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Lernen

In meinem Leben gibt es kaum etwas, was mir mehr Spaß macht und mich mehr mit Befriedigung erfüllt, als wenn ich etwas lernen kann. Das war in meinem Leben schon immer so. Dinge zu lernen, Zusammenhänge zu begreifen, tiefer zu schauen und die Welt tiefer zu verstehen, das ist etwas, was mein Leben ungemein bereichert.

 

Noch bevor ich in die Schule kam, hatte ich meine leibliche Mutter schon gelöchert: Wie näht man Knöpfe an? Wie bügelt man? Wie geht Waschmaschine? Wie geht Schleuder? Mein leiblicher Vater hatte sich in der Wohnung eine kleine Werkstatt eingerichtet. Und mit einer für ihn ungewöhnlichen Geduld erklärte er mir, wie die Dinge dort funktionierten. Ich wollte das unbedingt wissen. Und so konnte ich bereits im Vorschulalter Knöpfe annähen und bügeln, mit einem Bohrfutterschlüssel umgehen und in den Schwingschleifer neues Papier einspannen und ihn bedienen. Ich wollte dies, das und jenes wissen. Ich fragte, fragte, fragte.

Und natürlich habe ich ganz viel gelesen.

 

Selbstverständlich hat sich dann das System Schule irgendwann meiner angenommen. Das muss ja so sein. Und natürlich hat sich dieses System nach besten Kräften bemüht, mir die Freude am Lernen auszutreiben. Meine Fragen und meine Neugierde interessierten dort buchstäblich niemanden. Im Gegenteil: Schon damals war „Schule“ nicht mehr Schule im eigentlichen Sinn, sondern Lernfabrik. Ich sollte nun ein Teil dieser Fabrik werden. Ich sollte funktionieren wie ein Zahnrad in einer Maschine. Da konnte alles, was an mir lebendig und neugierig war, nur stören. Daher wurde nach dem Motto „Stumpf ist Trumpf!“ mit einem ungeheuren Aufwand an Zeit, Gewalt, Personal und Geld versucht, mir das Staunen und Lernen auszutreiben und mich zu einer braven, angepassten und gut funktionierenden Prüfungsbestehmaschine zu drillen.

 

Hat nicht geklappt. Ich staune immer noch. Ich lerne immer noch mit Begeisterung. In dieser Hinsicht bin ich wie ein Unkraut – da können die beamteten Gärtner und die gesamte Kultusbürokratie sich bemühen, wie sie wollen: Sie können das Unkraut jäten, sie können mit Gift anrücken, sie können Flammenwerfer einsetzen und Beton über alles gießen … das Unkraut blüht, wächst und gedeiht. … Ich komme aus dem Staunen nicht raus.

 

Heute bin ich zum Glück in der Lage, Tätigkeiten, bei denen ich nichts lernen kann, rundheraus abzulehnen. Wenn ich bei irgendwas nichts lernen kann, dann mach ich’s in aller Regel auch nicht. Natürlich lässt sich bei so ziemlich allem was zum Staunen finden – beim Gemüseschälen, beim Aufräumen und Putzen, beim Wechseln von Glühbirnen und auch bei vielen anderen Aufgaben, die täglich so anfallen. Aber dass ich dabei nichts (oder nur sehr ineffizient) lernen kann, war zum Beispiel einer der Hauptgründe, dass ich irgendwann das Fernsehen aufgehört habe. Oder Smalltalk oder irgendein Zeitvertreib … wozu sollte ich das tun, wenn’s nichts zu lernen gibt?

 

Es geht mir dabei nicht so sehr darum, irgendwelches geistloses Faktenwissen anzuhäufen. Eines meiner Spezialinteressen ist zum Beispiel „Geschichte – speziell Militärgeschichte“. Aber ob im Jahre 1723 Karl der achthundertneunundzwanzigste, König von Niederösterreich, Großböhmen und Kleinkrotzingen, Marie-Louise, die achte Tochter von König Alfons, dem Viertel vor Zwölften von Lummerland geheiratet hat … wen interessiert’s?!

Es geht mir beim Lernen von Geschichte immer darum, Zusammenhänge zwischen den Fakten herzustellen und zu begreifen, warum die Dinge sich so entwickelt haben und nicht anders. Dabei kann ich regelrechte Faktenberge auftürmen.

Aber immer will ich wissen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten sich die Dinge entwickeln, was Ursache und Wirkung sind, und was die Mechanismen sind, auf die sich das alles zurückführen lässt. Ich will verstehen. Ich will begreifen. Ich will tiefer gucken. Die reinen Fakten stehen dabei nicht im Vordergrund.

 

Staunen ist meine Art, in der Welt zu sein. Ich will das an einem einfachen Beispiel verdeutlichen, das mich schon seit über einem Jahrzehnt beschäftigt. Eines meiner Spezialinteressen ist „Theoretische Physik“. Mir die Sprache der Mathematik beizubringen, um die Welt zu verstehen – damit kann ich mich Stunde um Stunde beschäftigen. Aber sag mir mal einer eins:

In der klassischen Mechanik wird Beschleunigung definiert als das Verhältnis von Entfernung zum Quadrat der Zeit. Was bitte um alles in der Welt ist eine Quadratsekunde? Was ein Quadratmeter ist, das weiß ich. Aber eine Quadratsekunde?! Und wenn ich in den Bereich der Elektrodynamik gehe, dann werde ich sogar mit einer Kubiksekunde konfrontiert. – Ein Würfel aus Zeit also. Total faszinierend! Wie sieht sowas aus? Was ist das?!

Es ist für die Kleinen in mir einfach herrlich, solche Dinge stunden- und tagelang zu bestaunen.

 

Natürlich gibt es auch ganz vieles, was mich nicht interessiert und was gar kein Staunen in mir auslöst. Medizin ist zum Beispiel so ein Bereich. Dafür kann ich mich absolut nicht erwärmen. Oder Wirtschaftswissenschaften (obwohl ich das studiert habe): Nichts für mich.

Der Grund ist recht simpel: Beinahe nie kann ich in diesen Fächern die Wissenschaftlichkeit bei der Arbeit oder bei den Forschungsergebnissen erkennen.

 

Die Suche nach Fakten und Details kann ich regelrecht zum Exzess treiben. Ein einfaches Beispiel aus der Militärgeschichte:

Mich hat schon immer interessiert, woran es gelegen hat, dass Napoleon so ziemlich jede Schlacht gewonnen hat, und warum ihm das ausgerechnet bei Waterloo nicht gelang.

Einer der Hauptgründe für Napoleons Niederlage sehen Experten darin, dass er viel zu spät angreifen ließ. Ok, nehme ich zur Kenntnis, kann ich nachvollziehen. Aber warum um alles in der Welt ließ er so spät angreifen, obwohl seine Männer schon seit Stunden bereit zum Gefecht standen? Er wollte warten, bis der regendurchweichte Boden hinreichend getrocknet war, dass er seine 84 12-Pfünder-Kanonen (unter General Saint-Maurice), die in seinem Zentrum seine Hauptwaffe sein sollten, frei manövrieren konnte. Ok. Kann ich nachvollziehen. Napoleon war von seiner Ausbildung her Artillerieoffizier und hatte eine ausgesprochene Schwäche für diese Waffengattung. (Ich habe auch herausgearbeitet, wie so eine Kanone bedient wurde, welche Reichweite sie hatte usw.) Aber wie schwer war so eine Kanone? Wie tief sank so ein Geschütz denn ein, wenn der Untergrund matschig war? Antwort: Über 550 Kilogramm wog so eine Kanone. Aber ich weiß nicht, wie tief sie einsank. Also ist die nächste Frage: Wie breit waren die Räder, und waren sie mit Eisen bereift? (Daran recherchiere ich zur Zeit. – Und wenn ich damit fertig bin, kommt vermutlich das nächste Detail, das mir noch nicht klar ist).

 

 

Und dann gibt’s da noch die Menschen, die anders in der Welt sind als ich. Denen begegne ich bei meiner Arbeit relativ häufig. Diese Menschen staunen nicht. Sie können sich für’s Lernen nicht begeistern. Sie lernen, wenn sie müssen oder wenn es eine unmittelbare praktische Relevanz für sie hat. Und wenn sie es nicht müssen oder sie nicht direkt erkennen können, wie sie das Gelernte praktisch umsetzen können, dann lernen sie eben nichts. Lernen ist für sie Mühe und Anstrengung, es sei denn sie lernen durch die Erfahrungen, die sie machen oder sie erzielen unmittelbare Resultate beim Lernen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie ein Buch nur anfassen, wenn’s ein Kochbuch ist oder ein reich bebilderter Reiseführer. Informationen nehmen sie bevorzugt über’s Fernsehen auf oder über YouTube.

 

An dieser Art, in der Welt zu sein, ist in meinen Augen nicht Schlechtes oder Falsches. Aber ich stelle immer wieder fest, dass ich emotional keinen Zugang bekomme, zu dieser Art, in der Welt zu sein. Das ist mir innerlich so fremd, dass ich es nur bestaunen kann.

 

Womit beschäftigen sich diese Menschen die ganze Zeit, wenn’s nichts zum Staunen gibt? Wie lebt es sich in einer Welt, in der Lernen Mühsal ist und Freizeit und Erholung vor allem bedeuten, mal nichts mehr zu lernen? Ich weiß es nicht.

 

Vielleicht werde ich auch das irgendwann lernen und begreifen.

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Kommentare: 2
  • #1

    Neo-Silver (Samstag, 23 Februar 2019 15:21)

    Das was du schreibst kann ich gut nachvollziehen. Dies ist auch meine Art in der Welt zu sein.

    Staunen kostet Energie, Energie, welche viele Menschen nicht mehr investieren wollen. Das ist sehr schade, denn die Welt benötigt mehr "Stauner" und bietet so viele milliarden Möglichkeiten auch staunen zu können.

    [...]Informationen nehmen sie bevorzugt über’s Fernsehen auf oder über YouTube."[...]
    Ich möchte dies noch einmal differenzieren, weil es sowohl im Fernsehen, als auch auf Youtube sehr wohl, sehr hochwertiges Material gibt, welches das eigene Wissen zu erweitern vermag.

    Ohne das Internet und diverse Youtube-Kanäle wäre mir einiges an Wissen verwehrt geblieben - wenn ich dabei u.a. an die vielen Vortragsreihen von Wissenschaftlern denke, welche ich wohl alle nie live erleben könnte aber durch dieses Medium trotzallem Zugriff darauf habe.

    Aber natürlich dominiert die Unterhaltungsindustrie, was den Bedarf der nicht staunenden Gesellschaft eindrucksvoll widerspiegelt.

  • #2

    Stiller (Samstag, 23 Februar 2019 17:51)

    Hallo Neo-Silver,

    du schreibst:
    "Staunen kostet Energie, Energie, welche viele Menschen nicht mehr investieren wollen."
    Jede Lebensregung kostet Energie. Mit anderen Worten: Jemand, der seine Zeit nicht mit Staunen verbringt, der investiert seine Energie anders. Ich mache dafür z.B. keine Städtereisen oder Selfies.

    Ich habe noch nie einen Säugling erlebt, der nicht staunend in der Welt war.
    Mein Verdacht ist, dass das Staunen sich bei den meisten Menschen nicht einfach so verliert, sondern dass es ihnen mit brutaler Gewalt ausgetrieben wird. Aber bislang ist das nur eine Hypothese.

    Du schreibst:
    "Ich möchte dies noch einmal differenzieren, weil es sowohl im Fernsehen, als auch auf Youtube sehr wohl, sehr hochwertiges Material gibt, welches das eigene Wissen zu erweitern vermag."
    Ich nutze YouTube auch, um was zu lernen. Wenn ich mir allerdings anschaue, welche Videos welche Anzahl von Klicks generieren, ist mein Eindruck, dass die meisten Menschen YouTube anders nutzen. Das ist vermutlich das, was du meinst, wenn du schreibst:
    "Aber natürlich dominiert die Unterhaltungsindustrie"