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Das Neurotypische Syndrom 11 – Ein paar Filter zuviel im Kopf

Ich kam von einem dreiwöchigen Urlaub im Hochgebirge zurück. Wochenlang hatte ich beinahe keinen Menschen gesehen. Viele, viele Tage hatte ich mich in Höhen aufgehalten, wo ich alleine mit dem Wind war. Das ist eine von den Sachen, die ich am Hochgebirge so ungemein schätze: Außer mir (meinen Schritt- und meinen Atemgeräuschen) höre ich nur – den Wind.

 

Ich hatte aufgetankt in dieser kargen Landschaft, wo ich überall hingucken konnte, ohne dass es mir in den Augen weh tat, wo es so still und so schlicht war. Ich konnte sein, ich war da, es ging mir gut.

 

Und dann musste ich wieder heim.

 

Nördlich von Füssen hielt ich mit meinem Wagen an einer Autobahnraststätte. Ich musste auf’s Klo. Da ich drei Wochen lang praktisch nie hatte Ohrenstöpsel tragen müssen, vergaß ich diesmal, sie beim Aussteigen aus dem Auto einzusetzen. Sonst mache ich das immer so:

Während des Autofahrens trage ich robuste Ohrenschützer der Marke Moldex. Die sehen aus wie Kopfhörer. Wenn ich mich außerhalb des Autos aufhalte, trage ich irgendwelche In-Ohr-Stöpsel.

Diesmal trug ich eben nichts.

 

Die Toiletten befanden sich im ersten Stock. Und da traf es mich mit voller Wucht:

„Blinded by the light!“ dröhnte es mir aus Lautsprechern entgegen. (Irgendein uralter Hit von Manfred Mannn’s). Dann hörte ich noch ein zackig-synkopisches Gitarrensolo und dann schnarrte die übergeschnappte Stimme irgendeines Radiomoderators los und erzählte irgendwas Belangloses. Das tat sie mit einer Atemtechnik, dass mir buchstäblich die Luft wegblieb. Und dann kam die Werbung. – Die hatten da das Radio laufen. Laut! Ziemlich laut!

 

Und ich stand da, mit meinen unverstöpselten Ohren und hörte mir das an. Es war faszinierend. Und auf einmal begriff ich das völlig Banale:

 

Die NTs wollen das so!

Das, was ich als heimtückischen und ziemlich schmerzenden Angriff erlebe, das, was mich in kürzester Zeit in den Wahnsinn treiben kann, weil es für mich so laut, so widerwärtig und so distanzlos ist, ist das, was die NTs wollen.

Die hören sich das tatsächlich freiwillig an. Die wollen das. Die wollen das so. Die wollen das hören. Die wollen das hören, sonst würde dieser barbarische Krach und dieses unerträgliche Geschwätz ja nicht übers Radio verbreitet und hier über zig Lautsprecher in alle Gegend verplärrt.

Die NTs wollen das so! Auch wenn es kaum zu glauben ist – sie hören sich das freiwillig an!

Aber warum?

 

Dass die NTs dieses Zeug freiwillig einschalten, ist ein Zeichen dafür, dass ihnen was fehlen würde, wenn es nicht da wäre. Und das fand die wissenschaftliche Seite in mir ungemein faszinierend und spannend:

Was geht da vor?

Ich meine – ich kann mir ja auch mit dem Hammer auf den großen Zeh hauen – der Effekt wäre so ziemlich derselbe. Warum tun die NTs das? Wozu brauchen die das?

 

Ich dachte eine Weile darüber nach, und dann hatte ich es:

Der durchschnittliche NT hat augenscheinlich sehr viele Wahrnehmungsfilter im Kopf, die ein normaler Asperger-Autist nicht hat. Für einen durchschnittlichen NT müssen Sinneseindrücke deutlich stärker sein als für einen normalen AS, damit er überhaupt irgendwas spürt.

 

Das ist natürlich tragisch:

Die Fühl- und Wahrnehmungsfähigkeit von Menschen, die vom Neurotypischen Syndrom betroffen sind, scheint deutlich unter der normaler Asperger-Autisten zu liegen. Was für ein tragisches Leben! Der durchschnittliche NT scheint – verglichen mit mir – so ziemlich nichts von seiner Umwelt mitzubekommen, weil er einfach ein paar Filter zuviel im Kopf hat. Er scheint – verglichen mit mir – beinahe nichts zu empfinden, wenn er wahrnimmt. Wie tragisch, wie traurig!

Wie soll man unter solchen Umständen überhaupt ein sinnvolles Leben führen?

 

Einschub

Was heißt in diesem Zusammenhang „sinnvoll“?

Ich habe oft und lange darüber nachgedacht, wann ein Leben sinnvoll ist. Auf diese Frage gibt es eine ganze Menge Antworten, die alle richtig sind. Ein Ansatz nimmt diese Frage beim Wort und antwortet:

Ein Leben ist dann sinnvoll, wenn die Sinne voll sind.

Wenn du den Kopf aber voller Wahrnehmungsfilter hast, die es dir beinahe unmöglich machen, dass deine Sinne voll sind, wenn sie nicht explosionsartigen Reizen ausgesetzt sind – was muss das für ein schales und sinnentleertes Leben sein! Da musst du dich ja dauernd zudröhnen, damit du überhaupt noch irgendwas spürst!

Einschub Ende

 

Die NTs bringen mich mit ihrer Überstrapazierung aller meiner Sinne schier um den Verstand. – Wenn sie da sind, ist es mir (fast) immer viel zu laut, viel zu bunt und zu grell, viel zu riechend, viel zu eng, viel zu unruhig und zappelig. Wenn ich unter NTs bin, erlebe ich das fast immer als einen Multimediaangriff auf alle meine Sinne.

Aber ich möchte auf gar keinen Fall so leben wie sie – so sinnentleert, so schal, so abgestumpft, so unfühlend, mit so vielen Filtern im Kopf.

 

Ich beneide nicht einen einzigen von ihnen.

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