Da ich vergleichsweise viel Presse lese, erlebe ich es vergleichsweise häufig, dass ich mit Worthülsen wie diesen bombardiert werde:
Querdenker, einsamer Rufer, unbequemer Mahner, Vordenker, jemand, der gegen den Strom schwimmt, einsamer Wolf … und so weiter.
Es kommt aber auch vor, dass Kollegen in Projekten sich mir so vorstellen:
„Ich bin Querdenker. Damit macht man sich keine Freunde, aber ich war schon immer so.“
„Ja“, denke ich dann seufzend, „Das war vermutlich schon immer so.“
Was ist meine Sicht der Dinge?
Diese Worthülsen – Querdenker und so weiter – sind Chiffren für gesellschaftlich akzeptierte Rollen, die ein bestimmtes Verhalten nach sich ziehen. Diese Rollen gibt es anscheinend, seit es Menschen gibt.
In früheren Zeiten war der „Querdenker“ zum Beispiel der Hofnarr. Seine Aufgabe war es, dem Herrscher zu sagen, was Sache war. Er war der einzige, der das durfte. Der „einsame Rufer“ war der Eremit in der Wüste oder Diogenes in der Tonne. Der „unbequeme Mahner“ war irgendein gottdurchwirkter Mann mit einflussreicher Stellung am Hof. Er bekleidete kein hohes Amt sondern war z.B. irgendeines Adeligen Beichtvater. Dieser „unbequeme Mahner“ war dann immer fest im Glauben, streng in der sittlichen Ansicht, und er trug bevorzugt ein Büßergewand unter seiner Kleidung und machte ständig das dazu passende Gesicht.
Und so weiter.
Heute, wo der Adel nicht mehr so sehr das Sagen hat, haben wir eben keine Hofnarren mehr, sondern Querdenker. Auch die Beichtväter der Regierenden haben an Einfluss verloren. Dafür werden dann halt „unbequeme Mahner“ aus dem Hut gezaubert.
Alles ein Brei, alles dasselbe.
Das sind alles Rollen, die eine Gesellschaft zu vergeben hat, die so ziemlich alles ertragen kann, aber nicht, dass jemand anders ist. Wenn jemand anders ist, dann passt er entweder in eine dieser vorgefertigten Rollen, oder er bekommt Druck. Mit der vorgeblichen Freiheit, die die „Querdenker“, die „unbequemen Mahner“ und wie sie alle heißen, für sich reklamieren, ist es aber wirklich nicht weit her.
Freiheit geht anders.
Vor einiger Zeit stellte sich mir ein Seminarteilnehmer vor:
„Ich schwimme immer gegen den Strom.“
Dazu machte er das passende Gesicht und zeigte die dazu passende Körperhaltung.
„Ja“, dachte ich seufzend, „Du schwimmst gegen den Strom. Selbstverständlich.“
Im Seminar wurde mir deutlich, dass er wie viele „Gegen-den-Strom-Schwimmer“ für sich in Anspruch nahm, besonders frei, kreativ, wirkungsvoll und irgendwie anders zu sein. Da das nicht der passende Raum dafür war, habe ich das nur zur Kenntnis genommen und nicht kommentiert.
Freiheit geht anders. (Kreativität und anders sein auch).
Wer gegen den Strom schwimmt, ist Gefangener dieses Stroms, so wie alle anderen auch. Es ist egal, in welche Richtung du in diesem Strom schwimmst, Strom bleibt Strom. – Erst, wenn du aus dem Wasser steigst und dich umschaust und beginnst, die vielen Möglichkeiten zu realisieren, die dir die Welt außerhalb dieses Stroms bietet, dann entwickelst du allmählich eine Ahnung davon, was Freiheit wirklich ist.
Und die Querdenker:
Wenn die anderen definieren, was längs ist und du – durch die Rolle, die du dir zuschreibst – gezwungen bist, dich so zu dieser Denkrichtung zu positionieren, dass du „quer“ dazu stehst … Was für eine armselige Einschränkung deiner Möglichkeiten! Freiheit geht anders.
Ich gebe Seminare, die diese Thematik aus einer anderen Sicht behandeln. Dort bespreche ich mit den Teilnehmern das, was die Transaktionsanalyse den „unbewussten Lebensplan“ nennt. Gerne schockiere ich Teilnehmer, die sich für frei halten in diesem Seminar schon bei der Vorstellungsrunde.
„Ich bin der Gerrit“, stellte sich mal einer vor, „ich bin jetzt 60 Jahre alt, und ich werde mit 65 aufhören zu arbeiten und in Rente gehen.“
„Nein“, unterbrach ich ihn.
Er wollte gerade weiter sprechen, da hörte er, was ich gesagt hatte.
„Wie … nein?“ wollte er wissen.
„Ganz nein“ beschied ich ihn. „Du wirst nicht in Rente gehen. Andere vielleicht schon, du nicht.“
„Doch“, entgegnete er verblüfft, „das habe ich schon alles geplant. Ich werde dann …“
„Nein.“
„Wieso nicht?“
„Das werden wir uns in diesem Seminar anschauen.“
Im „unbewussten Lebensplan“ haben wir unter anderem festgelegt, ob wir irgendwann aufhören zu arbeiten oder nicht. Und wenn du weißt, worauf du zu achten hast, kannst du schon in den ersten Sekunden deiner Begegnung mit einem Menschen mit ziemlicher Sicherheit sagen, ob sein unbewusster Lebensplan zulässt, dass er sich irgendwann ausruht oder nicht.
Vor einem Jahr hatte ich meinen letzten Kontakt mit Gerrit. Wir telefonierten. Er war gerade siebzig Jahre alt geworden. Er sprach davon, dass er „jetzt aber wirklich und endgültig“ in Rente gehen würde. Ich wünschte ihm viel Glück und Erfolg dabei.
Ich kenne nur sehr wenige Menschen, die ich für weitgehend oder einigermaßen frei halte.
Die anderen folgen den Mustern, die sie in sich haben. Diese Muster liegen in ihrem Herzen in einem Tresor. Und wenn sie da nicht hinschauen und nicht lernen, diesen Tresor zu öffnen, dann bleiben diese Muster wirksam, bis sie sterben. Da können sie machen, was sie wollen.
Wer seinen Mustern folgt, der ist nicht frei. Der läuft wie ein Hamster in einem Rad. Und möglicherweise hat er sein ganz spezielles „Querdenker-Hamsterrad“, original mit der serienmäßigen Ausstattung von „eigene Meinung“ und „so war ich schon immer“. Und blau ist sein Hamsterrad auch noch. Er schaut sich um und sieht, wie alle anderen in einem roten oder in einem gelben Rad laufen und keines von ihnen ist ausgestattet mit „eigene Meinung“ und „so war ich schon immer“. Der Querdenker sieht das, rennt mit aller Kraft in seinem Rad und schwärmt schweigend von seiner Individualität und von seiner Freiheit.
Ich sage, dass es nicht darauf ankommt, welche Farbe das Rad hat, in dem du läufst. Da meine Arbeit mich mit wirklich vermögenden Leuten zusammenbringt, kenne ich genug Menschen, die es sich sogar leisten können, in einem goldenen Hamsterrad zu laufen. Manche von ihnen sind so reich, dass sie selbst das noch steigern können und ernsthaft darüber nachdenken, einzelne Speichen aus Platin einzubauen.
Alles ein Brei. Alles dasselbe.
Wenn du nicht lernst, dein Hamsterrad anzuhalten und auszusteigen, dann ist es ziemlich egal, was du tust. Da kannst du Querdenker oder Längsdenker sein, du kannst das schwarze Schaf sein oder das weiße Schaf, du kannst der einsame Wolf sein oder der gesellige Wolf, der unbequeme Mahner oder der einsame Rufer … nimm, was du willst – alles derselbe Quatsch, alles vorgefertigte Rollen, die für die bereit stehen, die beschlossen haben, ihr Leben im Hamsterrad zu verbringen.
Freiheit geht anders.
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Murmur (Samstag, 12 Januar 2019)
Du beschreibst Eigenbilder und Fremdbilder und
gesellschaftliche Rollen, die sich dadurch besetzen lassen.
Du beschreibst Konzepte.
Richtig:
Gegen den gesellschaftlich anerkannten "Strom zu schwimmen"
ist ebenfalls ein Konzept.
Deine Schlussfolgerungen jedoch stelle ich in Frage:
Konzepte = Unfreiheit (Hamsterad)
Konzeptlosigkeit = Freiheit
Grund:
Konzeptlosigkeit per se entzieht sich jeglicher Beurteilung,
da ihr sämtliche Eigenschaften für eine Beschreibung fehlen.
FREIHEIT ist ebenfalls ein Konzept.
Ergo:
Konzeptlosigkeit bedeutet nicht Freiheit.
Freiheit geht anders.
Stiller (Samstag, 12 Januar 2019 12:06)
Danke für diesen Hinweis.
Vermutlich habe ich mich missverständlich ausgedrückt.
Die Hamsterräder, die ich hier beschreibe, suchen sich die Menschen nicht bewusst, sondern unbewusst aus. Sie folgen eisern bestimmten Programmen, die sie in der Kindheit angelegt und im Tresor versteckt haben.
Es geht also nicht um Konzepte, die wir bewusst wählen und auch ändern können, sondern um Programmierungen, die uns nicht bewusst sind. Diese Programmierungen bestimmen so ziemlich jeden Teil unserer Lebenswirklichkeit - Kleidung, Sprachverhalten, Körperhaltung, Denken etc.
Sich seiner Programmierungen bewusst zu werden, sie zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern oder zu löschen kann Freiheit bedeuten. Seinen Programmierungen zu folgen nicht.