Wenn ich mich mit NTs unterhalte, steigen in mir oft Bilder auf, die mir erklären, wie es in diesen Menschen aussieht. Was da eigentlich vor sich geht, weiß ich nicht. Die Wissenschaft nennt dieses Aufsteigen von Bildern „Synästhesie“. Aber das erklärt auch nichts. Ich weiß, dass ich mich auf die Bilder, die in mir aufsteigen, absolut verlassen kann. Sie haben mich noch nie in die Irre geführt. Aber ganz oft muss ich mir diese Bilder ziemlich lange anschauen, bis ich begreife, was sie bedeuten. Im Extremfall dauert das Monate oder sogar Jahre.
Ich habe andere Menschen kennengelernt, die exakt dieselben Bilder sehen wie ich. In mehreren Versuchsreihen habe ich herausgearbeitet, dass wir auch dann exakt dieselben Bilder sehen, wenn wir hunderte Kilometer voneinander entfernt sind und gerade nicht wissen, womit sich der andere beschäftigt. Das scheint dafür zu sprechen, dass sich die Bilder, die ich sehe, außerhalb von mir befinden und ich zufällig die Gabe habe, auf eine Bilderwelt zuzugreifen, die grundsätzlich auch anderen zugänglich ist. Ich nehm’s so hin. Erklären kann ich das nicht.
Ich bin mir meiner Bilder ganz sicher. Mit anderen Worten: Wenn da ein Bild in mir auftaucht, bin ich ganz sicher, dass dieses Bild etwas bezeichnet, was in der Realität auch so da ist. (Auch, wenn diese Realität im Moment nicht wahrnehmbar ist). Auf der anderen Seite bin ich anfangs oft extrem unsicher, was diese Bilder denn nun tatsächlich bedeuten. Wofür stehen sie? Die Seiten in mir, die keine Sprache haben, verstehen diese Bilder sofort. Aber diese Seiten von mir sind ganz tief in mir. Die agieren nicht nach außen. Oder anders ausgedrückt: Ich weiß fast immer sofort, was die Bilder bedeuten und sagen. Aber ich kann’s weder versprachlichen noch begreifen. Wenn ich als erwachsener Stiller nach außen agiere, dann brauche ich – speziell in Gesprächen – Sprache, um mich verständlich zu machen. Das kann schon mal schwierig werden. Ich erinnere mich da zum Beispiel an ein Telefonseminar, das ich vor vielen, vielen Jahren durchführte, wo ich den Teilnehmern dann sagte:
„Ja, und bei dem Kunden mit der rostbraunen Stimme hätte man sagen können…“
Meine Seminarteilnehmer schauten mich sehr misstrauisch an.
Es gibt viele Wege, an seinem Ruf als Spinner zu arbeiten. Ich beherrsche die meisten von ihnen.
Wenn ich meinen Bildern Sprache gebe, dann ist es, als müsste ich über eine lange, schwankende Hängebrücke laufen, die eine tiefe Kluft überspannt. Auf der einen Seite der Kluft ist die Welt der Bilder. In dieser Bilderwelt fühle ich mich sicher. Hier bin ich zuhause. Aber hier gibt es keine Worte. Kein einziges. Auf der anderen Seite der Kluft ist die Welt der Worte. Hier fühle ich mich ebenfalls zuhause und sehr sicher. Ich bin gut Freund mit den Worten. Aber die Verbindung zwischen diesen beiden Welten – ach du liebe Güte! Das ist oft ein Gang über eine lange, schwankende Hängebrücke. Schwindelerregend.
Und exakt, wenn ich auf dieser Brücke bin, dann schlagen die NTs, mit denen ich im Gespräch bin, zu. Gnadenlos und sicher. Das passiert mir wieder und wieder und immer wieder.
Ich will Beispiele geben:
1
Ein Angestellter, mit dem ich mich seit Jahren gut verstehe, bittet nach einem Seminar um ein Beratungsgespräch. Ich nehme mit Block und Stift vor ihm Platz und lasse ihn erzählen. Er erzählt von Schwierigkeiten, die er zur Zeit mit einer Spitzenführungskraft hat. Er zitiert aus Mails, die hin- und hergegangen sind – zwischen ihm und dieser Spitzenführungskraft, zwischen der Spitzenführungskraft und seinem Chef: Es ist ein ziemliches Durcheinander.
Ich kenne alle Beteiligten seit Jahren. Das macht es mir leichter zu verstehen, worum es geht. Dennoch ist es ein heilloses Durcheinander. Wesentliche Grundgesetze menschlicher Kommunikation waren nicht beachtet worden. Dann steigen Bilder in mir auf und alles wird klar. Aber was bedeuten diese Bilder? Ich mache mich auf den Weg über die Hängebrücke. Zögernd und stockend sage ich dem Angestellten:
„Das Ganze macht nur Sinn, wenn du weltanschaulich gebunden bist. Bist du Teil einer Glaubensgemeinschaft oder einer extremeren Partei?“
„Nein!“ ruft er spontan. „Ich bin nicht weltanschaulich gebunden. Da siehst du mich völlig falsch.“
Wenig später kommt im Gespräch heraus, dass er und seine Frau mit Leib und Seele Anhänger einer fernöstlichen Meditationsform sind und beide sehr viel Zeit damit verbringen und auch Kurse in dieser Kunst geben.
2
Ein Seminarteilnehmer erzählt in der Gruppe aus seinem Leben. Bilder steigen in mir auf. In einer Pause nehme ich ihn auf die Seite:
„Was du erzählt hast, ergibt nur einen Sinn, wenn es da in näherer Vergangenheit einen Mord oder ein ähnlich schweres Kapitalverbrechen in deiner weitläufigeren Familie gegeben hat. Gab’s da sowas?“
„Nein, Stiller! Da siehst du mich völlig falsch. Ich kenne meine ganze Verwandtschaft, und das sind alles ehrbare Kaufleute, die schon seit Generationen in der Gegend wohnen.“
Einen Tag später kommt er dann in einer Pause auf mich zu:
„Stiller, ich habe nachgedacht und gestern Abend noch lange mit meiner Frau telefoniert: Da gab es einen Fall bei einem angeheirateten Onkel …“
3
Ein anderes Beratungsgespräch. Ein junger Mann erzählt mir aus seinem Leben. Meine Bilder verdichten sich.
„Du hast dunkle Flecken auf der Seele“, sage ich ihm.
Er ist etwas irritiert:
„Was für Flecken?“
„Dreieckige …“
Ich lasse mich in meine Bilder versinken und sage erst mal eine Weile nichts.
„Mafia“, sage ich dann.
„Was?!“
„Mafia. Das ergibt nur einen Sinn, wenn du was mit der Mafia zu tun hast oder zu tun hattest.
Ihr wisst schon, wie es weiter geht – natürlich sehe ich das mal wieder alles „völlig falsch“ und wie ich dazu käme und sowieso und überhaupt.
Im nächsten Seminar hat er mir dann erzählt, wie er von einer mafiaartigen Struktur erpresst worden ist und noch erpresst wird …
Nicht immer deuten meine Bilder auf so krasse Wirklichkeiten hin. Es gibt auch andere Fälle. Da war zum Beispiel dieses Paar – sie Deutsche, er Italiener -, das über die Jahre immer wieder in meinen Seminaren auftauchte. Sie waren verliebt, aber sie brachten es zusammen auch auf drei oder vier Scheidungen. Nach drei oder vier Jahren baten sie mich zu einem Beratungsgespräch. Sie überlegten zu heiraten, wollten aber nicht, dass das in die nächste Scheidung mündete. Sie fragten mich, wie ich die Dinge sehen würde. Ich befragte meine Bilder. Da gab es viel zu gucken, und es dauerte, bis ich verstand. Ich schwieg, bis ich verstand. Sie kannten das von mir und übten sich in schweigender Geduld.
„Kann klappen“, fasste ich das dann zusammen.
Diesmal hörte ich kein empörtes
„Da siehst du uns aber völlig falsch!“
Was ich wahrnehme, das nehme ich wahr und nicht etwa unwahr.
P.S.
Und immer wieder kommt es vor, dass ich mich mit einem NT unterhalte, und ich sehe absolut nichts.
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Neo-Silver (Dienstag, 09 Oktober 2018 20:21)
Hallo Stiller,
du schreibst: "Ich habe andere Menschen kennengelernt, die exakt dieselben Bilder sehen wie ich. [...] Das scheint dafür zu sprechen, dass sich die Bilder, die ich sehe, außerhalb von mir befinden und ich zufällig die Gabe habe, auf eine Bilderwelt zuzugreifen, die grundsätzlich auch anderen zugänglich ist."
Sind diese anderen Personen ebenso Autisten oder haben autistische Wesenszüge, welche über das normale Spektrum hinausreichen?
Welche anderen psychologischen Ähnlichkeiten, abseits der Synästhesie, haben diesen Personen zu dir?
Es ist ein faszinierendes Phänomen, welches ich nicht nachvollziehen kann, da ich diese Fähigkeit nicht besitze oder wenn, nur in einem Bereich, welchen ich noch nicht reflektieren konnte und welcher mir somit als "normal" und nicht außergewöhnlich erscheint.
Stiller (Donnerstag, 11 Oktober 2018 04:52)
Hallo Neo-Silver,
du fragst:
"Sind diese anderen Personen ebenso Autisten oder haben autistische Wesenszüge, welche über das normale Spektrum hinausreichen?"
Diese Personen haben "Wesenszüge, welche über das normale Spektrum hinausreichen", aber sie sind nach allem, was ich sehen kann, in keiner Weise autistisch.
Ich habe nur von einer Person genauere Kenntnisse, und die ist der einzige "AS-Versteher" unter den NTs, die ich kenne. Ihr intuitives und unbewusstes Verständnis für das, was AS ausmacht, geht weit über das hinaus, was ich von NTs, die ausgewiesene Experten sind (z.B. Professor Vogeley oder Frau Kaminski) kenne. Bei der Analyse ihrer Sozialumgebung stellten wir fest, dass es da vor AS nur so "wimmelt". Die AS kommen freiwillig (ohne voneinander zu wissen) zu ihr, weil sie sich in ihrer Nähe so wohl fühlen, obwohl sie NT ist.
Du fragst:
"Welche anderen psychologischen Ähnlichkeiten, abseits der Synästhesie, haben diese Personen zu dir?"
Sie sind stark introvertiert und telepathisch begabt. Ansonsten sind wir uns ziemlich unähnlich.
Neo-Silver (Donnerstag, 11 Oktober 2018 11:29)
Ok, da habe ich mehr Ähnlichkeiten erwartet, damit meiner These entsprochen werden kann.
Meine Vermutung, entgegen deiner These der externen Bilderwelt, ist die interne Entstehung dieser Bilderwelt auf exakt gleiche Weise, verursacht durch identische neuronale Strukturen und Verknüpfungen in gewissen Arealen.
Dieser Gedanke ist dir vermutlich ebenso schon gekommen.
Leider wäre die Auswertung für so etwas sehr mühseelig, da zuerst einmal jeder dieser von dir genannten Personen verschiedene bildgebende Verfahren, sowie EEG usw. durchlaufen müsste, um Gemeinsamkeiten, am besten sogar während der aktiven synästhetischen Wahrnehmung, feststellen zu können.
Ich kann mich nicht eines unbehagen erwehren bei der Vorstellung einer externen Bilderwelt. Es will mir nicht logisch erscheinen.
Aber nunja, auch Quantenzustände und das Phänomen der Zeitdilatation sind Konzepte, welche schwer nachzuvollziehen sind, wenn man nicht aus seiner gewohnten gedanklichen Umgebung herausbrechen kann.
Wie stellst du dir diese Bilderwelt vor? Wie würdest du sie erklären?
Könnten es irgendwleche Reize, spezielle Frequenzen von Photonen sein? Haben Menschen mit Synästhesie dann spezielle Rezeptoren, welche andere Menschen nicht besitzen?
Stiller (Samstag, 13 Oktober 2018 21:41)
"Wie stellst du dir diese Bilderwelt vor?"
Diese Frage kann ich nicht sinnvoll interpretieren. Ich stelle mir die Bilderwelt nicht vor, ich sehe sie.
"Wie würdest du sie erklären?"
Gar nicht. Ich habe kein Konzept, mit dem das vernünftig erklärbar wäre.
"Könnten es irgendwleche Reize, spezielle Frequenzen von Photonen sein?"
Unwahrscheinlich. Ich sehe diese Bilder auch in stockdunkler Nacht, in unbeleuchteten Kellern und verlassenen Stollen.
"Haben Menschen mit Synästhesie dann spezielle Rezeptoren, welche andere Menschen nicht besitzen?"
Unwahrscheinlich. Das, was ich sehe, wird oft nicht durch optische Eindrücke ausgelöst, sondern durch Geräusche, Gefühle und Gedanken. So hat zum Beispiel für mich jede Stimme, die ich höre, eine bestimmte Farbe und eine bestimmte Form. Beinahe jede Nahrung, die ich zu mir nehme, löst Bilderfluten aus. Ich nehme an, dass ich Dinge wahrnehme, die jedes kleine Kind wahrnimmt - nur, dass sich üblicherweise diese Wahrnehmung im Laufe des Erwachsenwerdes verliert.
Wenn ich sage, das es Hinweise gibt, dass die Bilder, die ich wahrnehme, objektiv außerhalb von mir befinden, sage ich damit nicht, dass sie als eben diese Bilder außerhalb von mir existieren. Es kann gut sein, dass ich irgendwas total bizarres wahrnehmen kann und mein Gehirn daraus visuelle Eindrücke macht, damit ich diese Wahrnehmungen einordnen kann.
Murmur (Freitag, 02 November 2018 21:11)
Heute durfte ich Forschungsberichte und Skizzen lesen.
Von einem Menschen.
Er schiebt keine Kulissen zwischen sich und andere.
Er sieht die Realität(en).
Er (er)trägt sie.
Trotz Angst.
Er steht aufrecht.
Trotz ALLEM.
Ich kann ihn sehen.
Erst ein einziges Mal bisher begegnete mir einer mit der selben Seelenfarbe.
Auch er ein Autist.
Für mich seid ihr wie Lichter auf einem nächtlichen Meer.
Reale Sterne.
Auf die Erde gefallen.
Oder leuchtende Tiefseefische.
Tief in mir die selbe Realität.
Plötzlich berührt...in der grossen Stille.
Der selbe Kampf mit der Welt...
Der selbe Kampf.
Wozu?
Grosser Gruss, Stiller.