Ich hatte es nicht gewusst, nicht mal andeutungsweise. Aber als meine ältere Tochter geboren wurde, erfuhr ich es, und es gab es nicht die Spur eines Zweifels: Ich habe das absolute Gehör für die Sprache von Säuglingen. Ich verstehe, was sie sagen. Ich höre, was sie wollen und brauchen. Ich weiß, was ihnen fehlt.
Meine ältere Tochter wurde geboren. Ihre Mutter – die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin – nahm ihr Kind nicht an. Sie verstieß es innerlich und versuchte mit aller Kraft, das irgendwie zu überspielen und nicht wahrzuhaben. Sie stillte ihr Kind zum ersten Mal, und meine Tochter fing an, jämmerlich zu schreien. Ich kannte diesen Schrei. Ich kannte ihn ganz genau: So schreit ein Kind, das nach der Geburt von der Mutter nicht angenommen wird. Ich wusste genau, wie es meiner Tochter ging, und mein Herz wurde schwer wie ein Ozean.
In der Woche nach der Geburt meiner älteren Tochter habe ich acht Stunden geschlafen. Nicht acht Stunden pro Nacht, sondern acht Stunden innerhalb von sieben Tagen. Ich war der einzige, der dieses Kind jetzt noch retten konnte – aber wie um alles in der Welt sollte ich das machen? Ich war der Vater, nicht die Mutter.
Meiner Tochter ging es schlecht. Sehr schlecht. Alles, was mittelalterliche Höllenmaler auf die Leinwand gebracht hatten, verblasste vor diesem Leid. Und ich verstand. Ich verstand alles.
Und alle anderen Erwachsenen (Freundinnen, Kinderärzte, Hebammen etc.) verstanden – exakt nichts.
Für die schrie dieses Kind eben. Es schrie, und es war völlig normal, dass man nicht verstand, warum das Kind schrie. Es war völlig normal, dass man nicht verstand, warum es schrie. Es war völlig normal, dass man nicht wusste, was es brauchte und was ihm fehlte. So war das eben. Irgendwann würde es auch schon wieder aufhören zu schreien – alles völlig normal.
Aber ich verstand.
Ich verstand alles.
Irgendwann begriff die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, dass ich dieses Kind verstand.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“ wollte sie wissen. Das Kind lag neben ihr im Bett und schrie.
„Es hat Bauchschmerzen. Bring es in die Senkrechte und leg‘ seine Arme über deine Schulter.“
Sie machte das. Unsere Tochter hörte auf zu schreien.
„Was ist es diesmal?“
„Ihr ist kalt. Kalt an den Füßen.“
„Kann gar nicht sein.“ Die Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, untersuchte die Füße unserer Tochter. „Sie hat ja sogar Wollsocken über dem Strampler.“
„Sie sagt, dass sie kalte Füße hat. Sie wird ja wohl wissen, wo ihr kalt ist.“
Als ihre Füße warm wurden, war unsere Tochter wieder ziemlich zufrieden.
So ging es jede Stunde, jeden Tag. Tag und Nacht:
Das Kind schrie, und ich übersetzte für seine Mutter oder legte selbst Hand an.
„Was machst du da?“ wollte sie wissen. „Grad hat sie doch noch geschlafen.“
Ich hatte unsere Tochter gerade aus dem Bett geholt und zum Fenster getragen.
„Sie sagt, dass sie was sehen will. Ich lasse sie aus dem Fenster gucken.“
Unsere Tochter guckte aus dem Fenster und wedelte zufrieden mit den Armen und den Beinen.
Das Verhältnis zwischen meiner Tochter und mir wurde sehr schnell sehr tief und innig. Mein Herz blieb schwer. Chronisch. Was meine Tochter erlebte, erinnerte mich sehr an die Harlow-Experimente mit kleinen Rhesus-Äffchen. Ich tat, was ich tun konnte. Mehr ging nicht. Ich kann eine Mutter nicht zwingen, ihr Kind anzunehmen.
Heute ist das mehr als zwei Jahrzehnte her. Die Seele meiner älteren Tochter ist voller Narben. Wenn ich religiös wäre, würde ich jeden Tag dafür beten, dass es ihr gut geht. Nach allem, was ich sehen kann, meistert sie ihr Leben und diese Hypothek. Aber mein Herz ist schwer, wenn ich in diese Richtung gucke.
Mein Gehör für Säuglinge begleitet mich, wohin immer ich auch gehe. Vorgestern war ich an der Ostseeküste in einem Hotel. Nach einem langen Arbeitstag wollte ich auschecken und zum nächsten Einsatzort fahren. An der Rezeption standen einige Leute vor mir. Unter anderem eine junge Familie – Vater, Mutter, Baby. Der Vater sprach mit der Frau an der Rezeption. Die Mutter stand neben ihm und guckte ihm zu. Auf dem Boden zu ihren Füßen lag das Baby in so einem Maxi-Cosi Babysitz, in dem man das Kind rumtragen, aber auch im Auto transportieren kann.
Das Kind fing an zu weinen.
Der Vater sprach weiter mit der der Frau an der Rezeption.
Die Mutter beugte sich runter zum Kind und steckte ihm einen Schnuller in den Mund.
Den spuckte das Baby aus und weinte weiter. Die Mutter steckte den Schnuller wieder rein. So ging das ein paar Mal. Es war ein eingeübtes Ritual.
Der Wunsch des Kindes war sehr einfach:
Es wollte einfach nur hochgehoben werden und was sehen.
Die Mutter begriff nichts.
Der Vater begriff nichts.
Die umstehenden Erwachsenen begriffen – nach allem, was ich sehen konnte - exakt nichts. Für sie war da ein Baby, das weinte.
Und Babys weinen eben. Da kann man nichts machen. Und man kann auch nicht verstehen, warum sie es tun. Irgendwann hören sie ganz von selbst wieder auf damit. Da braucht man nur ein bisschen Geduld. Alles völlig normal.
Das Baby weinte. Und wie es weinte, erzählte es, dass es solche Situationen schon öfters erlebt hatte. Bald würde es aufhören, über sowas noch zu weinen. Vielleicht in zwei Tagen, vielleicht auch erst in zwei Wochen. Aber es war ganz kurz davor, aufzuhören: Hatte ja sowieso alles keinen Zweck. Und dann würde es aufhören, das zu fühlen. Es würde sich an dieser Stelle innerlich abtöten und so werden, wie die Eltern es haben wollten. Es war ganz kurz davor.
Ich schaute mir das an und begriff. Und es gab wieder einmal buchstäblich nichts, was ich tun konnte. Ich kann Eltern nicht zwingen, ihr Kind zu verstehen.
Das Kind lag in seiner Babytrage und weinte und erzählte.
Seine Sprache war ganz einfach und schlicht.
Ich stand da und verstand.
Und alle anderen Erwachsenen verstanden – exakt nichts.
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Murmur (Montag, 19 November 2018 10:42)
Exakt.
So ist das.
Babys sprechen.
Erwachsene Menschen hören Babys nur mit ihrem Kopf zu.
Meistens.
Weshalb?
Sie wurden nicht gehört, damals, als sie sich im selben Zustand befanden.
Sie wurden nicht verstanden.
Die Bereiche, in ihnen, mit denen sie hören könnten, sind taubgestellt.
Würden sonst zu sehr schmerzen.
Deshalb werden auch Tiere meistens nicht gehört.
Obwohl auch diese klar und deutlich kommunizieren.
Ja.
So ist das.
Stiller (Samstag, 24 November 2018 22:11)
Ich stimme zu.
Jedoch - was die Tiere betrifft: Da weiß ich wenig von.