Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, studiert seit einigen Monaten. Und so dreht sich das meiste, was sie mir erzählt, um irgendwelches Unizeug. Sie erzählt viel, sie erzählt gerne, sie erzählt oft (sehr oft!), und ich fühle mich regelmäßig vollumfänglich ins Bild gesetzt.
Es interessiert mich nicht, aber man kann ja nicht alles haben.
Sie ist neurotypisch, und da ist es ihr wichtig, andere an ihrem Leben teilhaben zu lassen – egal, ob es sie interessiert oder nicht. Ich bin Autist. Mir ist sowas eher fremd. Aber bitte sehr - so sind wir nun mal in der Welt: Der eine redet und leidet, wenn der andere dazu schweigt. Und der andere schweigt und leidet, wenn einer dazu redet. Das gehört vermutlich zu den Dingen, mit denen wir uns abfinden müssen.
Womit meine stille Welt in den letzten Tagen besonders geflutet wird, sind „Beratungskonzepte“. Da kennen sich die Lehrpersonen an der Uni offenbar aus. In Beratung sind sie fit, da sind sie kompetent, da schmeißen sie mit Wissen und Weisheit geradezu um sich.
Nun gehört Beratung zu meinen Spezialinteressen und zu meinen Kernkompetenzen. Seit Jahrzehnten beschäftige ich mich buchstäblich jeden Tag intensiv damit. Mein dickes Handbuch dazu habe ich in drei Exemplaren, damit ich immer eins in der Nähe habe – eins liegt auf meinem Schreibtisch (immer), eins liegt neben meinem Bett und das dritte liegt in einer Plastikkiste, mit der ich von Seminar zu Seminar fahre. Das macht mich jetzt nicht zu einem guten Berater. Aber es zeigt, dass mir diese Thematik sehr wichtig ist.
Und dann höre ich mir an, was die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, zu berichten hat. Es hagelt Wörter, die in meiner Wirklichkeit ohne jede Bedeutung sind: Klientenzentriert, Neurose, integrativer Ansatz, Wunderfrage, ressourcenorientiertes Arbeiten, systemischer Blick, Authentizität, Kongruenz der Beziehung, Beratungskonzept. Und so weiter. Sie scheinen eine Menge über die Beratung zu wissen, diese Lehrkräfte.
Und wenn ich mir die vielen Handbücher anschaue, die hier auf einmal auftauchen, dann geht das so weiter:
Der theologische Ansatz, der pädagogische Ansatz, die Geschichte der Beratung, Beratung in Abgrenzung zu Therapie, ach, ich hab’s vergessen. – Ich hab‘ mir die Inhaltsverzeichnisse angeschaut und alleine die gehen über viele Seiten, doch es huscht nur so an mir vorbei. Es scheint buchstäblich alles vorzukommen, was man sich denken kann.
Interessiert mich alles nicht. Das mag ja alles stimmen, was da steht, und das meiste ist mit Sicherheit klug und gescheit. Die, die diese Handbücher schreiben, geben sich ja viel Mühe und verfügen mit Sicherheit über viele Kenntnisse. Aber das, was die da schreiben, ist in meiner Welt nicht ausschlaggebend. Zu mir kommen Menschen mit so ziemlich jeder Thematik, die man sich vorstellen kann.
· Menschen, die sich umbringen wollen.
· Menschen, die andere umbringen wollen.
· Menschen, die sich Kerben in den Körper schnitzen, bis sie aussehen wie ein Totempfahl aus der Südsee.
· Menschen, die ihre Kinder missbrauchen.
· Menschen, die als Kind missbraucht wurden.
· Menschen, die in Beziehungen leben, die sie als sehr destruktiv erleben.
· Menschen, die sich extrem selbstschädigend verhalten.
· Menschen, die sich ihre Lebensfreude sabotieren und am Erfolg hindern
· Menschen mit Suchtthematiken
· Menschen … ja, Menschen halt. Menschen wie du und ich.
Jo.
Und jetzt?
Schlage ich rasch in einem Handbuch nach, welcher Ansatz jetzt der geeignete wäre?
Wähle ich jetzt mit Bedacht und Professionalität die richtige Technik?
Achte ich darauf, authentisch zu sein, während ich gleichzeitig die Bedürfnisse des Klienten in den Mittelpunkt stelle und eher an seinen Ressourcen als an seinen Problemen arbeite?
Das ist ja alles nicht falsch.
Aber so funktioniert das in meiner Welt nicht.
Solche Ansätze denken sich akademische Hirntiere aus, die versuchen, aus dem Leben eine Technik zu machen. Das ist so, als ob ein Mensch glauben würde, er wäre der beste Weinkenner, den es gibt, weil er jedes Buch zu diesem Thema gelesen hat (er hat auch einige selbst geschrieben), und weil er jede Kellerei und jede Technik der Winzerei kennt. Aber er kann weder einen Wein herstellen noch einen Wein genießen. Er kann nur darüber reden.
Worauf kommt es in meiner Welt bei der Beratung an?
1
Kennst du deine tiefsten Ängste?
(Und damit meine ich nicht: „Hast du mal was über sie gelesen oder mit anderen über sie geredet?“, sondern: „Hast du sie so wiedererlebt, dass du sie jederzeit in dir fühlen kannst – in all ihrer Schwärze und Vernichtung?“ Und ich meine damit tatsächlich deine tiefsten Ängste, nicht die Ängste, die du vorschiebst, um diese Ängste nicht fühlen zu müssen).
2
Weißt du, wo sie herkommen und welche Dynamik sie haben?
3
Weißt du welche tiefsten Ängste dein Gegenüber antreiben und welche Dynamik sie haben?
4
Bist du in der Lage, dich zu lieben?
(Und zwar so, wie du tatsächlich bist und nicht
a) so wie du sein solltest oder gerne wärst
b) so deformiert, wie du aus deiner Kindheit hervorgegangen bist)
5
Bist du in der Lage, dich in der Realität zu verankern und dort zu bleiben, egal, was da jetzt von vorne kommen wird?
(Dazu gehört unter anderem: Kannst du Gefühl und Kunstgefühl sicher unterscheiden?)
Das ist nichts, was du einmal erreichst und dann für alle Zeit hast, sondern etwas, was du immer wieder verlierst und dir immer wieder von neuem erobern musst. Daran musst du ein Leben lang arbeiten.
In dem Maße, wie du bei den Punkten 1 bis 5 voran schreitest, wirst du als Berater sehend. Beinahe alle Berater, die ich bislang kennengelernt habe, erlebe ich als blind. Sie nutzen ihre Techniken und Konzepte so, wie ein Blinder seinen Taststock benutzt: Sie stochern sich damit mühsam und zögernd in einem unwegsamen Terrain voran, das ihnen völlig unbekannt ist. Und so sieht der Beratungsprozess, den ich kennengelernt habe, beinahe immer aus: Ein Blinder führt einen Blinden.
Wenn ein Blinder sich einem Blinden anvertraut, der einen Taststock hat, dann ist das erst mal nichts Schlechtes. Und wenn der Blinde mit dem Taststock weiß, wie man damit umgeht und viel Erfahrung mit dem Herumtasten hat, dann ist das noch besser. Aber ich denke, dass da wesentlich mehr geht.
Es ist gut, wenn du als Berater sehr professionell die notwendigen Techniken beherrschst und über einen gut sortierten kommunikativen Werkzeugkasten verfügst. Aber ohne die Punkte 1 bis 5 bist du blind, und du wirst trotz aller Technik fast immer ein Teil des Problems und nur sehr selten (wenn überhaupt) Teil der Lösung sein.
Wenn du als Berater arbeitest, dann bist du das Werkzeug und nicht die Technik, die du einmal gelernt hast. Die zentrale Frage ist in meiner Welt also nicht: „Was ist deine Technik (und wie gut beherrschst du sie)?“, oder „Was ist dein Beratungsansatz?“ sondern ziemlich schlicht:
Wer bist du?
Und die Antwort darauf findest du nicht in Büchern. Nicht mal ansatzweise.
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Neo-Silver (Sonntag, 20 Januar 2019 13:43)
Implizierst du damit auch, dass ein Berater zuerst einmal die von dir vorgeschlagenen 5 Punkte absolviert und anteilig bewältigt haben muss um ein "guter"*1 Berater zu sein?
Kann ein Berater, welcher Punkte 1-5 zwar bei sich identifiziert hat, sie aber nicht/noch nicht bewältigen kann, trotzdem ein guter Berater sein?
*1 "gut" soll dabei definiert sein, als ein Berater, welcher, wie du es beschreibst, Teil der Lösung und nicht des Problems ist
Stiller (Sonntag, 20 Januar 2019 14:47)
1
Die Punke 1 - 5 zu "absolvieren" geht nicht. Das ist ein Prozess, der nie endet.
2
Daraus folgt, dass es nicht darauf ankommt, ob du diese Punkte "bewältigt" hast, sondern in welchem Maße du vorangekommen bist.
3
In dem Maße, wie du vorangekommen bist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass du als Berater "gut" bist.
4
Egal, wie "gut" du als Berater bist, du wirst immer sehr begrenzter und fehlbarer Berater sein.