zu beneiden.