Eine Kleinstadt am Rhein. In einem kleinen Hotel führe ich in einem kleinen Tagungsraum im ersten Stock ein viertägiges Seminar durch. In diesem Seminar erkläre ich den NTs in Grundzügen, wie sie funktionieren. Elf Teilnehmer - alle aus dem Vertrieb. Alles ist vertreten: zwei Selfmade-Millionäre (ein Mann, eine Frau), Unternehmernaturen, angestellte Verkäufer, junge, alte.
Die Kleinen in den Teilnehmern begreifen sehr schnell, dass man bei mir alles sagen und zeigen darf, dass ich jedoch oberflächliches Geschwätz und Psychospiele nicht dulde und freundlich aber sehr bestimmt unterbinde. So entwickelt sich rasch eine vertrauensvolle Atmosphäre, in der rauh aber herzlich das Innere angeschaut wird.
Ich habe den Teilnehmern anfangs gesagt:
„Ich werde euch einen Spiegel aufbauen, in den ihr reinschauen könnt. Was ihr da finden werdet, weiß ich nicht. Ich werde niemanden vorführen. Ich werde nur von mir selbst und von meiner Familie erzählen. Aber achtet auf euch. Lasst euch nur in dem Maße ein, wie das gut für euch ist, und wenn es euch zu heiß wird, dann zieht euch zurück.“
So arbeiten wir Stunde um Stunde sehr intensiv und sehr konzentriert. Ich erzähle, und die Teilnehmer hören zu und stellen Fragen. Pausen werden kaum gemacht. Die Teilnehmer drängen darauf, mehr und mehr und noch mehr von diesem Spiegel zu bekommen.
Ich nehme wahr, dass der eine Selfmade-Millionär anfängt, unruhig zu werden. Ihm geht das alles viel zu langsam. Er will schneller in die Tiefe. Da so eine Gruppe aber immer ein Geleitzug ist, wird niemand zurückgelassen und der langsamste bestimmt das Tempo. Also gehe ich nicht auf seine Signale ein und beantworte weiterhin Fragen und stelle Zusammenhänge her.
Der Selfmade-Millionär beginnt, mit der Verkäuferin anzubandeln, die neben ihm sitzt. Er ist Mitte fünfzig, sie ist Mitte zwanzig. Sie ist selbstbewusst und lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen (Sprachbild). Aber ich sehe, dass der Selfmade-Millionär (SMM) mal wieder eine höhere Dosis öffentlicher Aufmerksamkeit braucht. Ich unterbreche meine Erzählung:
Stiller (an den SMM gewandt): „Hör mal, die kannst du dir doch gar nicht leisten.“
Frau (nickt): „Stimmt.“
SMM (schaut kurz die Frau mit gespieltem Entsetzen an und wendet sich dann an mich): „Stiller, das tut mir jetzt aber auch weh. Ich hab‘ mir Hoffnungen gemacht.“
Stiller: „Ja, wenn du zu schwach für die Wahrheit bist, dann solltest du vielleicht was anderes machen.“
SMM (lehnt sich zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf): „Ja, was denn zum Beispiel?“
Stiller: „Häkeln oder Makramee oder sowas. Irgendwas für sanfte und schlichte Gemüter.“
SMM (verzieht sein Gesicht): „Jetzt heul ich wieder die ganze Nacht in mein Kissen.“
Stiller: „Sag‘ ich ja.“
SMM: „Wie soll ich denn da jetzt wieder rauskommen?“
Stiller: „Experten empfehlen Selbstmord.“
SMM (schaut zum Fenster neben sich): „Du meinst: Springen?“
Stiller: „Das wäre eine Möglichkeit.“
SMM (denkt nach und schüttelt den Kopf): „Das ist nicht hoch genug.“
Stiller: „Dann kommst du halt rauf und springst nochmal.“
Der Rest der Gruppe hat diesen Dialog mit freundlichem Humor und Gelächter aufgenommen. Der Selfmade-Millionär ist wieder hinreichend betankt, dass er aufmerksam weiter machen kann. Ich nehme den Faden meiner Schilderungen wieder auf – wir kommen voran, wir kommen in die Tiefe.
Am dritten Tag des Seminars sind die Grundlagen hinreichend geklärt, dass wir anfangen können, inhaltlich zu arbeiten. Es geht darum, wie man wertschätzend und konstruktiv kommuniziert.
Die Selfmade-Millionärin ist mit einem Mann verheiratet, den sie als extrem introvertiert beschreibt.
„Wie bekommt man denn so einen zum Reden?“ will sie wissen.
„Indem du ihm zuhörst“, sagte ich ihr.
„Aber der sagt doch nichts.“
„Ja, er sagt 23 Stunden und 58 Minuten am Tag nichts. Aber zwei Minuten am Tag sagt er was. Und dann ist es wichtig, dass du da nicht mit der Straßenwalze drüberfährst.“
„Wie meinst du das?“
„Zuhören, wenn er was sagt. Nicht selber reden.“
„Mach ich doch.“
Ok. Es ist Zeit für ein Statement. Ich wende mich an die gesamte Gruppe:
„Wer hier im Raum hält sich für einen talentierten Zuhörer?“
Es meldet sich niemand außer den beiden Selfmade-Millionären. Für einen Moment bin ich fassungslos: Ausgerechnet diese beiden!
Dann fange ich mich wieder:
„Ha – ha!“ quittiere ich das ziemlich laut.
Stille. Die Augen sind auf mich gerichtet.
„Leute“, nehme ich den Faden auf, „es ist jetzt nicht die Zeit, was zum Zuhören zu sagen. Dazu werde ich morgen was machen. Da wird es darum gehen, wie wir einem Kunden zuhören. Da passt das rein.“
Letzter Seminartag. Ich lade die Teilnehmer zu improvisierten Rollenspielen ein. Ich stelle in Sequenzen, die nur wenige Sekunden dauern, bestimmte Persönlichkeiten dar, und sie sollen darauf reagieren. Die Selfmade-Millionärin ergreift die Chance und bittet mich, ihren Mann zu spielen. Das tue ich.
Sie spricht mich auf die richtige Weise an:
„Sag mir doch mal, welche Musik du gerne hörst.“
Ich überlege:
„Also … Musik … Musik … höre ich kaum … Doch … Phil Carmen … ein wenig.“
Dann bin ich wieder still.
„Also das finde ich ja toll“, sprudelt die Selfmade-Millionärin los. „Musik ist was wunderbares. Ich finde das so schön, dass du dich auch für Musik interessierst.“
Schweigen.
Die Selfmade-Millionärin schaut mich an. Sie will gerade weiter reden, da bitte ich sie mit einer Geste, innezuhalten.
Sie hält inne und sagt nichts, schaut mich an.
„Das ist nicht Zuhören“, sage ich ihr.
Sie ist verblüfft:
„Wieso nicht?“
„Du hast von dir erzählt. Du hast das wenige, was ich dir angeboten habe, genutzt, um sofort und rigoros da jetzt deins drauf zu setzen.“
Stille. Ich sehe, wie es im Inneren der Selfmade-Millionärin ganz heftig arbeitet. Viele, viele Szenen mit ihrem Mann laufen vor ihrem inneren Auge ab.
„Wie geht denn Zuhören?“ will sie wissen.
Ich mache es ihr vor:
„Phil Carmen, sagst du. … Schildere mir, was diese Musik für dich bedeutet.“
Der Selfmade-Millionärin fällt buchstäblich die Kinnlade runter. Sie macht kugelrunde Augen. Sie ist pures verblüfftes Staunen - plötzliches Begreifen und Verstehen. Sie liebt ihren Mann. Das wurde während des Seminars immer wieder sehr deutlich. Sie liebt ihn heiß und innig. Aber bis jetzt hat sie ihm anscheinend noch nie wirklich zugehört.
„Ich danke dir!“ ruft sie laut aus.
Ich bin total verblüfft. Ich sehe ihr an, dass sie tatsächlich vollständig begriffen hat. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.
Schweigend verneige ich mich vor ihr.
In dem Konzern, in dem ich arbeite, sagen viele Menschen, dass meine Seminare die besten sind, die angeboten werden.
Ich selber halte meine Seminare für gut.
Manchmal sind sie auch erfolgreich.
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