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Belastbarkeit

Wenn ein Mensch in einer Umwelt groß werden und leben muss, die nicht auf seine Bedürfnisse angepasst ist, dann ist er enormen Drücken ausgesetzt - seelisch, sozial und physikalisch. Das gilt für Menschen mit Asperger-Syndrom (AS) genauso wie für Menschen mit Neurotypischem Syndrom (NTs). Da die Welt, in der AS groß werden und leben müssen, auf die Bedürfnisse der NTs angepasst ist, sind es die AS, die mit diesen Drücken klar kommen müssen und nicht die NTs.

 

Ich glaube, belegen zu können, dass ein durchschnittlicher AS seelisch deutlich belastbarer ist als sein neurotypisches Pendant. An den seelischen, sozialen und physikalischen Belastungen, die AS ganz alltäglich und völlig selbstverständlich meistern müssen, würden die NTs – genauso alltäglich und genauso selbstverständlich – so ziemlich alle scheitern.

 

Nochmal, weil das so wichtig ist:

Nach allem, was ich sehen kann, sind AS deutlich belastbarer als NTs.

 

Den NT will ich sehen, der seelische, physikalische und soziale Drücke abzufedern hat wie ein AS und der dann immer noch eine dicke Lippe (Redewendung) riskiert, dass die AS allesamt gestört sind, sich nur wichtig machen wollen und sich einfach bloß ein bisschen mehr Mühe geben müssten.

 

Das darf aber den Blick nicht verstellen:

Was ich hier gesagt habe, bezieht sich auf die Gesamtpopulation der NTs. Einzelne NTs können da ganz anders sein. Davon will ich heute schreiben.

 

Mein Beruf bringt mich mit vielen NTs zusammen, die sehr starken seelischen und sozialen Drücken ausgesetzt sind und sie meistern. Sie meistern diese Drücke ohne viel Geschrei und Tamtam. Ich ziehe meinen Hut (noch so eine Redewendung) und gebe ehrlich zu, dass ich Zweifel habe, dass ich das genauso könnte wie sie. Ich will mal ein paar Beispiele aufführen.

 

1

Er ist NT, ungefähr 40 Jahre alt. Er fällt mir auf, weil er in Seminarpausen immer wieder mit kleinen Klappmessern rumspielt. Offenbar ist er ein Taschenmesserfreak. Wir kommen ins Gespräch. Er lässt sich seine Messer individuell von einem Handwerker fertigen. Er bespricht mit diesem Handwerker seine Vorstellungen und gemeinsam schauen sie dann, was sich davon realisieren lässt.

„Hier“, zeigt er mir eines seiner schönsten Stücke: „Das hier brauche ich immer zum Angeln, kann es aber auch gut bei der Feuerwehr gebrauchen, wenn mal wieder Schläuche oder Kabel durchgeschnitten werden müssen.“

Er macht mir mit einer knappen Handbewegung vor, wie er das Messer öffnet und ein Kabel durchtrennt.

„Du bist bei der Feuerwehr?“ will ich wissen.

„Ja, Freiwillige Feuerwehr [Name einer mittelgroßen Stadt in Sachsen].“

„Und welche Aufgabe hast du da?“

„Ich bin der Brandmeister.“

„Nie gehört. Was ist ein Brandmeister?“

„Das ist der, der mit dem kleinen, roten Auto vorweg fährt und die Jungs einweist, wenn sie mit ihren dicken Brummern kommen.“

„Stimmt! Da fahren ja ganz oft kleine rote PKW voran, wenn’s zum Einsatz geht. Und in sowas sitzt du dann drin?“

„Genau. Wir sind als erste vor Ort, machen eine Lageeinschätzung, weisen die Jungs ein und entscheiden.“

Was entscheidet ihr?“

„Naja, da hatten wir zum Beispiel vor zwei Wochen einen Einsatz auf der A14. Ein Laster war umgekippt und brannte. Er hatte drei PKW unter sich begraben. Wir hatten nur ganz wenig Zeit. Als wir den Lastwagen hochgebockt haben, haben wir drei Menschen gefunden, die noch zu retten waren. Wir konnten aber nur einen von ihnen rausholen, denn der Lastwagen brannte in voller Ausdehnung und war grad‘ dabei, wieder runterzukippen. Es war einfach keine Zeit für alle drei. Das musste da alles ganz, ganz schnell gehen. Ich bin der Brandmeister. Also habe ich die Jungs alle weggeschickt: ‚Ich regel das hier!‘ Den einen habe ich rausgezogen. Dann ist der Laster runtergekracht. Und das war’s dann.“

 

2

Sie tauchen gemeinsam in einem meiner Seminare auf. NTs. Gestandene Männer mit zerfurchten Gesichtern, 40 bis 50 Jahre alt. Ich kenne solche Gesichter: So sehen Menschen aus, die zu viel gesehen haben. Wir kommen am Rand des Seminars ins Gespräch.

Sie waren beide bei der Kriminalpolizei. Höherer Dienst – Kommissar und Hauptkommissar. Warum sie jetzt nicht mehr bei der Polizei sind, will ich wissen.

Und sie erzählen.

Sie waren beide jahrelang im Einsatz im Bahnhofsviertel einer der größten Städte Deutschlands. Sie erzählen davon, was Drogen aus Menschen machen. Sie erzählen davon, wie Armut die Menschenwürde raubt. Sie erzählen von Kriminalität, die wesentlich besser ausgestattet und organisiert ist als die Polizei. Sie erzählen davon, wie sie die Männer, die sie morgens wegen schwerwiegender Delikte verhaftet und dem Haftrichter vorgeführt hatten, am Nachmittag wieder auf dem Bahnhofsvorplatz fanden. Sie erzählen von Schicksalen und von Kümmernissen und davon, dass es niemand auf Dauer aushält, das alles zu erleben. Sie erzählen, und ich höre zu.

 

3

Ich fahre meine AS-Tochter an einem sonnigen Nachmittag auf einer Landstraße bei uns in der Gegend spazieren. Das ist etwas, was sie sehr beruhigt und entspannt. Gerade, wenn sie im Overload ist, hilft ihr das sehr. Auf der Straße ist wie üblich nichts los, und ich fahre meine Tochter mit knapp 100 km/h durch die Landschaft. Sie döst vor sich hin. Links von uns ist dichter Wald, rechts von uns zieht sich kilometerlang eine Weidelandschaft. Vor einer langgezogenen Linkskurve nehme ich das Tempo ein wenig raus. Ich kenne die Straße in- und auswendig, aber ich weiß nie, was ich in so einer Kurve finde. Und richtig: Plötzlich steht da eine Straßensperre. Mitten in der Kurve: Rot-weiße Warnbaken, gelbes Blinklicht. Ein Polizeiauto steht da. Blau flackert das Licht durch den Schatten der Bäume. Ich habe keine Ahnung, worum es geht. Vor uns steht ein ziviler PKW mit eingeschalteter Warnblinkanlage schon an der Straßensperre. Im Schritttempo rolle ich auf ihn zu. Es ist buchstäblich kein Mensch zu sehen. Meine Tochter sitzt jetzt hellwach und kerzengrade auf dem Beifahrersitz. Sie will wissen, was los ist. Sie fährt das Fenster auf ihrer Seite herunter und streckt den Kopf ein wenig raus. Als wir uns der Sperre bis auf wenige Meter genähert haben, sehen wir einen Rettungshubschrauber auf der Weide stehen, keine 20 Meter entfernt von der Straße. Zwischen uns und dem Hubschrauber scheint ein PKW auf dem Dach zu liegen. Oder das, was von ihm übrig ist. Die Szene ist vollkommen still und hat etwas Surreales.

 

Ein Polizist, ca. 60 Jahre alt, geht vor dem Hubschrauber mit langsamen Schritten auf und ab. Zwanzig Meter in die eine Richtung. Dann dreht er sich langsam um und geht zwanzig Meter in die andere Richtung. Die ganze Zeit. An sich gedrückt hält er einen Säugling. Der ist keine sechs Monate alt.

Die Türen des Hubschraubers stehen offen. Den Piloten kann ich nicht sehen. Die Notärztin steht gebückt im Hubschrauber und beschäftigt sich mit Klappen und Schubfächern. Der ganze Hubschrauber scheint vollgestopft zu sein mit Klappen und Schubfächern.

Die Notärztin öffnet ohne Hast aber auch ohne Systematik diese Klappen und Schubfächer und schließt sie dann wieder. Erst denke ich, dass sie was sucht. Dann sehe ich aber, dass sie gar nichts sucht. Sie macht nur Klappen und Schubfächer auf und wieder zu. Die ganze Zeit. Ohne Hast und ohne Systematik.

Der Polizist marschiert weiter mit dem Säugling auf und ab. Sonst ist kein Mensch zu sehen. Nicht im Auto, das vor uns an der Straßensperre steht, nicht im Polizeiwagen, dessen blaue Lichter weiterhin lautlos flackern, nicht am Unfallfahrzeug.

Einige Minuten stehe ich mit meinem Wagen da. Dann starte ich schweigend den Motor, wende und fahre weg. Meine Tochter ist dagegen. Sie will unbedingt weiter zuschauen. Sie will wissen, wie das jetzt weiter geht. Für sie ist das alles sehr spannend. Sie begreift nicht, was ich nach kurzem Zuschauen begriffen habe:

Dieser Säugling wird seine Eltern nie wiedersehen.

 

4

Er ist etwas über 40 Jahre alt und gehört zu den eher redseligen und meinungsfesten NTs. Es gibt weniges, wozu er nicht seine Meinung mitteilt. Aber er redet mit Bedacht und quatscht nicht einfach irgendwelches dummes Zeug drauflos. Das finde ich ganz angenehm. Wir kommen ins Gespräch.

Er ist in seiner Freizeit ehrenamtlicher Bürgermeister in einer Kleinstadt in den neuen Bundesländern. Den Job hat er schon seit über zehn Jahren. Er erzählt davon, dass er sich als Bürgermeister mit beinahe nichts anderem mehr beschäftigt als „Nazis aus der Stadt rauszuhalten“. Irgendein Neonazitrupp will regelmäßig irgendwelche Treffen in einem Bürgerhaus veranstalten, das in dieser Kleinstadt steht. Es scheint keinen besonderen Grund zu geben, dass es unbedingt dort sein muss, aber sie haben sich das fest vorgenommen – Sonnenwendfeier, Hitlers Geburtstag, Todestag von Hess … es scheint sehr viele Festtage im Kalender des durchschnittlichen Neonazis zu geben.

Der ehrenamtliche Bürgermeister macht Eingaben, führt Prozesse, organisiert Polizeischutz, mobilisiert die Bürger:

„Bis jetzt haben wir es geschafft“, erzählt er mir. „Aber es wird schwieriger. Anfangs war es nur Telefonterror und eingeschmissene Scheiben, aber inzwischen sind wir auch schon bei Morddrohungen. Mein Vize hat letzte Woche eine tote Katze auf seiner Fußmatte gefunden, dem Ortsvorsteher haben sie den Briefkasten gesprengt, mein Auto hat vor vier Wochen gebrannt. War ein lustiges Feuerchen, hat die halbe Nacht geleuchtet.“

„Wie? Hast du nicht die Feuerwehr gerufen?“

„Doch, sicher. Das sind alle gute Kumpels von mir. Die haben gesagt, dass da nichts zu machen ist und haben es kontrolliert abbrennen lassen.“

„Hört sich ungemütlich an.“

„Es wird allmählich eng für uns.“

„Und? Machst du weiter?“

„Ich mache weiter. Die Nazis kommen bei uns nicht rein.“

 

5

Das Seminar ist in einem meiner Lieblingshotels. Ein wahres Schmuckstück im Pfälzischen – in Familienbesitz, die Arbeit von zwei Generationen steckt da drin. Knapp 200 Betten, durchschnittliche Auslastung: 85 %. (Das ist für ein Hotel sehr, sehr viel. Ich bin häufig in Hotels untergebracht, die 35 % - 45 % durchschnittliche Auslastung haben).

Ich bin wie üblich frühmorgens deutlich vor Seminarbeginn da. Als ich zur Rezeption komme, stehen da lauter Teppichrollen rum. Ich zähle durch: dreizehn Rollen. Der Besitzer und Direktor des Hotels kommt hinzu. Wir kennen und mögen uns seit vielen Jahren. Er sieht übernächtig aus.

„Was‘ los?“ will ich wissen. „Renovieren Sie jetzt?“

Er schaut mich müde an und winkt ab:

„Ach hören Sie bloß auf!“

Und dann erzählt er:

In einer anderen Seminargruppe waren sich ein Mann und eine Frau menschlich näher gekommen. Die beiden beschlossen, die Nacht gemeinsam zu verbringen und einigten sich, das im Zimmer der Frau zu tun. Gegen drei Uhr nachts wachte der Mann auf, weil er dringend auf’s Klo musste Er litt an einer seltenen Stoffwechselstörung, die dazu führte, dass er chronisch Durchfall hatte. In der Dunkelheit tapste er splitternackt zum Klo und machte die Tür hinter sich zu. Als er hochschaute, sah er, dass er sich in der Tür geirrt hatte und jetzt auf dem schwach beleuchteten Hotelflur stand – nackt, wie die Natur ihn geschaffen hatte. Und er musste ganz dringend auf’s Klo. Er klopfte wild an die Tür, aber seine Angebetete schlief den Schlaf der Gerechten. Und sein Darm machte Druck. Da erinnerte er sich, dass zwei Stockwerke über ihm eine öffentlich zugängliche Toilette war. In höchster Not sprintete er los. Aber die Natur war stärker als sein Wille und forderte ihr Recht. Und so zündete er in seinem Sprint den Düsenantrieb.

„Zwei Stockwerke komplett vollgeschissen!“ seufzt der Hoteldirektor müde. „Und gerade heute bekommen wir drei Busladungen mit Wellnessgästen – alles Rentner. Bis heute Nachmittag vier Uhr muss das hier alles fertig sein.“

Ich wünsche dem Hoteldirektor viel Glück und Erfolg und trolle mich in meinen Seminarraum. Da muss ich noch einiges vorbereiten.

 

In einer Pause am Nachmittag komme ich nochmal zur Rezeption, weil ich Kopien brauche. Die Teppichrollen sind inzwischen weg. Offenbar sind sie verlegt worden oder die Handwerker sind noch bei der Arbeit. Aber da steht der Hoteldirektor. Daneben seine Tochter, deren Aufgabe die Führung der zahlreichen Angestellten ist. Daneben stehen drei Leute vom Personal, die ich gut kenne und zwei, die ich wesentlich seltener sehe. Sie stehen sehr eigentümlich da. Alle schweigen. Keiner sieht den anderen an. Drei der fünf Angestellten berühren einander. Sie wirken wie ein kleiner, schweigender Kreis. Ich verlangsame meinen Schritt. Ich beobachte.

Irgendwas ist passiert. Irgendwas Schwerwiegendes.

„Was ist los?“ will ich wissen. „Ist jemand gestorben?“

„Hören Sie mal“, der Hoteldirektor kommt auf mich zu, fasst mich am Ellenbogen und geht mit mir ein paar Schritte auf die Seite. Dann sprudelt er flüsternd los:

„In einer unserer Suiten hat sich gerade ein Gast umgebracht. In der Badewanne. Alles voller Blut. Das Zimmermädchen“, er deutet diskret auf eine junge, zierliche Frau, die völlig weggetreten wirkt, „hat das völlig unvorbereitet entdeckt. Die ist da reingekommen … und das Badezimmer sieht aus, kann ich Ihnen sagen … Blut überall. Sogar an der Decke!“

„Die Frau steht unter Schock“, konstatiere ich. „Die braucht sofort ärztliche Hilfe.“

„Der Notarzt ist unterwegs.“ beruhigt mich der Hoteldirektor.

Aber auch der Direktor ist völlig durch den Wind.

„Warum muss der das gerade bei uns machen?!“ fragt er leise.

Ich erkläre ihm, warum er das vermutlich gerade in diesem Hotel gemacht hat:

„Menschen, die Suizid begehen, suchen sich dafür oft die schönsten Orte aus, die sie finden können. Wenn jemand beschließt, sich von einem Zug überfahren zu lassen, dann wählt er dafür nicht einen Güterzug oder die S-Bahn, sondern beinahe immer einen ICE. Und dieser Mann wird sich für das schönste Hotel weit und breit entschieden haben. Und das ist Ihres.“

„Ein schwacher Trost, Herr Stiller“, seufzt der Hoteldirektor sehr müde, „ein schwacher Trost. Ach, was ich in diesem Hotel schon alles erlebt habe … ich könnte ein Buch schreiben.“

Der Notarzt kommt, und ich mache mich wieder auf den Weg in mein Seminar.

 

Aber das lässt mir alles keine Ruhe. 45 Minuten später bin ich wieder an der Rezeption. Der Hoteldirektor unterhält sich dort mit zwei Polizisten, die gerade weggehen. Der Direktor sieht mich. Er eilt auf mich zu, fasst mich wieder am Ellenbogen und sprudelt los.

„Ach, Herr Stiller, es ist eine Katastrophe!“

„Was?“

„Die Polizei hat die Leiche jetzt erst freigegeben. Sie muss jetzt abgeholt werden. Der Leichenwagen ist in fünf Minuten da. Aber gerade sind die Busse mit den Rentnern gekommen. Die sind noch wackliger als ich dachte. Was glauben Sie, wie das auf die wirkt, wenn gleich eine Leiche die Treppe runtergetragen wird? Die denken dann doch, dass hier dauernd Rentner sterben!“

Erste Rentner beginnen, an die Rezeption zu strömen. Das langatmige Eincheckprozedere beginnt. Die Frauen an der Rezeption mühen sich tapfer Lächeln und Freundlichkeit ab.

„Ich muss mich hier um meine Gäste kümmern“, flüstert der Hoteldirektor verzweifelt. „Und gleich kommen die Leichenträger. Sie können sich ja vorstellen, wie sensibel die sind. Die werden hier reintrampeln und lauthals rumschreien: ‚Wo ist jetzt die Leiche?!‘“

Ich habe eine Idee:

„Ich regel das für Sie“, sage ich ihm. „Kümmern Sie sich hier um Ihre Gäste, ich fange den Leichenwagen ab und sorge dafür, dass sie zu einem Seiteneingang reinkommen.“

„Wie wollen Sie das denn machen?“ will der Hoteldirektor machen.

„Ich weiß noch nicht“, gebe ich zu. Dann schalte ich um:

„Wissen Sie was – ich halte die auf dem Hof auf, und dann kommen Sie raus und reden mit denen. Wichtig ist ja erstmal nur, dass die hier nicht einfach reintrampeln.“

„Das würden Sie für uns tun?“ Der Hoteldirektor guckt zweifelnd. Ich sause raus auf den Hof. Der Direktor wendet sich seinen Gästen zu, die ihn mit fröhlichem und aufgeregtem Geschnatter umringen.

 

Ich muss nicht lange warten. Nach drei Minuten biegt ein schwarzer Kombi, der hinten keine Fenster hat, auf den Hof. Ich dirigiere ihn auf einen Seitenparkplatz. Zwei Männer steigen aus und wollen los. Sie haben es eilig. Offenbar haben sie nachher noch ein paar andere Leichen zu fahren. Mit etwas Mühe gelingt es mir, sie davon zu überzeugen, dass sie am Wagen warten sollen, bis der Direktor mit ihnen spricht und sie einweist.

„… Sie wissen ja gar nicht, über welche der vielen Treppen Sie am besten ins Zimmer kommen …“

Ich sause zurück an die Rezeption. An den Hoteldirektor komme ich nicht mehr heran. Der ist umringt von fröhlich schnatternden Rentnern. Er ist so freundlich und zugewandt, dass keinem seiner Gäste aufzufallen scheint, wie es ihm wirklich geht. Er sieht mich fragend an.

„Die Herren in Schwarz sind da“, informiere ich ihn. „Sie warten auf dem oberen Parkplatz.“

Mit gekonntem Charme und routinierter Höflichkeit löst sich der Direktor von seinen Gästen und geht in gemessenem Schritt zum Ausgang. Durch die Glastür kann ich sehen, dass er draußen seinen Schritt erheblich beschleunigt.

 

6

Hauptbahnhof Hannover. Ich stehe sehr ungeduldig am Bahnsteig. Ich habe in ein paar Stunden einen sehr wichtigen Kundentermin in Darmstadt, und der ICE lässt auf sich warten. Aus Gesprächen mit Bahnangestellten weiß ich, dass dieser Zug in Hamburg startet. Wie kann der da bis Hannover schon über eine halbe Stunde Verspätung haben?! Ich bin extrem sauer. Ich bürge mit meinem Wort bei meinen Kunden, dass ich pünktlich da sein werde. Und nun lässt mich die Bahn hängen, wieder einmal! So kann ich nicht professionell arbeiten!

Eine knarzende Lautsprecherstimme lässt sich vernehmen:

Der Zug wird aus technischen Gründen eine Stunde Verspätung haben.

 

Jetzt reicht es mir. Ich suche mir den Menschen, der in diesem Bahnhof der Chef ist und stelle ihn zur Rede. Ich schildere ihm meine Situation und sage ihm, dass ich erwäge, die Bahn in Regress zu nehmen. Es kann gut sein, dass die kleine Firma, für die ich arbeite, diesen extrem wichtigen Kunden wegen dieses Vorfalls verliert. Das kann durchaus das Ende für diese Firma bedeuten.

„Wie kann das sein, dass Sie es nicht mal schaffen, Züge von Hamburg nach Hannover pünktlich ankommen zu lassen?!“ will ich wissen.

Der Stationsvorsteher ist Kummer gewohnt.

„Wir hatten einen Selbstmord auf der Strecke“; sagt er mir. „Wir müssen warten, bis die Polizei den Zug wieder freigibt. Kann ja sein, dass hier ein Mord vertuscht werden sollte.“

„Oh!“ – Aller Ärger fällt von mir ab.

 

Jahre später suche ich eine neue Stelle. Die Deutsche Bahn inseriert, dass sie einen Psychologen sucht. Das Anforderungsprofil liest sich sehr interessant. Hier wird ein Psychologe mit sehr vielfältigen Erfahrungen und Kenntnissen gesucht. Das deutet auf eine sehr interessante und herausfordernde Aufgabe hin. Aber die Aufgabe wird nur nebulös beschrieben. Das wirkt sehr merkwürdig auf mich. Und ganz gegen meine üblichen Gepflogenheiten rufe ich an, bevor ich mich an die Bewerbung setze. Ich will wissen, was der Psychologe, den sie da suchen, eigentlich tun soll.

 

Und so erfahre ich, dass die Deutsche Bahn ein Team von fünf Psychologen hat, deren Hauptaufgabe es ist, Lokführer zu betreuen, deren Leben aus den Fugen geraten ist, weil sie wieder einmal einen Selbstmörder überfahren haben. Fünf Leute. Vollzeit. Mit nichts anderem beschäftigt, als traumatisierte Lokführer zu betreuen. Diese schiere Zahl und die Größe dieses Leidens löst bei mir nur Fassungslosigkeit aus.

 

7

Er ist der Kinderarzt meiner beiden Töchter. Schon seit vielen Jahren. Da es meiner AS-Tochter wichtig ist, begleite ich sie bei allen Arztterminen. Ich sitze dann immer im Wartezimmer und beobachte die anderen Kinder. Ich kann „sehen“. Ich kann „sehen“, wie sehr sie leiden. Die allermeisten hier leiden nicht nur am Körper, sondern auch ganz empfindlich an der Seele. Fast alle sind Kinder in Not.

Ich kann „sehen“. Ich beobachte auch die Erwachsenen. Und ich bin mir nach einigen Stunden der Beobachtung ziemlich sicher, dass die allermeisten nicht sehen können, wie tief und wie schwer ihr Kind leidet. Sie haben da einfach nicht die Wahrnehmungskapazität für.

Dass ich das Leid dieser Kinder sehen kann, ist für mich sehr bedrückend. Viele von ihnen kenne ich mittlerweile vom Sehen, denn sie sind über die Jahre offenbar sehr oft hier. Ich sehe, wie sich ihr Leiden verfestigt, wie sie innerlich verhärten und absterben. Es geht mir nicht gut dabei. Aber den Kindern geht es noch viel schlechter als mir.

 

Hin und wieder habe ich Gespräche mit dem Arzt. Es geht um meine Tochter, um Überweisungen, um Medikamente, um Administratives. Und schon im allerersten Gespräch habe ich einen Eindruck, der sich zunehmend zur Gewissheit verdichtet:

Dieser Mann kann zwar nicht „sehen“, so wie ich das tue. Aber er nimmt sehr sensibel wahr. Er bemerkt, wie schlecht es den Kindern geht, und dass viele nicht hier sind, weil sie körperlich krank sind, sondern weil ihre kranke Seele sich im Körper Bahn bricht.

Er nimmt das wahr. Er spürt ihre tiefe Verzweiflung, er bemerkt ihre schreckliche Not. Er weiß, dass er nicht wirklich helfen kann. Aber er ist da. Er lässt sich keine Hornhaut über die Seele wachsen, er verhärtet sich nicht gegen dieses Leiden – er nimmt wahr, er fühlt … und er tut, was er kann. Jeden Tag. Jahrelang.

 

 

 

Ausblick

Wenn ich in diesem Blog über das Neurotypische Symptom schreibe oder über das, was Menschen auszeichnet, die dieses Symptom haben, dann habe ich immer die Gesamtpopulation im Blick. Dann meine ich nicht einen Einzelnen. Das ist genauso wie wenn ein Arzt über Raucher spricht. Damit meint er nicht den Einzelnen, sondern die Gesamtheit der Raucher.

 

Die Gesamtheit setzt sich aber immer aus Einzelnen zusammen. In meinem Beruf begegne ich sehr, sehr vielen NTs auf sehr persönlicher und privater Ebene. Immer wieder bin ich überrascht, wie belastbar einzelne von ihnen sind und hoffe für sie inständig, dass die Belastung, der sie sich da aussetzen, nicht zu einem dauernden Schaden oder zu einem frühen Tod führt.

 

In den Medien werden solche NTs immer wieder als „Helden“ bezeichnet. Ich halte das für vollkommenen Quatsch. Diese Menschen sind keine Helden, sondern Menschen die an der Stelle, wo sie gerade sind, das tun, was zu tun ist. Ich bin sehr sicher, dass die NTs, die ich in dieser Sache persönlich gesprochen habe, es ablehnen würden, sich als „Held“ bezeichnen zu lassen. Sie tun an der Stelle, an der sie sind, das, was zu tun ist. Punkt.

 

Ich verneige mich vor ihnen.

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