Wenn ein Mensch am Neurotypischen Syndrom (NT) leidet, dann neigt er dazu, in seiner eigenen Welt zu leben. In der letzten Zeit habe ich in der Feldforschung wieder einige eindrucksvolle Beispiele dafür sammeln können.
1
Mehrfach wurde ich jetzt von unterschiedlichen NTs angesprochen oder angeschrieben:
„Herr Stiller, haben Sie meine letzte Mail bekommen?“
Gerne kam das auch in der vorwurfsvollen Version:
„Ja, haben Sie denn meine letzte Mail nicht gelesen, Herr Stiller?!“
Das unscharfe Denken, das sich in dieser Frage verbirgt, ist für mich erschütternd.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie es mir ging, als ich das erste Mal so eine Mail bekam.
Zuerst dachte ich nur:
„???“
Und dann:
„WTF ?!“
Inzwischen habe ich sowas zum einen schon häufiger erlebt, und zum anderen weiß ich ja, dass NTs sehr häufig dazu neigen, unscharf zu denken. Die Neigung zum unscharfen Denken ist ja eines der Hauptcharakteristika, an denen man NTs erkennen kann.
Durch Nachfragen habe ich herausarbeiten können, dass die Fragesteller sich bei ihrer Fragestellung buchstäblich nichts gedacht haben, was über ihre eigene kleine Welt hinausgegangen wäre.
Dem ersten NT, der mich das per Mail fragte, habe ich sachlich korrekt auf seine Mail geantwortet:
„Ich habe keine Ahnung.“
Ich wollte ihn damit auch einladen, mal über das nachzudenken, was er mir da geschrieben hatte. Aber er hat die Einladung nicht als solche verstanden, sondern zum Anlass genommen, in die soziale Kommunikation zu gehen. Wen wundert’s?
Kurz darauf kam in einem ganz anderen Zusammenhang von einem ganz anderen NT die gleichlautende Frage. Er traf mich beim Mittagessen.
„Hast du meine letzte Mail bekommen?“
Dem habe ich etwas ausführlicher geantwortet, denn wir redeten ja miteinander:
„Ich habe zahlreiche Mails von dir bekommen. Ich weiß aber nicht, welche für dich „die letzte“ ist.“
„Na, meine letzte eben. Die von vorhin.“
„Ich habe zahlreiche Mails von dir bekommen. Eine von denen ist für mich die letzte. Aber ich weiß nicht, ob das dieselbe ist, die für dich die letzte ist.“
NTs neigen dazu, in ihrer eigenen Welt zu leben.
Es fällt ihnen häufig schwer, sich in andere hineinzuversetzen bzw. wahrzunehmen, dass andere von ihnen getrennte Personen sind.
2
Die Welt, in der ich lebe, ist voller Bilder. Alles ist bei mir in Bildern codiert: Gedanken, Gefühle, Ideen, Ahnungen, Absichten, Vorbehalte … nimm, was du willst – wenn ich kein Bild dazu habe, kann ich es nicht wahrnehmen. Das war bei mir noch nie anders, und ich habe zu wenig Vorstellungsvermögen, um mir auszumalen, wie das ist, wenn jemand seine Welt anders codiert als ich. Ich weiß nur, dass die meisten Menschen, denen ich begegne, ihre Welt anders kodieren.
Es gibt zahlreiche NTs, die mich so gut kennen, dass sie wissen, dass ich Bilder brauche, um in mir was zu finden. Dennoch sehen Dialoge mit ihnen häufig wie folgt aus. (Ich wähle ein willkürliches aber authentisches Beispiel):
„Stiller, hast du meine Sportschuhe gesehen?“
„Weiß ich nicht. Welche Farbe haben sie denn?“
„Na, die, die ich immer anhabe, wenn ich nach dem Büro joggen gehe.“
„Farbe?“
„Na, diese mit den breiten Schürsenkeln, die ich zu Weihnachten bekommen habe.“
„Farbe?“
„Die müssen doch irgendwo hier sein!“ (Der NT beginnt in seinen Sachen zu suchen. Er sucht ein, zwei Minuten. Dabei murmelt er unablässig vor sich hin. Dann fragt er erneut):
„Und du bist ganz sicher, dass du sie nicht gesehen hast?“
„Farbe?“
„Die sind vorne so breit und haben hinten an den Hacken diese Laschen zum Hochziehen.“
„Farbe?“
(und so weiter)
Die NTs kennen das schon von mir. Wenn es sein muss, stelle ich eine Frage auch zehnmal oder zwanzigmal im immer gleichen sachlichen Tonfall. Manchmal wechseln sie dann die Perspektive, manchmal nicht.
3
Gestern wollte ich zum Autistenforum, das Professor Vogeley in Köln für uns organisiert. Es fand wie immer auf dem riesigen Gelände der Uni-Klinik statt. Aber wir trafen uns in einem anderen Raum als sonst. So stand ich im Erdgeschoss eines der zentralen Gebäude der Uni-Klinik vor einem der Wegweiser. Ich drehte ratlos den Lageplan in der Hand, den ich mir ausgedruckt hatte. Mein Orientierungssinn (egal in welchem Gelände) ist ungefähr so gut wie eine Kokosnuss eckig ist. Ganz viele Leute huschten redend an mir vorbei. Plötzlich sprach mich eine Frau von der Seite an:
„Kann ich Ihnen helfen?“
Ich nahm einen Ohrenstöpsel raus und schaute sie freundlich an:
„Vielleicht können Sie das. Ich muss in das Haus 42.“
„Oh, da müssten Sie mir jetzt sagen, was da sein soll.“
„Da soll irgendein Forum sein.“
Das Gesicht der Frau hellte sich schlagartig auf:
„Ach, das Haus 42, ja, das kenne ich wie meine Wespentaille.“
(Das sagte sie tatsächlich so. Ich schaute sie an. Sie hatte das nicht als Scherz gemeint. Sie hatte „Westentasche“ sagen wollen, daraus war dann aber „Wespentaille“ geworden. Offenbar war das ein Thema, das sie im Inneren stark beschäftigte). Die Frau wurde energischer. Sie drehte sich um 180 Grad und zeigte in das Gebäude hinein, durch das ich gerade gekommen war. Ich schaute durch wahre Heerscharen wuseliger Leute.
„Sie müssen da lang“, sagte sie mir. Ihre Handbewegung deutete an, dass ich da noch ein bisschen länger laufen müsste.
„Da lang“, wiederholte sie, „bis sie zum Bettenhaus kommen und dann …“
„Sie sprechen in Ihrer Sprache“, unterbrach ich sie freundlich. „Was ist ein Bettenhaus?“ In mir tauchten Bilder vom „Dänischen Bettenlager“ und von „Matratzen Concord“ auf. Aber sowas hatte ich auf dem Campus der Uni-Klinik in Köln noch nie gesehen.
Anders als andere NTs, die ich kenne, gelang es dieser energischen Frau sofort, aus ihrer Welt herauszutreten und sich auf mich einzustellen. Erneut drehte sie sich um 180 Grad und ging mit mir vor das Haus, durch das ich gerade gekommen war. Sie wechselte ihren Sprachstil völlig:
„Sie laufen jetzt hier entlang, immer geradeaus, bis es nicht mehr weiter geht und dann nach rechts …“
Ihr gelang mit Leichtigkeit, was vielen NTs, denen ich begegne, auch nach vielen Hilfestellungen nicht gelingt. Ich zog innerlich den Hut vor ihr. Ich weiß, wie schwer NTs es ganz häufig fällt, die eigene Welt, in der sie leben zu verlassen.
Ich lief dann da entlang, immer geradeaus, bis es nicht mehr weiter ging und bog dann rechts ab. Ich fand das Haus 42 mit Leichtigkeit.
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lemonbalm (Samstag, 15 Dezember 2018 18:37)
"„Hast du meine letzte Mail bekommen?“"
Es gibt nur einen Menschen, der mich nicht danach fragt.
Einige versuchen es mit Lesebestätigung. Das Ergebnis ist das Gleiche.
"Mein Orientierungssinn (egal in welchem Gelände) ist ungefähr so gut wie eine Kokosnuss eckig ist."
Da hätten wir aber ein wunderbares Team abgegeben.
nT-Aushalter (Mittwoch, 08 April 2020 09:48)
Ich denke , der "Hast Du meine Mail bekommen?" fragende NT hat ganz scharf gedacht: Der hält sich für wichtig und richtig und ranghöher. Daher meint er, so vorwurfsvoll vorgehen zu dürfen. Damit setzt er seine Hundemarke und stellt seine Überlegenheit sicher, er setzt sich vor und über den Empfänger. Der Ranghöhere regelt immer, worüber,wann, wo und wie kommuniziert wird. Der Rangniedrigere hat stets sofort zu reagieren!
Bei Regelverstoß muss sich dann der Rangniedrigere stets rechtfertigen.
Dies ist eine der informellen Regeln der Kommunikation...