Daniela Schreiter hat den dritten Band ihrer Schattenspringer-Reihe veröffentlich. (Für mich eine absolute Kauf- und Leseempfehlung). In diesem Band interviewt sie andere Autisten, deren Erfahrungen und Erlebnisse sie dann als Comic darstellt. Unter anderem geht es um die Erfahrungen mit Einsamkeit, Beziehungen und Freundschaft.
Und da gibt es diesen Autisten (Ben), der beschreibt, wie seine Ehrlichkeit in einer Beziehung mit einer neurotypischen Frau zu heftigen, dysfunktionalen Reaktionen auf ihrer Seite führt.
Ich habe länger über diese Stelle im Comic nachgedacht: Was erwarten sich NTs, was erwarten sich AS aus ihren Beziehungen? Ich bin darüber hinaus verschiedentlich von AS gefragt worden, was Liebe für mich eigentlich ist bzw. wie ich Beziehung lebe. (NTs fragen mich das genauso – und sie tun das viel häufiger als die AS. Aber bei denen habe ich dann häufiger den Eindruck, dass sie fragen, um sich mit wohligem Schauer von mir abgrenzen zu können. Wie lebt und liebt ein Vulkanier in einer Beziehung? Ist das überhaupt möglich? Haben die überhaupt Gefühle? Fragen über Fragen!)
Also schreibe ich einfach mal was dazu.
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Was die NTs, die mich fragen, regelmäßig zutiefst erschüttert, ist, wie rational ich an die Sache rangehe. Was für sie schonungslos romantisch ist und am besten zutiefst unverständlich, magisch, einzigartig und geradezu mystisch sein sollte, wird von mir nüchtern und mit Überlegung in alle Einzelteile zerlegt und wieder zusammengebaut. Liebe ist für viele von ihnen ein Mysterium, etwas unverstehbares. Liebe ist für mich etwas, was Gesetzmäßigkeit, Funktion und Bedeutung hat. Ich nutze da gern das Beispiel vom Gärtner:
Auch wenn ich alles über Fotosynthese und über die Funktionsweise von Dünger und Enzymen weiß, kann ich einen Garten trotzdem schön finden. Ich muss den Garten nicht mystifizieren und so tun als wäre er voller Elfen und Feen und als hätte ich von Biologie keine Ahnung, um was von ihm zu haben. Im Gegenteil: Je mehr ich von Biologie weiß, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich dem Garten effektiv und effizient helfen kann, wenn er in eine Krise gerät.
Auf den Punkt gebracht: Ich muss mich nicht doof stellen, um lieben zu können und geliebt zu werden.
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Verlieben kann sich jeder Idiot. (Was nicht heißt, dass Verliebte Idioten sind. Sie verhalten sich nur manchmal so – dazu aber später). Liebe ist etwas ganz anderes.
Verliebtheit beruht auf einem vorübergehenden Hormonungleichgewicht, das uns Dinge vorgaukelt, die gar nicht da sind. In diesem Zusammenhang hat ein Wissenschaftler mal treffend bemerkt:
„Verliebtheit ist die einzige Form der Psychose, die in unserer Gesellschaft noch toleriert wird.“
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Dieses Hormonungleichgewicht ist von zeitlich begrenzter Dauer. Auf den Gefühlen und Gedanken, die durch dieses zeitlich begrenzte Ungleichgewicht ausgelöst werden, eine dauerhafte Beziehung aufzubauen, kann nicht funktionieren. Wer sich verliebt und glaubt, dass dieser Zustand ewig anhalten wird, wird mit Sicherheit enttäuscht werden.
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Ich bin gefragt worden, was Liebe ist.
Ich kann das nicht definieren. Was ich als Liebe erlebe, sieht aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet ganz unterschiedlich aus und zeigt ganz viele Facetten. Ich habe viele Definitionen von Liebe gehört und gelesen, die ich für richtig halte. Und ich habe gaaaanz viele gehört und gelesen, die in meiner Welt der bare Unsinn sind.
Liebe ist in meiner Welt sehr vieles.
Im Moment steht bei mir dies im Vordergrund:
Liebe ist, das Leben teilen und gemeinsam (aneinander) wachsen.
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Es geht in meiner Welt also nicht darum, ein zeitlich begrenztes Hormonungleichgewicht zur Basis einer Beziehung zu machen. (Ja, natürlich schwelge ich in Gefühlen, wenn ich verliebt bin und genieße das über alles. Und natürlich leide ich fürchterlich, wenn ich Liebeskummer habe – ich bin Asperger-Autist und keine Maschine!) Sondern es geht darum, auf erwachsener Ebene zu prüfen, ob da ein Mensch in meinem Leben ist, mit dem ich mein Leben auch dann noch teilen will, wenn ich alles, was in unserer Beziehung der Verliebtheit zuzuschreiben ist, abziehe.
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Beziehung ist immer ein Markt. Hier gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Deshalb muss ich für eine funktionierende Beziehung ehrlich und bewusst zwei Fragen beantworten:
a) Was suche ich eigentlich? (Und warum?)
b) Was kann ich im Austausch für das, was ich haben will, bieten?
Zweierbeziehungen funktionieren, wenn für beide gilt:
Der entstehende Nutzen aus der Beziehung übersteigt dauerhaft die entstehenden Kosten (Zeit, Materielles, Seelisches). Deshalb ist permanent zu prüfen:
Welchen Nutzen hast du aus dieser Beziehung?
Welchen Nutzen habe ich aus dieser Beziehung?
Und wenn die Kosten den Nutzen dauerhaft übersteigen (für einen oder für beide), dann wird die Beziehung beendet.
In dieser Hinsicht gilt:
Liebe ist, den anderen loslassen zu können.
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Um meine Nachfrage definieren zu können, lege ich vor Beginn einer Beziehung ein ziemlich differenziertes Anforderungsprofil fest:
a) Was muss der Mensch, den ich in mein Leben lassen will, mitbringen (Persönlichkeit, Fähigkeiten, Kenntnisse, Erfahrungen, materielle Ausstattung, Lebensziel, Ethik, äußere Erscheinung etc.)?
b) Was würde ich tolerieren?
c) Was darf er nicht mitbringen?
Gleichzeitig prüfe ich, welchen Marktwert ich in eine mögliche Beziehung einbringen könnte.
d) Warum soll eine Frau eine Beziehung ausgerechnet mit mir eingehen und nicht mit ihren Bedürfnissen zu einem anderen Mann gehen?
e) Was ist an mir, was an anderen Männern nicht ist?
In dieser Hinsicht gilt:
Liebe ist ein fairer Benutzervertrag auf Gegenseitigkeit.
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Wenn ich das Anforderungsprofil fertig habe, dann beginne ich, Frauen zu scannen. Das geht sehr rasch. Meistens genügen ein bis zwei Sekunden pro Frau. Ich habe mit den Jahren einen sehr sicheren Blick dafür entwickelt, was in einem Menschen möglicherweise drin ist und was nicht. Ungefähr eine von fünftausend Frauen ist in der Lage, Interesse bei mir auszulösen.
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Wenn ich am Aufbau einer Beziehung ernsthaft interessiert bin, gehe ich sehr direkt und offen vor. (Jaaaaa, meine erste Freundin habe ich für mich gewinnen können, weil ich ihr ein Gedicht geschrieben habe. Ich war 17 Jahre alt und exorbitant schüchtern. Ich hatte keine Ahnung, wie ich sie ansprechen sollte. Gleichzeitig wusste ich, dass ich schreiben konnte und war mir sehr sicher, dass dieses Gedicht ein Schlüssel zu ihrem Herzen sein konnte.
Aber heute bin ich keine 17 mehr. Ja, ich schreibe noch Gedichte. Aber das steht nicht mehr am Anfang einer Beziehung).
Heute bin ich gerade zu Beginn einer Beziehung sehr offen und direkt: Klappt oder klappt nicht. Besser, das gleich raus zu kriegen. Und wenn es nicht klappt, dann verschwende ich keine Zeit und suche weiter. Ich verstelle mich dabei nicht, ich zeige mich auch nicht von meiner besten Seite. Entweder die Frau hat Verwendung für das, was ich anzubieten habe oder sie hat es nicht. Balzen, schön tun, bei irgendwelchen Dates den dicken Max markieren, all das ist mir vollkommen fremd.
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An die NT-Frauen, die mich das gefragt haben:
a) Ich bin so romantisch wie eine Streichholzschachtel oder eine Nähmaschine. Wenn dir nach Verliebtsein und Romantik ist (Gläschen Wein bei Sonnenuntergang und so), dann such dir einen anderen. Selbst im Zustand schwerster Verliebtheit bringe ich sowas nicht zuwege.
b) Hasinasi, Wuschelmäuschen und Marzipanrehlein – kannst du auch alles knicken. Kommt überhaupt nicht in Frage. Du hast einen Namen, bei dem werde ich dich nennen. Und ich habe auch einen Namen. Solltest du ihn vergessen, kann ich ihn dir auch aufschreiben. Aber ich bin mit dir in einer Beziehung und nicht in einem Streichelzoo. Also keine „Mäuschen“, „Bärchen“ oder was auch immer.
c) Blumen in der Vase sind Leichen in der Vase. Kann ich nicht leiden. Komm mir nicht mit sowas. Wenn du Blumen magst, dann beweise es nicht dadurch, dass du sie umbringst. Denn es könnte ja sein, dass du auch mich magst. Und dann? Was wirst du dann mit mir tun?
d) Ich werde dich am Beginn der Beziehung nach allen Regeln der Kunst durchleuchten. Wenn du irgendwas in deiner Persönlichkeit vor mir verstecken willst: Vergiss es! Es kommt zwar vor, dass ich etwas wesentliches übersehe, wenn ich Menschen näher kennen lerne, aber das ist eher selten. Speziell in der ersten Zeit wirst du vermutlich immer wieder bis ins Innerste erschrecken, was ich alles von dir zu sehen kriege. Das ist unangenehm (für dich, nicht für mich), ich weiß das. Aber ich muss Klarheit haben, was vorgeht.
e) Geburtstage, Hochzeitstage, sonstige Daten – interessiert mich alles nicht. Wenn du zum Valentinstag Blumen brauchst, dann kauf dir welche. Mich interessiert ja schon mein eigener Geburtstag nicht – das ist halt so ein Wochentag – warum sollte mich dann dein Geburtstag interessieren?
f) Deine Familie bleibt deine Familie. Ich teile mein Leben mit dir, nicht mit deinen Lieben. Dass ich irgendwann mal irgendwen davon kennenlernen will, ist eher unwahrscheinlich. (Ausnahme: Deine leiblichen oder angenommenen Kinder und deren Kinder). Mit der Frau, mit der ich de jure verheiratet bin, bin ich jetzt seit 31 Jahren zusammen. Ihr leiblicher Vater starb vor ca. fünf Jahren. Bis zu seinem Tod habe ich – wenn es hoch kommt – 30 Minuten Kontakt mit ihm gehabt. Warum, um alles in der Welt, hätte ich den kennenlernen sollen? (Mit ihrer Stiefmutter habe ich es genauso gehalten).
g) Mit deinen Freunden und Bekannten ist es genauso. Es ist gut (für euch), dass ihr einander habt (hoffe ich jedenfalls) – aber mal ganz im Ernst: Warum sollten die mich interessieren? Ich will eine Beziehung mit dir, nicht mit deinem sozialen Umfeld.
h) Mein Leben ist mein Leben, und dein Leben ist dein Leben. Wenn wir beschließen, ein Stück des Weges gemeinsam zu gehen, dann ist das sehr schön. Aber weiterhin ist jeder für sein Leben selbst verantwortlich. Wir werden niemals eins sein, wir werden immer zwei sein.
i) Falls du das noch nicht kannst, dann lerne es rasch: Gefühle und Kunstgefühle zu unterscheiden. Ich kann da ziemlich unduldsam sein: Ungefähr 90% dessen, was mir NTs als „Gefühle“ anbieten, weise ich als Kunstgefühle zurück. Kunstgefühle basieren auf einer Realität, die gar nicht (mehr) da ist. Damit will ich mich in einer Beziehung nicht beschäftigen müssen. Dafür ist mir meine Zeit zu schade.
j) Und was die echten Gefühle anbelangt:
Deine Gefühle sind deine Gefühle, und meine Gefühle sind meine Gefühle. Jeder ist und bleibt für seine Gefühle verantwortlich. Wenn du dich in unserer Beziehung nicht so fühlst, wie du dich fühlen willst, dann finde ich das bedauerlich und nehme das zur Kenntnis. Das ist dann aber (meistens) schon alles von meiner Seite her. Wie du dich fühlst, das ist zuallererst deine Sache, nicht meine. Umgekehrt ist es mit meinen Gefühlen genauso: Also – nochmal, weil das so wichtig ist:
Ich bin für meine Gefühle verantwortlich, und du bist für deine Gefühle verantwortlich.
k) Ich bin berührbar. Es gibt Asperger-Autisten, denen körperliche Berührung gar nicht liegt. Bei mir ist es anders. Fast alles, was ich zu sagen habe, sage ich über den Körper. (Aber ich habe nicht immer was zu sagen).
l) Dein Körper geht nicht in meinen beweglichen Besitz über. Was du mit ihm machst, ist und bleibt deine Sache. Und wenn du Lust auf andere Männer (oder Frauen) hast: Bitte sehr.
m) Du bleibst mit mir zusammen, solange das gut für dich ist, keine Sekunde länger. Du bestimmst, ob du kommst, bleibst oder gehst. Ich halte es da genauso.
n) Dass sich irgendwas an mir ändert – Schweigsamkeit, Direktheit, Kompromisslosigkeit, Abenteuerlust, Hang zur leichten Unordnung, intellektuelle Eitelkeit (oder was auch immer du nutzen willst, um dich über mich aufzuregen) -, ist genauso wahrscheinlich wie die Wiederkehr des Messias. Nimm’s oder lass es bleiben. Alles, worüber du dich bei mir aufregst, ist in dir. (Umgekehrt ist es genauso).
Letzter und vielleicht wichtigster Hinweis:
Wenn du dein Leben mit mir teilen willst (und ich meines mit dir), dann geht die Reise nach innen. Dann wirst du Dinge sehen und erleben, die weit schrecklicher sind als alles, was du dir bis jetzt vorstellen kannst. Und das wird nie zu Ende sein. Dadurch gewinnst du Freiheit, Nähe und Lebendigkeit in einem Maße, die du bislang vermutlich nicht mal ahnen kannst.
Wenn du das nicht willst, dann lässt du es bleiben. Ich zwing‘ dich ja nicht. Aber dann bist du auch nicht in meinem Leben.
In dieser Hinsicht gilt:
Liebe ist, wieder und immer wieder den Mut zu finden, sich seinen schlimmsten Gefühlen und seinen tiefsten Ängsten zu stellen, ihnen zu begegnen, in sie hinein zu gehen und sie liebend, demütig und barmherzig anzunehmen.
All diese Dinge beschreibt Daniela Schreiter natürlich nicht in ihren Comic. Denn sie ist nicht ich, und Ben, den sie interviewt, ist auch nicht ich. Aber wenn ich irgendwo lese, wie andere AS ihre Beziehungen gestalten oder gestalten wollen, dann finde ich mich da meistens gar nicht (oder maximal nur teilweise) wieder. Deshalb habe ich hier mal ein paar Aspekte notiert, die für mich bedeutsam sind.
Aber jetzt ist für den Moment auch Schluss damit. Ich könnte bestimmt noch hunderte Dinge aufführen, die für mich in Beziehungen wichtig sind. Doch als grobe Skizze reicht mir das hier.
In dieser Hinsicht gilt:
Liebe ist, einen Text auch mal beenden zu können.
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